Paul Zifferer: Der Untertan

Paul Zifferer: Der Untertan (1919)

Wer einmal später in die furchtbare Zerrissen Zeit wird Einblick gewinnen wollen an der Deutschland nach seinem verhängnisvollen Niederbruche im Weltkriege litt, kann nichts Besseres tun, als die Darstellungen der beiden Brüder Thomas und Heinrich Mann miteinander zu vergleichen, denen so hoher Rang unter den deutschen Erzählern zukommt und die von verschiedener Seite her das Schreckliche, dessen Zeugen sie waren, jeder in seiner Art zu erklären und künstlerisch zu fassen suchen. Die Betrachtungen eines Unpolitischen von Thomas Mann sind vor kurzem an dieser Stelle besprochen worden. Von Nietzsche und Wagner schreiben sie sich her, doch von der Leidensspur des Weltkrieges sind sie gezeichnet. Thomas Mann selbst nennt sie die Darstellung eines innerpersönlichen Zwiespalts und Widerspruchs: „daß sie es sind, das macht dies Buch, welches kein Buch und kein Kunstwerk ist, beinahe zu etwas anderem: beinahe zu einer Dichtung.“ Das Wesentliche an dem Werke Heinrich Manns aber — merkwürdigerweise des älteren unter den beiden Brüdern — scheint gerade, daß es keine Dichtung ist, trotzdem es sich in Romanform kleidet, sondern eine wilde, zornige Anklage, die mit allem Hergebrachten und Vergangenen auf das gründlich bricht und mit dem eigenen früheren Wirken nichts mehr zu schaffen haben will. Zwecklose Kunst, freies Spiel des Einfalls und der Gestaltung sind ihm etwas Verhaßtes; nicht mehr Flaubert, sondern Emile Zola steht ihm zuhöchst. Wehmütiges Entsagen liegt dem Autor fern, sein ganzes Buch ist ein einziges leidenschaftliches J’accuse.

Der Untertan – schon der Titel scheint als Schimpfwort aufzufassen, das dem traurigen Helden der Erzählung mit auf den Weg gegeben wird – der „Untertan“ also ist der junge Diederich Heßling, Sohn eines kleinen Papierfabrikanten in dem preußischen Städtchen Netzig, der selbst einmal Büttenschöpfer gewesen ist, zur Zeit, da jeder Bogen noch mit der Hand geformt werden mußte, und der dazwischen alle Kriege mitgemacht hat, bis er nach dein letzten — 1870— als jeder Geld fand, eine Papiermaschine kaufen konnte. Er persönlich zählt die Bogen nach. Die von den Lumpen abgetrennten Knöpfe dürfen ihm nicht entgehen; der kleine Diederich läßt sich von den Arbeiterinnen solche Knöpfe zustecken, damit er sie nicht angibt, wenn sie selbst einige mitnehmen. Der Vater, Ehrenfestigkeit und Pflicht auf dem verwitterten Unteroffiziersgesicht, führt methodisch den Stock. Die Mutter nährt den Sohn mit Märchen; er achtet die verträumte und geduckte Frau nicht. Ihre Ähnlichkeit mit ihm selbst scheint es dem Knaben zu verbieten. In der Schule bleibt Diederich den scharfen Lehrern ergeben und willfährig, den gutmütigen spielt er kleine, schwer nachweisbare Streiche, deren er sich nicht rühmt. Mit viel größerer Genugtuung spricht er von einer Verheerung in den Zeugnissen, vor einem riesigen Strafgericht. Denn Diederich ist so beschaffen, daß die Zugehörigkeit zu einem unpersönlichen Ganzen, zu diesem unerbittlichen Organismus, der das Gymnasium ist, ihn beglückt, — wie später die bloße Zugehörigkeit zum Staate ihn beglücken wird — daß die Macht, die uralte Macht, an der er selbst, wenn auch nur leidend, teilhat, sein Stolz ist. Am Geburtstag des Ordinarius bekränzt man Katheder und Tafel. Diederich umwindet sogar den Rohrstock.

Es ist wichtig, den jungen Diederich Heßlich so in seiner Kindheit schon zu beobachten. Denn hier sind alle Elemente seines Wesens, die sich später verwischen und hinter Masken verbergen, klar und heftig bloßgelegt. Wir erkennen voll den Haß, mit dem hier der Dichter seinen Helden ins Leben hinausstößt. Flaubert, dem vormals Heinrich Mann tiefste, künstlerische Ehrfurcht bezeigte, stellt es als oberstes Gebot aus, der Dichter müsse alle seine Geschöpfe mit der gleichen Liebe umfassen, die Guten wie die Bösen, er müsse in allen Erscheinungen gleichmäßig wohnen, im grausamen Wüten eines Cäsaren, wie in der aufflackernden Empörung der Massen, im wilden Branden des Meeres wie im Duft einer Blume und im leisem säuselnden Atmen des Windes. Heinrich Mann aber nimmt von Anbeginn sichtbar Partei gegen seinen Helden. Er ist ihm in der Seele zuwider, er verachtet ihn, wie der alte Heßling einen Sohn verachtet und er spart auch im künstlerischen Sinne nicht mit Stockstreichen.  Man kann sich in der Tat nicht leicht ein erbärmlicheres Geschöpf vorstellen als diesen Diederich Heßling: wie er als Student in Berlin sich einer Burschenschaft verschreibt, um sich Abend für Abend zu betrinken, wie er ein junges Mädchen, das ihn liebt, verführt und dem Vater dann von oben herab die Tür weist, wie er dabei von einem häßlichen und gemeinen Strebertum erfüllt ist, sich voll innerlicher Angst zu ungefährlichen Mensuren stellt, aber schon beim Einjährigenjahr drückt, und wie er am Ende doch böse und widerwillig seine Prüfungen besteht, weil diese nun einmal von der unsichtbaren „Macht“, die er scheu verehrt, als Hindernisse auf seinen Weg gestreut sind, wie die Prügel des Vaters.

Dann aber tritt in sein Leben die große entscheidende Begebenheit, die ihn um und um wandelt und zur Höhe führt: Diederich Heßling sieht zum erstenmal den Kaiser. Mitten in Demonstrationszügen erregter Massen ereignet sich dies. Unter den Linden vereinigen sich die Haufen finsterer Menschen, rinnen, so oft sie getrennt werden, wieder zusammen, erreichen das Schloß, weichen zurück und erreichen es wieder, stumm und unaufhaltsam, gleich übergetretenem Wasser. Da auf einmal bemerkt Diederich, wie sich der Knäuel, in den er selbst eingekeilt ist, allmählich auflöst und nach einer bestimmten Richtung fortgerissen wird: ,,Dunkles Geschiebe ohne Form, planlos, grenzenlos, und hell darüber ein junger Herr im Helm, der Kaiser… Nichts hatte sich geändert, als daß er da war – und schon marschierten sie, als gehe es auf das Tempelhofer Feld.“  „Hurra!“ schreit Diederich, denn alle schreien es, und inmitten eines mächtigen Stoßes von Menschen, der schreit, gelangt er jäh bis unter  das Brandenburger Tor. Zwei Schritte vor ihm reitet der Kaiser hindurch. Diederich kann ihm ins Gesicht sehen, in den steinernen Ernst und das Blicken seiner Augen; aber ihm verschwimmt alles, ein Rausch erfaßt ihn, läßt ihn den Hut hoch über allen Köpfen schwenken.  Auf dem Pferd dort unter dem Tore der siegreichen Einmärsche und mit Zügen, steinern und blitzend, ritt die Macht! Die Macht, die über uns hingeht und deren Hufe wir küssen, gegen die wir nichts vermögen, weil wir sie alle lieben, die wir im Blute haben, weil wir die Unterwerfung darin haben.

Die Absicht des Autors ist unverkennbar. Er will zeigen, wie die Gestalt des Kaisers auf armselige Tröpfe gleich diesem jungen Diederich Heßling wirkte und – der Autor läßt es durchscheinen – wirken mußte. Er führt den „gebornen Untertan“, den geduckten, zur Unterwerfung wie um Unterwerfen gleichbereiten Menschen, mit der höchsten Spitze der Macht zusammen, die ihn magisch anzieht, mit der Erscheinung des jungen Kaisers, die ihn berauscht und niederwirft in einem – und dies buchstäblich: er stolpert nämlich in eine Pfütze. Seit diesem Augenblick spiegelt sich der Untertan nur noch im Bilde der höchsten Macht, die seinen Sinn ausschließlich erfüllt und sich so auch wieder in ihm spiegelt. Der junge Doktor Heßling kehrt nach Netzig zurück, wo sein Vater indessen gestorben ist, und fühlt sich verpflichtet, in seinem ererbten  Reiche, nämlich der kleinen Papiermühle, gleich ein straffes Regiment einzuführen; er entläßt den verdienten Geschäftsleiter, den alten Sötbier, genau so wie der Kaiser den eisernen Kanzler entlassen hat, er bürstet seinen Schnurbart in die Höhe, versucht es, seine Augen blitzen zu lassen, und hält Ansprachen, wie die folgende: „Jetzt habe ich das Steuer selbst in die Hand genommen. Mein Kurs ist der richtige, ich führe euch herrlichen Tagen entgegen. Diejenigen, welche mir dabei behilflich sein wollen, sind mir von Herzen willkommen; diejenigen jedoch, welche sich mir bei dieser Arbeit entgegenstellen, zerschmettere ich.“

Der Feind aber, den es zu zerschmettern gilt, ist der alte Herr Buck, die einzige sympathische Persönlichkeit des ganzen Romans wie der keinen Stadt Netzig. Diederich ist in dem Dunstkreis scheuer Verehrung aufgewachsen die alle ringsum für den hochverdienten Mann empfanden. Der alte Herr Buck trug keinen steifen Kragen wie die anderen, sondern eine weißseidene Halsbinde und darüber einen großen weißen Knebelbart. Wie langsam und majestätisch er seinen oben goldenen Stock aufs Pflaster setzte! Und er hatte einen Zylinder auf, und unter seinem Überzieher sahen häufig Frackschöße hervor, mitten am Tage! Denn er ging in Versammlungen, er bekümmerte sich um die ganze Stadt. Von der Badeanstalt, vom Gefängnis von allem, was öffentlich war, dachte Diederich: „Das gehört dem Herrn Buck.“ Er mußte ungeheuer reich und mächtig sein. Alle, auch der Vater Diederichs, entblößten vor ihm lange den Kopf. Die Stufen vor dem Hause des alten Herrn Buck waren abgewetzt von den von den Füßen der ganzen Stadt und von den Vorgängern dieser Füße: Das war ein Mann, hieß es, einer von denen, die das deutsche Volk hochhalten sollte. Der alte Buck war schon achtundvierzig dabei gewesen, er war sogar um Tode verurteilt worden. „Ja, daß wir hier als freie Männer sitzen können,“ sagen die Bürger von Netzig „das verdanken wir solchen Leuten wie dem alten Buck.“

Diese Achtung, die dem freisinnigen Manne von der Dankbarkeit einer ganzen Stadt gezollt wird, ist dem jungen //Heßling ebenso zuwider wie die eigene geduckte Verehrung, die noch heimlich in seiner Erinnerung sitzt, und die eigene Dankbarkeit, die er dem alten Herrn Buck schuldet. Denn dieser nimmt sich seiner in der hilfreichsten Weise an, leistet mit seinem alten, gütigen Lächeln die Dienste, die von ihm auf allerlei Umwegen gefordert werden, und es gilt darum, menschlichen wie bürgerlichen Verrat, wenn Diederich seinen Wohltäter wie den Wohltäter der Stadt zu besiegen und zu „zerschmettern“ beschließt. Unbeirrt geht aber der junge Heßling ans Werk; er, der sich vom Militärdienst heimlich gedrückt hat, gründet nun Kriegervereine, beruft Versammlungen ein, in denen er gegen den Freisinn wettert. Um seiner Rede Glanz u verleihen, improvisiert er Kaiserworte, die erstaunlich echt klingen, ja für echt gehalten werden, auch den Weg nach Berlin finden und kein Dementi erfahren. Mit wilden Ellenbogenstößen schafft er sich Raum, repräsentiert, schreitet einher, drückt auf die Kleinen, verhält sich mit den Großen, weiß um sich den Schein zu verbreiten, als führe von ihm, dem Untertan, wirklich ein geheimes, unsichtbares Band zu den höchsten Gewalten, zu denen er ehrfürchtig emporblickt und wird – zum eigenen, entsetzten Erstaunen – vom Schicksal selbst unterstützt, das den gütigen alten Herrn Buck mit den schändlichsten Tücken verfolgt, bis er zur Seite geschoben, in die Ecke gedrückt ist, um dem Aufstieg des jungen Heßling Raum zu geben. Von der Enthüllung eines Siegesdenkmals weg, die ihm selbst zur Feier ward, betritt Heßling das Sterbezimmer des alten Herrn. „Respekt vor einem tapferen Feind, wenn er das Feld der Ehre deckt. Gott hat gerichtet.“ … das ungefähr sind seine verlogenen Gedanken. „Diederich machte sich noch strammer, wölbte die schwarzweißrote Schärpe, steckte  die Orden vor, und für alle Fälle blitzte er. Der Alte ließ. auf einmal den Kopf fallen, tief vornüber fiel er, ganz wie gebrochen. Die Seinen schrien auf: „Er hat etwas gesehen! Er hat den Teufel gesehen!“

Dies also ist der Roman vom Untertanen, den uns Heinrich Mann als den Erzfeind des Menschentums vorstellt, // als das Böse schlechthin in der Welt. Dem Buch ist eine Notiz vorausgeschickt, die besagt, das Werk sei noch vor dem Kriege, nämlich Anfang Juli 1914, abgeschlossen worden. Es fällt uns aber schwer, dies so wörtlich zu nehmen. In der Idee mag das Buch schon zu jener Zeit vollendet gewesen sein; die Ausführung aber zeigt eine solche Leidenschaft, einen so heftig geballten Grimm, daß der Krieg als treibende Kraft unbedingt Voraussetzung scheint. Dies aber ist der stärkste Einwand, der sich dem Leser aufdrängt: vor dem Kriege wäre der Roman in dieser Schärfe nicht möglich gewesen, während des Krieges hätte er eben wegen seiner Schärfe nicht erscheinen können, und jetzt kommt er eigentlich schon zu spät. Was gestern noch als eine kühne, unerhört verwegene Tat erschienen wäre, nimmt sich heute wie ein mit elementarer Wucht unternommener Stoß in die Luft aus. Kaiser Wilhelm hat abgedankt und die Ereignisse sind blitzschnell vorgestürmt. Die Aktualität, von der das Buch Heinrich Manns seine beste Kraft herholte, kehrt sich nun gegen das Werk, zeichnet allzufrühe Runzeln in seine Züge. Gewiß hat sich der Autor Höheres vorgesetzt! Er wollte den verhängnisvollen Einfluß zeigen, den die Figur des Kaisers mit ihren stets klirrenden, dem Theatralischen zugeneigten Gesten auf eine ganze Zeit übte; — wie sie insbesondere auf Leute vom Schlage dieses Diederich Heßling wirkte, die als „Untertanen“ zur Welt kamen und ihr äußeres Gehaben ganz nach dem Ebenbilde des höchsten klirrenden Gipfels der Macht einrichteten. Für solch umfassendes Zeitgemälde aber sind die Gestalten, die Heinrich Mann an uns vorüberführt, allzu verzerrt; die Wut führt ihm den Griffel, sie zeichnet nicht, sondern karikiert.

Rings um diesen Doktor Heßling wird eine ganze Welt von Niedertracht lebendig: Staatsanwälte, die das Recht beugen, um ihren Vorteil zu wahren, verbuhlte Priester, Bürgermädchen, die sich wie Dirnen gebärden, hohe Verwalter der Ordnung, die sich zu geheimen Raubzügen verbinden und nichts anderes im Sinn führen, als ihren Profit. Auch vor dem Hause des verehrungswürdigen Herrn Buck macht diese Flut von Schlechtigkeit nicht Halt. Sein Sohn ist ein Lump, seine Tochter reist mit ihrem Freunde nach Italien, während ihr Gatte – wenn auch nur durch die Umtriebe Heßlings – ins Gefängnis wandert. Welch ein trauriges Familienleben! Und selbst die sozialdemokratische Partei, die als Rächerin all dieses Furchtbaren im Hintergrunde der Erzählung sichtbar wird, mag wohl mit dem Repräsentanten, den ihr Heinrich Mann in seinem Buche auswählt, nichts zu schaffen haben. Dieser Werkmeister Napoleon Fischer wird uns keineswegs als ein aufrechter und rechtschaffener Mann geschildert. Pfiffigkeit und Tücke bringen ihn zur Macht; er kämpft nicht gegen Heßling sondern er paktiert mit ihm. Er ist sein Werkzeug und sein Helfer. Der Teufel wird durch Beelzebub ausgetrieben. Man gewinnt den Eindruck, daß hier dem Autor nirgends die gerade Linie gelingen will. Alles steht schief, die Hä user wanken, eine Welt ist zum Zusammenbruche reif. Nicht die kleine Stadt Netzig wird gemalt – denn in ihr kann so viel Bosheit nicht Raum finden und wäre sie der verworfenste Flecken der Erde – sondern ein düsteres Inferno, in künstlerischer Leidenschaft erschaut, aber doch nur eben Vision oder bessert noch Angsttraum.

Die Tragödie des wilhelminischen Deutschland, die Heinrich Mann schreiben wollte, ist er uns am Ende doch schuldig geblieben. Was er schuf, ist ein Satyrspiel voller Bitterkeit Die Tragödie selbst entschleiert sich einem erst, wenn man dem verneinenden Werke Heinrich Manns das wehmütig bejahende seines Bruders Thomas gegenüberstellt. Die Durchdringung beider erst gäbe das große, befreiende Kunstwerk, das wir erwarten. Aber vielleicht ist dazu all das schreckliche Geschehen, aus dem es aufsteigen soll, noch zu nahe. Die Dichter selbst sind noch Partei, klagen an und hassen, wo es doch ihre Sache wäre, sich über die Zeit zu erheben und endlich – endlich zur Liebe heimzufinden.

In: Neue Freie Presse, 19.3.1919, S. 1-3.