Alfred Winterstein: Ein Goetheroman [zu A. Trentini](1923)

Alfred Winterstein: Ein Goetheroman [zu A. Trentini](1923)

Der historische Roman weist gegenüber anderen Erzeug­nissen dieser Kunstgattung ganz bestimmte Vor- und Nachteile auf. Seine Helden brauchen nicht erst vom Dichter geschaffen zu werden, sondern leben — häufig als unsere Ideale — bereits in uns. Wer die Erinnerung an diese Gestalten kräftig und mit leidlicher poetischer Fertigkeit zu beschwören weiß, darf unseres Beifalls gewiß sein. Ähnlich geht eine unfehlbare Wirkung, die allerdings nicht rein künstlerischer Art ist, sondern durch die begleitenden Vorstellungen bedingt wird, von Szenen aus dem Theater aus, in denen eine große historische Persönlichkeit auftritt oder mindestens — dies ist bisweilen noch wirksamer — erwartet wird (zum Beispiel Napoleon in Schnitzlers jungem Medardus“). Was in solchen Fällen auch der Künstler uns schuldig bleiben mag, dichten wir, die Leser, hinzu. Je vertrauter uns nun die Persönlich­keit des Helden ist, desto leichter fällt uns diese Ausgabe. Den Vorteilen, die dem Schöpfer eines historischen Romans so von vornherein erwachsen, steht die um so größere Schwierigkeit gegenüber, durch die Fabel, das Gewebe der Handlung an sich den Leser zu fesseln, da diese, soweit sie nicht allzu weit den Rahmen der Biographie verläßt, dem gebildeten Publikum wohlbekannt ist, und zwar in der Regel um so mehr, je näher uns der Held zeitlich steht. Gehört die historische Persönlichkeit gar der jüngeren und jüngsten Geschichte an, so sind der Erfindungsgabe des Autors ziemlich enge Grenzen gesteckt. Der große Künstler allein vermag dann durch die Art seiner Behandlung des Stoffes allen diesen Hemmnissen entgegenzuwirken. Weniger Menschen Leben ist dem gebildeten Deutschen so vertraut, von philologischen Spürnasen auf Grund der hier ergiebiger als sonst fließenden Quellen so genau, so bis in jede kleinste, ja nichtige Einzelheit durchforscht worden wie das Leben Goethes. Wo bleibt da Raum für einen nachschaffenden Dichter, sofern er Anspruch erhebt, mehr als ein Biograph zu sein? So erklärt es sich wohl, daß wir bis vor kurzem, wenn ich recht unterrichtet bin, keinen Goethe-Roman in deutscher Sprache besessen haben. (Des Engländers Lewes „Life of Goethe“ ist wohl eine Art romanhafter Biographie.) Die Lorbeern Walter v. Molos, der mit seinem Schiller-Roman (Hermann Kurz schrieb schon in den vierziger Jahren einen Roman „Schillers Heimatsjahre“) einen großen, in der Zeit begründeten Publikumserfolg er­rang, ließen offenbar einen anderen österreichischen Dichter nicht schlafen: Albert v. Trentini veröffentlicht nun einen „Goethe“, den „Roman von seiner Er­weckung“. Er behandelt nur einen Abschnitt aus dem Leben des Dichters, die Zeit von Juni 1786, als in Goethe den Entschluß, aus Weimar nach Italien zu fliehen, bereits übermächtig wurde, bis zur Rückkehr aus Italien im Juni 1788. In dieser Periode seines Lebens erfolgte nach elf unsterblichen Jahren Goethes Ablösung von Frau v. Stein, seinem stärksten Gefühlserlebnis, seine Wiedergeburt zu sich selbst aus dem fremden Banne, sein Heranreisen zur Klassizität, der Uebergang vom Titanen zum Weisen. Psycho­logisch ließe sich diese Wandlung auch so kennzeichnen, daß Goethe der Fixierung an die ältere Frau, die eine Art Mutterersatz für ihn darstellte („Ach, du warst in abgelebten Zeiten meine Schwester oder meine Frau“), entfloh, um sich durch die Reise nach Italien mit seinem Vater zu identi­fizieren, dessen schönste Erinnerung eine Reise in dieses Land blieb. In das Ich-Jdeal des Künstlers, das Goethe nunmehr ausschließlich Leitstern war und dessen weiteres, mehr sinn­liches als seelisches Verhältnis zu den Frauen (Christiane Vulpius) entscheidend bestimmte, sind also ganz deutlich Züge des Vaters eingegangen.

Diese interessante, wenn man will, typische psychologische Konstellation im Leben Goethes hat nun Trentini zum Vor­würfe seines Romans gewählt und mit dichterischer In­tuition durch die mannigfaltigen Episoden, die sich in Weimar, Karlsbad, Schneeberg, Venedig, Rom, Neapel, Palermo, Girgenti und Taormina abspielen, überall durchblicken lassen. Ich gestehe, daß ich mich nicht ganz leicht in die Lektüre des Buches hineingefunden und geschickt habe. Hegte ich am Anfang ein wenig die Befürchtung, daß ich es mit einem, jener historischen Strickstrumpfromane zu tun hatte, wie sie es zu Zeiten der seligen Luise Mühlbach und des Gregor Samarow das Entzücken des lesenden Publikums bildeten, so überraschte mich im weiteren Fort­gange eine gewisse nervös-unruhige, betont moderne Technik, ein flimmernder Impressionismus, etwas Wirr-Bilderwütiges, das mir zu dem Goethe, wie ich ihn sah und wie er mir aus der „Italienischen Reise“ und den Briefen aus Italien entgegentrat, nicht recht zu stimmen schien. Auch in sprachlicher Beziehung gab es genug Krasses, Triviales, Eigenmächtiges, Parodistisches, das in einem schmerzlich empfundenen Gegensätze zu Goethes klarer Schachmeister­schaft stand. Aber daneben bannten knappe Szenen, Gesichts von wirklichem Atemrhythmus getragene bildkräftige Sätze, wie sie nur einem wirklichen Dichter gelingen, so daß ich das Buch, das ich soeben kopfschüttelnd fortzulegen beschlossen hatte, immer wieder erwärmt und innerlich angerührt fort­ las, bis das heftig hin und her gezogene Gefühl sich zuletzt beruhigte und entschieden sagte: Hier hat einer entschlossen wie Jakob mit dem Engel gerungen, damit ihn sein steiles Werk segne.

Eine Schwierigkeit bestand für Trentini zunächst ein­mal darin, den im Roman durchlaufenen Zeitraum von zwei Jahren mit Geschehnissen, die den Leser interessieren, aus­zufüllen. Was in den Quellen zu Goethes Leben auch nur im Keime oder andeutungsweise vorlag, mußte dichterisch entwickelt und ausgestaltet werden. Diese Aufgabe hat der Dichter mit bewundernswerter Gründlichkeit und Erfindungs­kraft gelöst. Ein Beispiel. So viel ich weiß, hat Goethe die Anregung zu seiner leider nur als Fragment vorhandenen „Nausikaa“-Tragödie nicht aus einem bestimmten Erlebnis in Sizilien geschöpft. Es ist aber immerhin psychologisch möglich Trentini hat nun Goethe-Odysseus in starker Anlehnung an die Nausikaa-Episode in der Odyssee ein Liebesabenteuer mit einem Mädchen aus Girgenti erleben lassen. Die beteiligten Figuren wandeln wirklich vor unserem inneren Auge; es bleibt nur auffallend, daß der Selbstmord der Jungfrau von Goethe gar so bald überwunden wird, was den Zug des kalten Egoismus in seinem Charakter unnötig unterstreicht.

Trentini unterbricht die Darstellung der Szenen, der Außenwelt von Zeit zu Zeit durch die Schilderung von Visionen, die Goethe gehabt haben soll. Diese phantastische Gesichte sind aber zumeist recht unverständlich und ohne zwingende Kraft, ja stellenweise geradezu geschmacklos. Einem mythischen alten Weibe, dem Goethe beim Poseidon-Tempel in Paestum begegnet, werden beispielsweise Aus­drücke in den Mund gelegt wie: „Ich könnte euch Ge­schichten erzählen! Geschichten!“ und „Ausgerechnet!“ Um die handelnden Personen zu charakterisieren und über tote Strecken hinwegzuhelfen, läßt der Autor ferner Goethe und die anderen wahre Wortkaskaden über Kunst, Politik, Urpflanze und ähnliches reden. Bei einem Menschen wie Goethe, dessen Gespräche uns zum Teil überliefert sind, ist es nun nicht zu vermeiden, daß man einen strengeren Maß­stab an die psychologische Wahrscheinlichkeit der erfundenen Gespräche legt als bei einer anderen Persönlichkeit.

Lebendiger als die meisten Bilder von Goethes italienischer Reise, als die Bilder der Landschaft und der Menschen haben aus mich die Szenen gewirkt, deren Schau­platz Weimar ist. Wir glauben in der Tat, Frau v. Stein, Goethe, Karl August, Herder, Knebel und wie die übrigen Gestalten aus dem kleinen höfischen Kreise heißen, vor uns zu erblicken: im Zimmer, im Garten, in den winkeligen Gäßlein oder auf dem Lande draußen um die Residenz. Die „Steinin“, diese unsinnliche, herrschsüchtige, schöngeistige Frau, die Goethe in die Tiefen der Menschlichkeit nie zu folgen und deshalb den währen und ganzen Goethe nie zu erkennen vermochte, scheint mir überhaupt eine der best­gezeichneten Figuren des Romans zu sein. In der Schilderung ihres gequälten, zwischen Ablehnung und Liebe schwankenden Seelenzustandes nach Empfang der Nachricht, daß Goethe aus Italien augekommen, ist sogar etwas, was ergreift, und mit innerer Bewegung folgt man am Schlüsse der Darstellung des endgültigen Bruches zwischen den beiden entfremdeten Menschen. „Eine Liebe halt‘ ich, sie war mir lieber als alles! Aber ich hab‘ sie nicht mehr!— Schweig und ertrag den Verlust.“ Das herzinnige Verhältnis Goethes zu Fritz v. Stein, seinem Schützling, das auch Trentini mit schöner Empfindung behandelt, hat diese Liebe überdauert und rührend erscheint es und bedeutsam, daß nach Jahren die tiefgekränkte Frau erst über Goethes und Christianens kleinen Sohn August, den sie liebgewonnen, wieder den Weg der Freundschaft und der Wertschätzung zu dem ehemals Geliebten findet.

In Trentinis Roman ist noch nichts von jener müden Herbstklarheit zu verspüren, in der zwei alternde Menschen einander artig die Hände reichen: hier atmen glühende Menschen, Klopfen in Ekstasen und Delirien maßlose Herzen. Die Leidenschaft des Buches, die uns über manche Bedenken hinweg mitreißt, scheint mir seinen eigentlichen Wert aus­ zumachen, jene Leidenschaft Trentinis für Goethe, die uns von seiner eigenen Spiegelung immer wieder gebieterisch auf Goethes Lebenswerk zurückweist.

In: Neue Freie Presse, 1.7.1923, S. 23.