E. Guglia: Neue Romane

E. Guglia: Neue Romane (1919)

Thaddäus Rittner kennt man bis jetzt nur als Dramatiker. Er hat zwar einen Band Novellen veröffentlicht, aber das ist schon zwanzig Jahre her und vergessen. Dagegen sind seine Erfolge auf dem Theater, nicht zwar rauschende, aber tiefgehende, in frischer Erinnerung, sie reichen bis in die neueste Zeit. Das wird seinem vor kurzem erschienenen ersten Roman Das Zimmer des Wartens schon eine lebhafte Nachfrage sichern. Und er wird den Freunden seiner Dramen keine Enttäuschung bereiten. Er besitzt dieselben oder doch ähnliche Vorzüge: große Spannungen, starke, grelle Effekte wird man ja nicht erwarten. Aber alle die Feinheiten, die jene auszeichnen, sind da. Das Zimmer des Wartens, in dem wir am Beginn der Geschichte die Kinder mit einem Onkel so wie in E. T. A. Hofmanns Nußknacker und Mausekönig vor der Bescherung am Weihnachtsabend beisammenfinden, ist ein Symbol des Lebens für den Knaben zunächst, der der Held der Geschichte wird – aber darüber hinaus noch für viele, deren Leben sich in einem ewigen Warten verzehrt. Die harmlose Stimmung des Wartens im „Nußknacker“ verfliegt sofort: Onkel Theodor schlägt vor der verschossenen Tür, die ins Zimmer führt, wo der Christbaum angezündet wird, das tragische Motiv des Romans an: „Wie wäre es, wenn ihr sitzen und warten müßtet?“ Den Knaben ergreift ein Vor­gefühl seines Geschickes: er erschrickt tief in sich hinein. Der Dichter zeigt ihn dann aus einigen Stationen seiner Lebenspilgerschaft – es sind zart abgetönte Federzeichnungen mit melancholischen Arabesken. Wir heben drei davon heraus. Der Knabe kommt in eine „Anstalt“, in der wir sofort das Theresianum erkennen, dessen Zögling auch Rittner einmal war. Hier hat also der Roman einen autobiographischen Hintergrund. Wir werden mit dem Leben in einer sogenannten Kamerate bekannt gemacht, mit dem Präfekten, genannt Kamel, der sie beherrscht, mit verschiedenen Zöglingen, von denen fast jeder einen be­zeichnenden Spitznamen trägt: mit dem „Zuckerl“, dem „Hampelmann“, dem „Storch“, dem besten Springer Zilgitz, mit einem ewig büffelnden Ungarn, der in das  Geplauder der Kameraden über das Leben draußen und seine Verheißungen sein monotones Paradigma wirft: Cado, cadere, cecidi, casum, wir wohnen den Vigilien für Kaiser Karl VI. in der Kapelle bei, wo ein schwarzer Vorhang mit weißem Kreuz dem Knaben ein ähnliches Geheimnis zu bergen scheint wie einst die ver­schlossene Tür im Zimmer des Wartens. Wir lernen das Glück der Krankenabteilung kennen, in der man nicht zu lernen braucht und  ganze Tage ruhen und träumen darf. Auch ein Professor der Mathematik, Silius, tritt auf, der stark porträthafte, aber ins Phantastische gesteigerte Züge trägt. Dem fallen Hefte des Knaben in die Hand, in der dieser, ein früh­reifes Dichtertalent, versucht hat, Töne, Ge­rüche, Gedanken zu beschreiben: „Mensch, wach auf!“ sagt Silius zu dem Knaben. »Hörst du nicht den ersten Hahnenschrei? Das Leben be­ginnt. Und ich sage dir aus Erfahrung, sobald das Leben begonnen hat, ist es auch bald zu Ende… Du wirst nie den heutigen Tag loben, denn du bist dazu verdammt, stets den gestrigen wiederzukäuen.“ Dies ist das zweite Leitmotiv für das Leben des Helden, für den Roman. Das erste, das Warten auf etwas, das nie kommt, oder wenn es kommt, dort nicht die Erfüllung bringt, die man daran geknüpft hat, nimmt im Theresianum den breitesten Raum ein: die Zöglinge warten immer auf das Ende der Stunde, das Ende des Tages, das Ende der Woche, dos Ende des Jahres, das Ende der Zeit, die sie in der Anstalt zu verbringen haben. Aber immer ist – wenigstens für den Helden – das Erwartete nur ein vorläufiges, das Anlaß zu neuem Warten gibt. Nach der Matura darf der Glückliche nach Venedig und verbringt dort, zum Ärgernis seiner Ver­wandten, nichtstuend ein ganzes Jahr. Venedig ist übrigens die einzige Station im Leben des Helden, wo nicht bloß gewartet wird, wo er etwas erlebt, sich in ein halbwüchsiges Mädchen verliebt, der er auf Wunsch ihres Vaters, eines Spielwarenfabrikanten, Stunden in Geographie und andern Wissen­schaften gibt. Aber nach Wien zurückgekehrt, öffnet sich ein Zimmer des Wartens nach dem andern. Am längsten sitzt er in dem, das man gemeiniglich mit dem Namen „Amt“ oder „Beruf“ bezeichnet, es ist ein Zimmer gegenüber von einer großen Mauer: wenn die Sonne daraus scheint, ist es, „als wenn ein blutarmes Gesicht zu lächeln versuchte“. Das Kapitel, das von diesem Zimmer erzählt, ist betitelt: „Tausend Jahre Zwangsarbeit“ – so // empfindet es der zuerst noch junge, dann allmählich und doch blitzschnell, wie es der Professor Silius vorausgesagt hat, alternde Mann. Ein Kollege, jener Zilgitz aus dem Theresianum, der der beste Springer war, er­hängt sich, weil er in die Provinz versetzt werden soll, und als der Held vom Begräbnis wieder in sein Bureau kommt, sagt er zur Mauer: „Du bist immerhin besser als der Tod. Vielleicht fliegst du eines Tages wie ein Vor­hang in die Höhe. Und die Freiheit bricht an.“ Ja, der Vorhang fliegt wirklich zuletzt in die Höhe, die Freiheit bricht wirklich an. Aber das ist zugleich die Stunde des Sterbens. Er erlebt sie in demselben Zimmer des Wartens, in dem er als Kind auf die Christbescherung gewartet hat: „Einen Augenblick war es still, dann läutete es aber ganz hell und heiter. Die Tür sprang auf…“

In: Neues Wiener Tagblatt, 9.5.1919, S. 2-3.