Hermann Menkes: Das junge Geschlecht.
Hermann Menkes: Das junge Geschlecht (1918)
Die Aktivisten
Die Bezeichnung wird einem Mißverständnis begegnen. Der AktivismusBewegung im Umfeld des literarischen Expressionismus, die auf eine Aktivierung bzw. Involvierung der Geistigen in die Po... bedeutet nicht eine Organisation zu irgendeiner manuellen Tat, sondern die Auferstehung des Geistes, eine Revolte lahmgelegter Menschheitsgedanken. Das ist das Schlagwort des Geschlechts von 1914, der Zwanzigjährigen, denen der Krieg zum ersten und schmerzlichsten Erlebnis wurde. Das wieder erwachte Menschheitsgewissen will sich durch diese jungen Leute aussprechen, ein allumfassendes Gefühl mitten in einemCancan der Leidenschaften und der materiellen Begierden.
Aktivismus heißt das Leben mit dem Geist wieder verbinden, Politik mit der Kunst, eine weitausschauende Besonnenheit. Sie stehen in einem Kontrast zur Generation, die ihr voranging, und sie sind entschlossen, sie zu bekämpfen. Mehr als ein Jahrzehnt war das Geistige nur das Spiel, das alle Zusammenhänge mit dem Leben verlor, die Kunst das Geschäft von ichsüchtigen Individualisten. Geist und Leben waren gesonderte Gebiete, Kunst eine Zufluchtsstätte für Lebensentfremdung. Man schuf Schönheitsvasen in einer Umgebung von Barbarei und erschöpfte sich in einem unfruchtbaren Artistentum. Formen wurden geschliffen ohne Inhalt. Das waren die Sünden gegen den heiligen Geist, der zu einem okkulten Dienst mißbraucht wurde. Man war indifferent oder verbrüderte sich mit einer Gesellschaft träger Herzen, die jede Verkommenheit und Verelendung ermöglichte. So geht gegen die Vorangegangenen die bittere Anklage, die Rechenschaft verlangt für das, was ohne Abwehr geschehen konnte und nicht mehr möglich sein soll.
Dr. Kurt Hiller hat zuerst die Ausrufe zum tätigen Geist erlassen. Das Ziel betitelte sich sein Manifest. Dr. Franz Pfemfert gab diesem Geist ein Organ in seiner Zeitschrift Die Aktion und in seinen Flugblättern Der rote Hahn. Diese Schriften sind schon jetzt von hoher kulturgeschichtlicher Bedeutung. Am eindruckvollsten sind die Mahnworte Heinrich Manns, in dessen Schaffen und Denken sich ein inhaltsschwerer Umschwung vollzogen hat. Mann ist der Fürsprecher des jungen Geschlechts, dem er seine eigene Generation preisgibt: „Von Jahr zu Jahr vollständiger bis zum Krieg erschöpfte sich die literarische Denkarbeit Deutschlands im Rechtfertigen des Falschen und im Auftrumpfen mit Paradoxen. Persönlichkeit und Auszeichnung statt des überall sich vollziehenden Ausgleichs. Der Staat und seine Größe statt des Menschen und seines Glücks. Die Verachtung der Vernunft — und damit die Verachtung des Menschen statt des europäischen Glaubens an seine höhere Bestimmung.“ (Einleitung zum Almanach Die neue Dichtung.) Man nennt eine derartige Haltung Selbstaufgabe und Bankerott. Er sieht in der deutschen Öffentlichkeit das Erscheinen einer neuen Partei des Geistes, eine Auflehnung gegen den in „Riesenverbänden organisierten Widergeist, unter dessen Schreckensherrschaft wir gelebt haben. Es geht jetzt um keine anderen Begriffe als um die vom Glück und Dasein des Menschen. Der Staat soll zu einer Heimat der Seele werden. Ihn zu verwirklichen, soll zur Sorge des jungen Geschlechts werden. Eure Pflicht, Zwanzigjährige, wird das Glück sein“.
Das mag als Ideologie bezeichnet werden, aber hinter dieser steht die Entschlossenheit zum Wirken. Die jungen Leute wollen keine Ästheten mehr sein, keine Erzeuger von Kostbarkeiten. Sie versuchen dies auch künstlerisch auszudrücken, in Dramen, Erzählungen und Gedichten. Wir vernehmen die Stimmen von tief Erschütterten. Stimmen, unrein im Klang noch, ringend um neuen Ausdruck. Wir sehen Irrtümer der Form, Verwirrung im Gefühl, viel Chaos. Der Ästhetiker hat hier ein Recht zu Tadel und Ablehnung. aber wenn noch nicht das Werk, so ist es der neue Geist, der unsere Aufmerksamkeit erzwingt. Charakteristisch dafür ist wie diese Jüngsten Stellung zum Krieg nahmen. Sie kennen keine Apotheosen des Siegers, sondern nur die tiefen Leiden innerhalb dieser Menschheitskatastrophe. Im. Innersten ganz erschüttert, stehen sie da. Sie erheben Proteste, erlassen, Ermahnungen, schildern mit stärksten Worten die Tragödien des Einzelnen. Sie sind Skeptiker und pflanzen doch einen neuen Glauben an die Zukunft auf. Eine blutige Gloriole ist um die Märtyrer ausgebreitet. Die ganze Menschheit wird zu einer neuen Brüderschaft angerufen. Der Mensch schreit, Der Weltfreund, An Europa, Rufe der Jüngsten, Das gelobte Land, das sind die Titel der lyrischen Manifeste. Es sind Attitüden, die von lächerlicher Verstiegenheit wären, wenn dahinter nicht das so furchtbare Erlebnis dieser Jugend stehen würde. Die Kunst soll wieder der Wirklichkeit eingefügt werden, das ist eine ernste Forderung, über die man von 1871 an hinwegging. Der Naturalismus brachte das Elend als dichterisches Motiv. Die Jüngsten von heute identifizieren sich mit diesem Elend. Es ist ein Sturmlauf gegen überlebte Begrifft. Zum Höchsten wird nicht irgendeine Institution erhoben, sondern der Mensch. Der gepeinigte, entwürdigte und entwertete Mensch. Kurt Pinthus, einer der Wortführer, ruft den jungen Dichtern zu: Sie mußten zugleich, als Sie Neues (das doch Uraltes war) begannen, den allgemeinen Konventionalismus vernichten, der sich mit der erstickenden Gewalt verwesender Epochen über uns gewälzt hatte. Dieser Kampf nach rückwärts bringt Ihnen zum Leid Ihrer zerstörten Jugend neues Leid; manches, was Herz und Sinne noch liebten, zwingt der Geist, zu verlassen und zu verwüsten — und schon höre ich Märtyrerpfeile gegen Ihre Herzen schwirren.
Am stärksten und reinsten unter den jungen Dichten hat Iwan Goll diesem Empfinden künstlerischen Ausdruck verliehen. Er singt das Lied vom „Neuen Orpheus“ (Berlin, Verlag der Aktion), der in die menschliche Unterwelt hinuntersteigt:
„Orpheus war der ewige Dichter der Welt. In seinem Geist lag die Landschaft Doris. Olivenwälder rauschten im Wind seiner Liebe.“
Die Menschen aber kannten Orpheus so wenig wie er sie: „Ihr dunkles Rinnsal quoll durch die grauen Städte… der Menschen Erde war ein Schacht. Der Menschen Himmel ewige Nacht.“ Orpheus geht mit seinem Lied von der einfach lächelnden Güte durch die Boulevards, die Absinthschenken durch die Cafés und Spelunken. Niemand horcht ihm als nur da und dort ein Kind. Er wird verhöhnt, mit Roheiten vertrieben. Wir machen diesen Leidensweg mit dem Sänger des Heils mit. Seine Schuld war, daß er der Menschen Leid nicht verstand: er hatte sich zu sehr nach ihrer Liebe umgeblickt. Er hatte ihr schwarzes Antlitz gesehen und nicht ihr rotes Herz… Im dritten Jahrtausend kehrte Orpheus wieder. Er wurde ein anderer, litt mit an der Schuld der Menschen, aber auch diese hatten sich im Leid gewandelt. Wieder stimmte er sein Lied an:
Da ging ein Ton über die Welt.
Aus der Asche der Menschenbrust stieg ein Phönix durch die Kathedrale.
Dieser Ton: ein tiefgoldenes Schluchzen: Ein Gewölbe tut sich auf. Eine Geige setzt sich auf die Schultern des Bettlers. Eine Hand lächelt dem Kranken. Eine weiße Taube zeigt sich dem Blinden…
Dieser Ton war der Atem der Erde.
Orpheus der Befreier sang. Er führte die Menschheit hinaus zur Absolution ….
Iwan Goll hat in seinem Gedicht ein Symbol der tragischen Mission des Dichters geschaffen. Hier ist das neue Pathos, wie es Verhaeren schon besaß, eine neue Schönheit, die wir bewundern.