Max Adler: Neue Menschen. Gedanken über sozialistische Erziehung

Max Adler: Neue Menschen. Gedanken über sozialistische Erziehung (1924)

[…]

             Und nun begreifen wir es und erkennen aus tiefstem Grunde, warum Erziehung und Bildung nicht neutral sein können. Alle Erziehung und Bildung, welcher Art und welchen Inhalts immer sie sein mögen, will jedenfalls für das Leben tüchtig machen, ja dieses vollkommener gestalten. Aber dieses // Leben ist, wie persönlich es auch immer gestaltet und empfunden werden mag, durchaus vergesellschaftetes Leben steht unentrinnbar unter der Gesetzlichkeit desselben. Eine Erziehung, die hier neutral absehen wollte von den in dieser Gesetzlichkeit auftretenden Gegensätzen, um sich an deren Stelle eine „allgemeine Menschheitssphäre“ zu konstruieren, wäre eine Erziehung im luftleeren Raume, d.h. eine Erziehung außerhalb jener Atmosphäre, in der nun einmal ihr Gegenstand, das Leben ihres Zöglings, gegeben ist. Es wäre eine Erziehung, die aus Angst, parteiisch zu sein, gerade dort nicht Partei nehmen würde, wo es sich um ihre eigene Sache handelte, um die Entwicklung der Menschheit. Will sie diesem Zweck wirklich dienen, so kann sie unmöglich die notwendigen Entwicklungsrichtungen, wie sie aus der jedesmaligen gesellschaftlichen Situation hervorgehen, ignorieren. Sie muß der Gegensätzlichkeit sozialer Strebungen, die in ihrem Komplexe die konkrete geschichtliche Entwicklung ausmachen, sehenden Auges gegenübertreten, muß unter ihnen eine Wahl treffen, d.h. sie muß sich auf die eine oder andere Seite stellen, also Partei ergreifen. Denn die schier unausrottbare Vorstellung aller Verfechter einer neutralen Erziehung, daß es genüge, anständige Charaktere erzogen zu haben, welche Partei sie auch immer ergreifen mögen, sollte endlich als das erkannt sein, was sie ist, eine gedankenlose Sentimentalität, die noch dazu durchaus nicht ungefährlich ist. Mit solchem Raisonnement muß man es zulassen, daß zuletzt aus dieser neutralen Erziehung ebenso sehr kosmopolitische Menschheitsschwärmer wie nationalistische Hetzapostel hervorgehen, wenn nur jeder persönlich überzeugt von seiner Anschauung ist, und diese ganze vielgerühmte Neutralität der Erziehung endet in ödestem Relativismus und absoluten Kulturdefaitismus. Und dies ist noch das minder schädliche Resultat: viel //ärger, weil nicht zuletzt den unglaublich tiefen Stand der heutigen politischen Bildung und Moral weiter Kreise der Intelligenz ermöglichend, ist eben jene aus der „Neutralität“ entstandene fast gemeinplätzliche Ansicht, daß man ein „ganz anständiger“ Mensch und trotzdem z.B. Rassenantisemit oder Hakenkreuzler sein kann, wenn es nur „mit Überzeugung“ geschieht, daß man also sich noch immer auf Bildung und Erziehung berufen darf, wenn man „aus Überzeugung“ Juden nicht als Menschen betrachtet oder politische Gegner „erledigt“. Eine sonderbarere Anschauung von „Anständigkeit“ und „Charakterbildung“ dürfte es kaum geben, und sie genügt, um uns zu erkennen lassen, welch ungeheurer moralischer Widersinn sich hinter der „neutralen Erziehung“ verbirgt. Nein – ist einmal die notwendige Klassengegensätzlichkeit des heutigen gesellschaftlichen Lebens erkannt und sind die aus ihr sich ergebenden gesellschaftlichen Strebungen in ihrer Auswirkung auf die Ermöglichung einer Sicherung, ja Vervollkommnung des Lebens für alle erforscht – und beides vermittelt die Sozialwissenschaft, der Marxismus – dann muß jede Erziehung, die über ihr Ziel klar ist, Partei nehmen, und es kann gar nicht zweifelhaft sein, wie sie das tun wird. Ist ihr Ziel Lebensentfaltung und Lebenssteigerung eines jeden, dann muß sie sich in den Zug der Entwicklung des sozialen Lebens überhaupt einfügen, d.h. sie muß deren Partei ergreifen und zur Klassenerziehung der revolutionären Klasse werden, kurz, sie muß heute sozialistische Erziehung werden.[1]

[…]

Neue Menschen! – Das also ist das eigentliche Ziel einer revolutionären Erziehung, einer Erziehung, die jene neue Gesell-//schaft auch in den Seelen der Menschen vorbereitet, die sonst in ihrer Vorbereitung durch den ökonomischen Prozeß bloß eine objektive Möglichkeit bleibt. Es kann in der Welt nicht anders und besser werden, wenn jede neue Generation immer wieder in Gedanken und Empfindungen der vergangenen Geschlechter aufwächst, mögen dies auch ihre vernünftigsten und besten sein, mögen es selbst nicht so sehr ihre Laster als ihre Tugenden sein, die der Jugend übermittelt werden. Denn nirgends gilt das Dichterwort „Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage“ in tieferem Sinne als von einer Erziehung, die inmitten der ungeheuren Umwandlung in den gesellschaftlichen Lebensverhältnissen immer wieder die neuen Inhalte in die unzugänglich gewordenen alten Geistes- und Willensformungen hineinpreßt. Man kann zwar eine Zeit-//lang den jungen Wein in alte Schläuche fassen, aber sind die Schläuche selbst einmal muffig geworden, dann verderben sie nur noch ihren feurigsten Inhalt. Darum haben auch die großen revolutionären Pädagogen seit Rousseau, Kant und Fichte es als den Krebsschaden aller den Menschen fortbildenden Erziehungsarbeit angesehen, daß die Kinder nur immer wieder recht und schlecht gelebt hatten. Besonders eindringlich hat diesen Gedanken Kant in seiner „Pädagogik“ ausgesprochen, wo es heißt: „Ein Prinzip der Erziehungskunst, das besonders solche Männer, die Pläne zur Erziehung machen, vor Augen haben sollten, ist: Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich besseren Zustand des Menschengeschlechtes, das ist der Idee der Menschheit und deren ganzer Bestimmung angemessen erzogen werden. Dieses Prinzip ist von großer Wichtigkeit. Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder nur so, daß sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt, passen. Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger, besserer Zustand hiedurch hervorgebracht würde.

Diese Worte sollten in goldenen Lettern über allen proletarischen Kinderfreundeanstalten stehen. Sie bedeuten den grundsätzlichen Bruch mit der bürgerlichen Erziehung, der es nur darauf ankommt, „daß die Kinder“, wie abermals Kant rügt, „gut in der Welt fortkommen“; sie bedeuten das Ende jener echt bürgerlichen Auffassungm die nach der Anklage Fichtes nur den armseligen Wunsch kennt, mit der Erziehung rasch zu Ende zu kommen, um das Kind recht bald hinter die Maschine zu stellen. Das Ideal der bürgerlichen Erziehung, wie es so oft in offiziellen Kundgebungen sowohl von Staats- wie von Schulmännern verkündet wird, ist, aus den Kindern „nützlcihe Glieder der menschlichen Gesellschaft zu machen“, wobei freilich die eigentliche Meinung ist, nützlich für die Nutznießer dieser Gesellschaft, nützlich, das heißt, tauglich für die Ziele und Zwecke der herrschenden Klasse. Treffend hat bereits Georg Büchner, dieser geniale Jüngling, in dessen Seele schon so viel von proletarischem Empörergeist in ersten Regungen wach wurde, diese heuchlerische Phrase verspottet, indem er seinem nach einem wirklichen Lebensinhalt ringenden jugendlichen Prinzen Leonce auf die Worte: „So wollen wir nützliche Glieder der menschlichen Gesellschaft werden“, sagen läßt: „Lieber möchte ich meine Demission als Mensch geben.“ (Leonce und Lena, I. Akt, 5. Szene)

(Berlin 1924, Auszüge aus Klassenkampf und Erziehung bzw. Sozialismus und Erziehung, S. 42-44 bzw. 66-68)


[1] *(orig. Fußnote in der Publ. 1924): Alle große Pädagogik der Vergangenheit von Plato bis Pestalozzi war stets revolutionär. Sie variiert nur auf verschiedene Weise das Grundthema der Erziehung, das Kant einmal als „Prinzip der Erziehungskunst“ bezeichnet hatte: „Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftigen möglich besseren Zustande des menschlichen Geschlechtes angemessen erzogen werden.“ [Immanuel Kant: Über Pädagogik. Königsberg 1803, S. 17; vgl. dazu die entsprechende Seite in der Erstausgabe gem. DTA: https://www.deutschestextarchiv.de/book/view/kant_paedagogik_1803?p=17; Zugriff 24.10. 2022, PHK] Daher kommt es, daß die Ideen aller der großen Pädägogen auch heute noch modern sind, und dies hat wieder andrerseits den Wahn einer neutralen Erziehung unterstützt, indem doch Kant oder Rousseau oder Pestalozzi sicher keine Sozialisten waren. Allein sie haben, wie überhaupt die großen Denker des Bürgertums in seiner vorrevolutionären Epoche infolge des soziologischen Gesetzes, daß die Ideologie jeder aufsteigenden Klasse universalistisch oder Menschheitsumfang haben muß, in ihrem Denken den späteren Klassenstandpunkt des herrschend gewordenen Bürgertums noch nicht gekannt. […]