Edwin Rollett: Neue Romane (Colerus u.a.)

Edwin Rollett: Neue Romane (Colerus u.a.) (1921)

In Zeiten sozialen Tiefstandes blüht immer die Mystik, wendet sich der Menschengeist von der Gegenwart ab und sucht Zuflucht in Fernen oder phantastischen Ländern und Zeiten. Wohl noch selten hat der Wegzeiger der Literatur so entschieden von der Gegenwart weggewiesen, wie jetzt in der Nachfolge der großen Welterschütterung des Krieges. Der Realismus der Literatur hat Schiffbruch gelitten mit dem Niederbruche der materiellen Blüte. Die Tendenz der Dichtung stiebt von dem wirklichen unerfreulichen Geschehen weg, doch es gelingt nicht immer. Meist kann sich auch der Dichter seiner Erdgebundenheit nicht entziehen und es ergibt sich ein interessantes Wechselspiel von bewußtem Wollen und unvermerktem Haftenbleiben. Hinter der phantastischen Form birgt sich das Nachzittern wohlbekannten Geschehens von gestern oder es lugt aus dem Prunkgewande des Orients das Antlitz eines Gegenwärtigen. Die Auswirkungen großen Erlebens lassen sich auch in der merkwürdigsten Verkleidung nicht wegleugnen.

Egmont Colerus schafft ein Sodom,[1] ein Reich, dem Menschen des 20. Jahrhunderts nicht realer als Shakespeares meerumschlungenes Böhmen, ein Land der Phantasie. Und er belebt diese Stadt mit Menschen,’die die Brunst, die Grausamkeit und den zum Träumen gekehrten Sinn des Orients in sich vereinigen. Wühlende Leidenschaft, brutaler Sinnenrausch und Verbrechen durchwuchern die verglühende Stadt, in deren schwüler Hitze noch einmal alles Leben zu Riesendimensionen auswächst, alle Früchte, alle Blüten, alle Menschenliebe zur sattesten Feistheit aufschwellen, ehe der Schwefelregen sie vernichtet. Namunan, der Übermensch, Marduk, das Raubtier, nacheinander auf einem Königsthron, dessen gigantischer Bau auf einer feilen Priesterkaste ruht und von ihr vernichtet wird. Ein lebender Moloch, dem das Volk opfert. Greuel über Greuel, ein Chaos von Rausch und Taumel. Ihm gegenüber der körperlose Warner Sahadheva, das Symbol eines großen Gewissens und ein Einziger, der von dem Schmutz unberührt, menschlicher Reinheit lebt, um als Einziger dem Schwefelregen zu entrinnen und dereinst wieder in die Welt zu kehren als der Erlöser Buddha.

„Sodom ist nur ein Gleichnis.“ Dieser Satz geht wie ein Leitmotiv durch den Roman. Das Gleichnis einer aus den Fugen geratenen Welt, mag man hinzufügen, in der sich hemmungslos alle Raubtiertriebe entfalten können und die nach dem Schwefelregen einen Erlöser erwartet, der die Brücke vom Alten zum Neuen schlägt.

Schwere Sehnsucht liegt über diesem Werke. Die leuchtenden Farben einer jugendlichen Phantasie dringen aus den Bildern und hemmungslos, jünglinghaft schwillt der Stoff zu immer phantastischerer Menge. Symbol, Gleichnis und oftmals allzu deutliches Philosophieren folgen einander in einer reichen, bibelhaft getragenen Sprache und legen einen eigenartigen, exotischen Reiz um diese Dichtung, deren ungelöstes Gären einem „toten Freund und reinen Menschen“ zu eigen gegeben ist.

Nicht ganz so tief in die Vergangenheit flüchtet der jüngste Roman des Lyrikers Felix Braun: Die Taten des Herakles[2]). Sehr bezeichnend ist aus dem Altertum gerade das Rom des Tiberius und Nero und das gleichzeitige Athen der Epigonenphilosophie zum Schauplätze des Romans gewählt, während gegenständlich dem Urchristentum der Hauptteil des Interesses zugewendet ist. Daß ein Lyriker diesen Roman schrieb, zeigen seine Schwächen und seine Stärken. Starte Effekte und Bewegungen, farbenreiche Bilder sind vermieden. Auch dort, wo sie vielleicht am Platze waren, ist die zarte Aquarelltechnik beibehalten, die ihr Schwergewicht auf die Geistigkeit legt. In der Psychologie ist denn auch eine nicht gewöhnliche Tiefe erreicht. Die Wandlung des jungen Römers, der, dem Herakles geweiht, in stark veräußerlichter griechischer Religiosität seine ersten Jugendjahre lebt, um in einer eindringlichen Schule des Verzichtens und Mißlingens sich zur ethischen Höhe der Entsagung und zum Märtyrertode hinanzuläutern, ist bis in die verstecktesten Winkel ihres Werdens aufgezeigt. Mit liebevollen zarten Händen ist das Material einer Entwicklung zusammengetragen und ineinandergefügt zu einem Bauwerk, dessen wohlabgewogene // Harmonie unbewußt erhebt. Ohne je eine Absicht oder Konstruktion erkennen zu lassen, stellt der Verfasser alle Geschehnisse in dieser etwas schwermütigen Geschichte einer Jugend unter den einen Gedanken, der den Kern des Werkes enthält: „Du mußt deinen Gott in dir bestatten wie einen Samen, daß er aufblühe und Frucht und Schatten gebe.“

Stoffauswahl und Problemstellung dieses Romans sprechen deutlich für einen innigen geistigen Zusammenhang mit den Fragen der Gegenwart und man wird kaum fehlgehen, wenn man das dem Buche vorangesetzte Apostelwort: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?“ als den Klageruf eines Modernen betrachtet, der an dem Zwiespalt von Geist und Materie krankt.

Nicht annähernd so gläubig und Gott ergeben, aber fester geht Josef Gregor in dem kurzen, inhaltsreichen Roman Erben[3]) an das Problem des jüngst Vergangenen heran. An der Küste des Adriatischen Meeres, wo die vielerlei Machtbestrebungen der im alten Österreich vereinten Stämme zusammentrafen, baut er sein Symbol: Der letzte Sprosse der alten Familie der Scaliger wird durch ein eigentümliches Erbe aus einem lässigen Dandyleben herausgerissen und verwandelt. Sein Erbteil ist ein Schrein voll Plänen und ein junges Weib. Mit dieser Erbschaft kommt der Geist seiner Vorfahren über ihn und das „aus sieben Jahrhunderten getürmte Erbe“ der Scaliger gebiert sich. Was die Vergangenheit ersonnen, eine „urbs splendida“, Genua, Florenz und Venedig niederzuschlagen, soll nun durch seine Hand verwirklicht werden. Er wächst zum Übermenschen. Orgien der Arbeit beginnen, und es entsteht das Riesenwerk der Metropolis mit Werfte, Reederei, Hafenanlage und voll der wundersamsten südlichen Pracht. Nur auf die Person des Gründers gestellt, bleibt das Riesenwerk aber dem Volke fremd und findet nur zur Staatsgewalt Verbindung, die eben-

so vereinsamt und fremd auf den Völkern lastet. Als Repräsentanten dieser Macht führt der Autor eine Person ein, die an Klarheit der Problemstellung und scharfer Plastik das Bedeutendste an dem Roman ist. Fürst Ferdinand, sichtlich nach dem Modell des ermordeten österreichischen Thronfolgers geformt, selbst ein Erbe, in dem sich ein Jahrhunderte getürmtes Gut gebären will, eine eiserne Herrschernatur voll eigenwilliger, vergewaltigender Liebe mit der Tragik des Unverstandenen an sich, deren Lanzknechtkraft am Hasse derer zerschellt, die keinen Vätergeist verwalten, sondern nach eigenem mündigen Leben schreien. In parallelem Ablauf zu dieser Fürstentragödie vollzieht sich das Schicksal des großen Schiffsherrn, der auch keine Kompromisse kennt und sogar dem Volke selbst das Erbe seiner überkommenen Machtbestrebungen aufzwingen will. Hohn, Erpressung und die unlautersten Kampfesmittel sind die Antwort, sind sein Fall. Ein Chaos der wildesten Leidenschaft und widerstrebendsten Wünsche verschlingt die Erben – alle. Ein

großer Untergang, ein Schwefelregen Sodoms, ist das Ende, nach dessen vernichtender Gewalt als letztes Wort wieder nur eines übrig bleibt: „Lasset uns beten, da der Letzte gestorben ist, daß dir Ersten wiederkämen.“

In einer am Expressionismus vielfach geschulten Form sind in diesem Roman die Ideen in reiner Form gegeneinandergestellt, und durch ein starkes Herausarbeiten alles Intellektuellen stellenweise sehr starke Wirkungen erreicht. Das Problem der großen Umwälzung ist klar und rückhaltlos ergriffen und geformt.

Was dem einen ein Kreuzweg ist, kann dem anderen zum, nachdenklichen Spaziergang werden. Auch das letzte nachgelassene Werk Thaddäus Rittners [4]) beschäftigt sich mit dem Problem der sozialen Umgestaltung. Aber während Gregor die  frühere Ordnung der Dinge zu erfassen strebt, rückt Rittner in seiner ironischen Jules Verneiade Die Geister in der Stadt der unmittelbarsten Gegenwart an den Leib und führt sie liebenswürdig ad absurdum: „Die Zeit des Schaukelns ist vorbei.“ „Geld und Muskeln waren oben.“„Man wußte wohl, daß es sogenannte Intellektuelle gab. Doch beunruhigte das keinen Menschen; denn nach § 327 des Staatsgrundgesetzes sind mittellose Subjekte mit schwerem Kerker zu bestrafen.“ In diese erbauliche Stadt zaubert nun der junge Zyprian ein Theater – kein Kino, kein Varieté – ein Schauspielhaus, und noch dazu eines, in dem richtige Geister alle Theater-  und Dichterträume, seiner Kindheit ver- // wirklichen und durch die Ungewohntheit bald zur ersten Sensation machen. Er, von den Geistern reichlich mit Millionen versorgt, wird ein angesehener, umworbener Herr, der Bräutigam der Bürgermeisterstochter, und die Kunst gewinnt Kredit, so viel, daß ihn auch die Katastrophe des Geisterhauses nicht erschüttern kann; denn „wahrscheinlich hatten die Herren die Rentabilität solcher Unternehmungen eingesehen“. Siehe da, die sogenannten Intellektuellen gewinnen die Oberhand, wiegen sich im Bewußtsein unerschütterlicher Sicherheit, „bis eines schönen Tages im Mai…“ Damit  schließt das Büchlein. Das Rad der Zeit rollt weiter. Es hieße den schnurrigen Stil des Romans verkennen, wollte man von „über dem Leben stehen“, „Weltweisheit“ oder ähnlichem sprechen. Viel eher ist vom Geiste Wilhelm Busch etwas darin zu finden. Und das Übersinnliche, seit jeher Rittners Eigenheit, verwächst mit dem Humor zu einem niedlichen Mummenschanz, zu einer Marionettenbühne, auf der die Menschlein Theater, nichts als  Theater spielen.

Die entscheidende Bedeutung, die der Schaubühne in diesem öffentlichen Leben zugedacht ist, paßt auch ganz in den Ton leichter Satire hinein. Anders als lächelnd kann man doch  kaum an die Menschen heran, denen Kulissenluft und Garderobenzauber das Alpha und Omega des Lebens sind. Gewiß haftet jedem Theater ein romantischer Hauch an, sind  Konflikte und Abenteuer in dieser Sphäre häufiger; aber wenn Kory Towska in ihrem Prinzen von Hysterien[5]), den Schatten Josef Kainz‘ beschwört und ihm, als eine Art Gottmenschen, noch nach seinem Tode magische Kräfte zuschreibt, so ist das etwas anderes, als wenn Gregor das Problem eines Fürsten gestaltet. Ihm handelt es sich um menschliches, ihr um theatralisches Geschehen. Dabei steht die Verfasserin auch keineswegs über ihrem Stoffe, sondern sehr leidenschaftlich mitten darin, kämpft pro und kontra und verschont nicht rechts noch links. Ob die Personen nun ihre wirklichen oder erfundene Namen tragen, jeder nur einigermaßen Kundige weiß doch, woher die Elemente stammen. Das aber sollte nicht sein. Gewiß kann kein Schriftsteller ohne Modelle schaffen; aber das Rohmaterial des Lebens zu stilisieren und zu einem Kunstwert zu formen, ist eigentlich die Arbeit des Schriftstellers.

[…]

In: Wiener Zeitung, 23.10.1921, S. 3-5.


[1] [Originalfußnote] Verlag von Ed. Strache in Wien.

[2][Originalfußnote] Rikola-Verlag in Wien.

[3] [OFN] Verlag von Ed. Strache in Wien.

[4] Rikola-Verlag, Wien

[5] [OFN] Wien, Donau-Verlag.