E[rmers]: Große Protestaktion der österreichischen Künstlerschaft gegen den Regierungsentwurf [Schmutz- und Schundgesetz] und gegen ihre Übergehung

E[rmers]: Große Protestaktion der österreichischen Künstlerschaft gegen den Regierungsentwurf [Schmutz- und Schundgesetz] und gegen ihre Übergehung. (1928)

             Schneller als es bei den sehr komplizierten Organisationsverhältnissen der österreichischen Künstlerschaft vermutet werden konnte, haben sich Schriftsteller, Dichter, Musiker, bildende Künstler aufgerafft, um die bedenkliche Aktion, die die Regierung mit dem beabsichtigten Schund- und Schmutzgesetz vom Zaune gebrochen hat, respektive durch die Bundesrätin Berta Pichl auffrischen ließ, in geordnete und mögliche Bahnen zu lenken. Einmütig stellten gestern in einer Delegiertenversammlung der literarischen Sektion des Gesamtverbandes schaffender Künstler Österreichs – der bekanntlich als Zentralorganisation der österreichischen Künstler und Schriftsteller die künftige Künstlerkammer vorzubereiten betraut ist – alle Organisationen fest, daß das seit dem Vorjahre bereits vorhandene Sittlichkeitsmachwerk der Regierung völlig unbrauchbar sei. Von der „Concordia“ bis zur zur Schriftstellergenossenschaft, von der Gesellschaft dramatischer Autoren bis zum Schutzverband deutscher Schriftsteller… alle verurteilten das Kautschukwerk der Regierung, das wahren Schund – ähnlich wie beim deutschen Gesetz – nirgends verhindern kann, dafür aber der Willkür, dem Unverstand des neugeschaffenen Zensors und der politischen Reaktion Tür und Tor öffnet.

             Alle irgendwie repräsentativen Schriftsteller hatten es für notwendig gehalten, persönlich zu erscheinen: Wildgans, Hofmannsthal, Auernheimer, Beer-Hofmann, … Schnitzler, Wassermann, Schönherr, Zweig hatten brieflich ihre Zustimmung zur Protestaktion gegeben. Kein Meinungsunterschied – höchstens in Nuancen – was zu sehen zwischen der Stellungnahme der mehr rechtsgerichteten Verbände (K. H. Strobl) und des Schriftstellerinteressen am radikalsten vertretenden Schutzverbandes (repräsentiert durch Hofmannsthal und Sonka). Als unerträglich wurde es einmütig empfunden, daß im neuen Gesetz durch ernannte Vollstrecker des jeweiligen Regierungswillens – Prüfungsstelle genannt – Richter und Buchhändler, Kunsthändler und Jugendfürsorger, eine neue Zensur eingeführt werde, die die wahre Kunst majorisiert und in Gefahr bringt, ohne der Sittlichkeit zu helfen. Ganz anderes wäre von einem Gesetz zu erwarten, in dem die von den Künstlerorganisationen ernannten Vertreter ausschlaggebende Stimme hätten.

             Die Delegiertenversammlung, die unter dem Vorsitz Hofrat Dr. Ernst Lothars gestern im Künstlerhaus tagte, faßte schließlich die nachstehende Resolution, der sich in den nächsten Tagen die Sektion der Tonkünstler und der bildenden Künstler zweifelsohne anschließen werden, so daß der Regierung nun die einmütige Stellungnahme der österreichischen Künstlerschaft vorliegt, an der sie schlechterdings nicht mehr vorübergehen kann:

Die unterzeichneten Schriftsteller erklären für sich und für die durch sie vertretenen Schriftstellerverbände und Organisationen, daß sie jedem Kampfe gegen die Gefährdung der Jugend durch Schmutz- und Schundschriften ihre Unterstützung zu leihen bereit sind, daß sie aber den vorliegenden Regierungsentwurf für ungeeignet halten, dieses Ziel zu erreichen. Sie verwahren sich insbesonders gegen den § 2 des Entwurfes, der die Entscheidung darüber, was jeweils als Schmutz und Schund anzusehen sei, einer zu dieser Entscheidung durchaus ungeeigneten Prüfungsstelle überläßt, da diese Prüfungsstelle unter fünf Mitgliedern nur einen einzigen Vertreter der Kunst und Literatur aufweist. Das Unerträgliche dieser Bestimmung wird dadurch noch vermehrt, daß auch die Wahl dieses einzigen Sachverständigen nicht den hiezu berufenen Organisationen und Verbänden, sondern dem Gutdünken der Regierung überlassen wird.

[… gez. von 18 Schriftstellern: R. Auernheimer – St. Zweig]

In: Der Tag, 17.4.1928, S. 2.