, ,

Oskar Maurus Fontana: Programmatisches

Oskar Maurus Fontana: Programmatisches (1918)

            Gedichte? Dichtung? Ja! Gedichte! Dichtung! Diese Hefte Bekenntnis zum Dichter. Und weil, was Dichtung ist, schon ganz fremd ist, ein verlogener Begriff wurde, bei dem sich kein wohlerzogener Mensch etwas denken kann, schütteln alle klugen Leute ihre studierten Köpfe: im Krieg Gedichte?! Aber diese Weitläufigkeit, die von allen Schüsseln gekostet und gegessen hat, ist nicht Maß, ist nicht Ziel. Ihr wurde zur Gewohnheit, Dichtung als Ornament zu sehen, als den Luxus des Geistes. Die Dichtung diente als geschmückter Paravent, hinter dem die Schieber der Zeit sich verbargen und ihre dunklen Ehrengeschäfte besorgten. Und solche, die Dichter genannt wurden und werden, machten willig die „Mauer“ dem Wandschirm. Das war, ist Kultur, ist aber nicht Dichtung. Dichtung ist das Wahrhaftigste der Welt und der Dichter ist der menschlichste Mensch. Sie schleichen sich nicht an die Dinge, sie sind in den Dingen, sie sind hinter den Dingen. Sie sind die wirklich Wirklichen. Jede andere Wirklichkeit wird vor der ihren Staub. In der Flucht der Zeit sind sie die Retter des Ewigen, in dem Gemetzel der Gewalten sind sie die Stimme der Gerechtigkeit. Kein Politiker, kein Feldherr, nicht einmal der Mystiker kommt ihnen gleich. Wo der und der vor der Forderung des Tages erliegt, wo dieser im Erkennen ertrinkt, ist der Dichter Führer zur Seligkeit, ist er der unbedingt Tätige. Ja, indem der Dichter die Landschaft anschaut, wird er schon revolutionär gegen diese Kultur, deren Gefräßigkeit Kriege bracht. Der Dichter ist das Auge, der Mund, der Geist einer Erdteile umspannenden Menschheit. Der Dichter tut, wie das russische Volkslied sagt:

                        Sang so schönen Sang der Greise,
                        So gewalt’ges Lied der Alte,
                        Daß anfing das Meer zu lauschen,
                        Daß die schäum’gen Wogen lauschten
                        Und die tiefen Ströme lauschten
                        Und auch lauschten selbst die Ufer;
                        Sang so schönen Sang der Greise,
                        So gewalt’ges Lied der Alte,
                        Daß die gelben Ufer neigten
                        Sich das eine zu dem anderen.
                        […]

Dieses Tun ist nicht Ornament, ist nicht Luxus, ist tiefste Notwendigkeit. Daß es mißkannt, verworfen, verraten werden konnte, ist kein Beweis gegen die Dichtung, nur einer gegen schwache Dichter und vor allem einer gegen das Sein heutiger Gemeinschaften, weil sich dadurch ihr Parasitäres herausstellt, ihr alles Wirkliche überwuchernde Schmarotzerhaftigkeit.

Gewiß, wir werden nach dem Krieg den Politiker brauchen, aber nicht minder in einer ganz veräußerlichten Zeit den Dichter, dessen Weg von Innen zur ganzen Welt führt.

Wieder das Gefühl für Dichtung, für den Dichter zu wecken, ihre verantwortungsvollste Gewissensnotwendigkeit zu zeigen – das ist Ziel des Flugblattes (mit sehr bescheidenen Mitteln.) Man zweifle die Qualität des Gebotenen an – schön, damit kann man sich auseinandersetzen – aber man sage nicht höhnisch: In dieser Zeit Gedichte?! Oder man sage es, aber bleibe dann hübsch bei seiner eigenen Schäbigkeit und spiele nicht weiter den Freund der Künste.

In: Das Flugblatt, Wien: III/März 1918, S. 11