Fannina Halle: Die neue Frau als Weib

Fannina Halle: Die neue Frau als Weib (1932)

Nachdem wir nun das letzte Wort über die neue, unter völlig veränderten Verhältnissen aufwachsende und ins Leben gestellte Frau Sowjetrußlands vernommen haben, ist auch die Frage nicht länger zu umgehen: fühlt sich diese Frau heute wohler, in ihrem persönlichen Leben glücklicher als die von früher und von anderswo? Diese Frage ist natürlich schwer zu beantworten, weil Mascha noch zu jung und näher betrachtet mehr die Frau von morgen als von heute ist. Man muß also die Zeit erst abwarten, bis sie reifer wird. Vom Gros ihrer etwas älteren und gleichaltrigen Genossinnen läßt sich daher vorläufig nur sagen: wiewohl alle Ventile weit geöffnet und die äußeren Hindernisse aus dem Weg geräumt sind, befinden sich die Dinge durchaus noch im Fluß, die Entwicklung ist also keineswegs als abgeschlossen anzusehen und die Gegensätze stoßen hier in mancher Hinsicht mehr als anderswo im Raume zusammen.

Worin diese Gegensätze ihren Grund haben, wurde bereits angedeutet. Hier sei aber das Problem nochmals angeschnitten. Vor allem gipfelt es in der beim russischen Mann und bei der russischen Frau viel mehr als überall divergierenden Einstellung zur Geschlechtsfrage. Denn wie für alle Frauen der Welt, so bildet auch für die Mehrzahl der russischen Frauen, die bei aller äußerlichen Vermännlichung innerlich sehr fraulich, überaus emotionell veranlagt sind, die Liebe das zentrale seelische Erlebnis. Und trotz aller Versachlichung durch die sowjetrussische Jugend zeigt sich eben hierin eine große Diskrepanz zwischen den Geschlechtern. Während die Mehrzahl der in der ange//[272] führten Odessaer Enquete befragten männlichen Studentenschaft die Liebe als Realität überhaupt nicht anerkennt, geben von den weiblichen Studierenden immerhin fünfzig Prozent zu, daß ihr Geschlechtsleben nur durch innere Ursachen, durch Liebe und Leidenschaft geweckt wurde. Vielfach wird behauptet, und es ist auch kaum zu leugnen, daß die russischen Frauen im Leben aktiver, stärker, energischer und zielbewußter sind als ihre häufig etwas femininen, schwankenden Männer, daß das „schwache Geschlecht“ dem „starken“ überlegen ist. Und das läßt sich vielleicht dadurch erklären, daß – während im Dasein des russischen Mannes das sozial-ethische Moment überwiegt – bei der russischen Frau, als Frau an und für sich, immer das Individuelle, das Persönliche und das Ästhetische vorherrscht. […] Die russischen Männer, denen man eine starke, gesunde Sinnlichkeit gewiß nicht absprechen kann, denen aber die verfeinerte, vergeistigte Form der Sexualität, die Erotik, so gut wie verschlossen ist – weil die meiste Intensität ihrer eurasischen Geistigkeit auf anderem Gebiete liegt und sich der Austragung sozial-ethischer Probleme zuwendet –, sind aber wohl aus diesem selben Grund auch wenig dazu befähigt, das ihrem Wesen differente Seelisch-Geistige der Frau zu wecken, zu gestalten. Die Russen sind in der Liebe eigentlich phantasiearm. Deshalb auch, und nicht allein wegen //[273] der so vielfach zitierten ausländischen Seidenstrümpfe die großen Chancen der Fremden bei der russischen Weiblichkeit. 

Die Folge davon ist, daß die Klagen der sich außerhalb der sowjetrussischen Grenzen aufhaltenden „Spez“-Gattinnen, die sich ähnlich wie im Weltkrieg verlassen sehen, täglich lauter werden. […] Dabei darf man nicht vergessen, daß die russischen Männer schon seit eineinhalb Dutzend Jahren, unter Einsetzung aller Kräfte mit angespannten Nerven im schwersten Feuer stehen. Sind doch zum Übermaß der während des imperialistischen Krieges, der Revolution, des Bürgerkrieges und der Hungerjahre überstandenen körperlichen und seelischen Leiden, in deren Ertragen das russische Volk ohnedies ungleich stärker ist als jedes andere, in den letzten Jahren – neben der ständigen Angst vor einem Interventionskrieg – noch die ungeheuren Anforderungen des Fünfjahresplanes hinzugekommen! Übermenschliche Arbeitsleistungen, durch die die Sexualtriebkraft der russischen Männer erwiesenermaßen bedeutend herabgesetzt wurde. Die Männer, die gleich den Frauen in Rußland ohnedies immer früh alterten, sollen nach Aussage der Ärzte jetzt schon Mitte Vierzig größtenteils zur Liebe unfähig sein. 

Noch bis vor ganz kurzer Zeit gab es – wegen der unterbrochenen Woche – keinen allgemeinen Ruhetag, kein Wochenende, keinen Ausflug, und wegen der miß//[274] lichen Wohnverhältnisse gibt es auch heute kaum eine Möglichkeit, in seinem Heim mit sich allein zu sein oder zu zweit, eine wirkliche Mußestunde zu genießen. Die russische Frau, sogar die Frau von heute, die zu einem Teil schon im Morgen lebt, zum anderen aber, wenn auch nur leise, das Gestern berührt, will, obwohl sie es prinzipiell leugnet, doch wie jede Frau, in irgendeiner Form als Weib umworben sein. Auch sie verlangt Rücksicht, Zärtlichkeit, Erotik und trägt unbewußt eine verschwiegene Sehnsucht nach Romantik im Herzen. Ihre Welt aber ist entzaubert, das Persönliche, der Mann, die Liebe nimmt darin – aus Mangel an Zeit und Gelegenheit – recht wenig Platz ein, ist kaum existent, und es gibt nur noch „ein bißchen Bett“. So wird von Millionen in ihrem Gefühlsleben ungeweckter, nach einer Entladung, einer Entspannung der seelischen Kräfte dürstender Frauen ihre ganze Energie, Begeisterungsfähigkeit, Opferwilligkeit, Leidenschaft und die angesammelte Glut eines undurchlebten Weibtums in technisch Dimensionen, Ziffern, Superlative umgesetzt und dem Altar der Platiletka freudig und selbstlos hingeopfert. Wir werden weiter unten sehen, daß es wahre Wunder sind, die da vollbracht werden, und daß die Frauen, wie einst in den ersten Reihen der russischen Revolution, so heute an der Spitze des modernen Epos der Arbeit, der Mythenschöpfung schreiten. 

Allerdings: einmal im Jahr gibt es einen mehrwöchigen Urlaub, den man für gewöhnlich an jener sinnberauschenden Küste verbringt, die im südöstlichen Winkel des Schwarzen Meeres, bei Batum, beginnt, und sich fast ununterbrochen bis zur Westküste der Krym erstreckt. Wie kein anderer hat Gladkow in seinem schon erwähnten Roman Die trunkene Sonne das azurne Rauschen dieses // [275] Meeres, den durchsichtig darüber gewölbten Himmel, die vom betäubenden Duft der Wasserpflanzen und Mollusken gesättigten Luft geschildert, in der man „vor Glück hinsterbend“ ausruht. Denn „hier ist der Sonnenschein dem Fünfjahresplan nicht unterstellt“ (Knickerbocker), und somit werden auch alle theoretischen Ansichten über Liebe für drei oder vier Wochen hinfällig. Hier, an der Roten Riviera, zieht man die besten Kleider an, die man besitzt, und legt seine stehenden Redensarten ab. Hier holt man die Schmink- und Puderdose aus dem Koffer und die in den übrigen elf Monaten brachliegenden Gefühle aus dem Herzen. Hier sonnt man und flirtet den ganzen lieben Tag am Strande und badet im Mondschein einer subtropischen Nacht. Hier ist man lyrisch gestimmt, macht Dummheiten und nimmt den heißen Kampf der Geschlechter auf. Es ist der Kampf zwischen elementarer männlicher Sinnesbegierde, „noch nicht Eros gewordener Sexualität“, und dem das ganze Jahr über im Verborgenen blühenden Strauß, der nuancenreichen weiblichen Erotik. Kaum aber hat der Kampf begonnen, schon muß er bis zu den nächsten Sommerferien aufgeschoben werden. 

Es ist ein bißchen wenig für den Typus Vollblutweib, zu dem die Russin zweifellos gehört. Und so ist es vielleicht doch nicht so seltsam, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, daß gerade in dem Lande, in dem es für die Frau keine soziale und ökonomische Tragödie mehr geben soll, Prof. Njemilows Buch Die biologische Tragödie der Frau entstehen konnte. Von marxistischer Seite wurde diese entmutigende Theorie mit heftigem Widerspruch aufgenommen: „Die Geschlechterfrage“, erklärt der Sexologe Prof. Salkind, „hat niemals als eine rein biologische Frage gegolten.“ Trotzdem erlebte das Buch // [276] Njemilows, das auch ins Deutsche übersetzt wurde, in Sowjetrußland, wo die Frau tatsächlich ihre biologische Tragödie weniger zu spüren bekommt als anderswo – weil diese durch Präventivmittel, Legalisierung des Abortus und durch die ganze Gesetzgebung nach Möglichkeit gemildert ist – in kurzer Zeit fünf Auflagen. 

Außerdem erhielt Njemilow eine Menge Zuschriften, in denen nicht nur Frauen sondern auch Männer zu den von ihm aufgeworfenen Fragen polemisch Stellung nehmen. Einen Teil dieser Briefe hat es im Nachwort zur letzten russischen Auflage seines Buches veröffentlicht. Daß es eine biologische Tragödie gibt, bestreitet keine der Frauen. Viele verweisen aber darauf, daß sie in der Hingabe an einen Mann und in der Mutterschaft die größte Befriedigung finden. […] Neben diesem allgemeinen kommt aber auch das schon angedeutete spezifisch russische Frauenprobleme zur Spra//[277]che. Am meisten beklagen sich die Briefschreiberinnen Njemilows darüber, daß sie unter der Diskrepanz im männlichen und weiblichen Verhalten zum Problem der Liebe, das heißt, unter der Hemmungslosigkeit, der Leichtfertigkeit leiden, mit der Männer dem Geschlechtsakt gegenüberstehen. „Sie könnten sich schon etwas zusammennehmen, die Männer und ihre ‚Liebe‘ nicht mit so verbrecherischem Leichtsinn vergeuden“, ist der ständig wiederkehrende Refrain dieser Zuschriften. Alles wird aber durch die eine Stimme übertönt: „Nicht unter der ‚biologischen Tragödie‘ leiden wir, sondern unter dem ‚Chamstwo‘ der Männer“, was im Russischen eine Synthese der schönen Begriffe: Grobheit, Rohheit, Bestialität, Brutalität, mit einem Worte den Gipfel der Unkultur bedeutet. Diese Behauptung trifft wohl in manchen Fällen den Kern des Problems, und so darf man vielleicht sagen: die Tragödie der russischen Frau scheint augenblicklich weniger biologischer als psychologischer Natur zu sein. 

Während man in Westeuropa allgemein vielleicht an einer Überkultur, einer zu großen Differenziertheit des Sexuallebens leidet, die so manche in Rußland kaum vorhandene Folgeerscheinung aufweist […] ist das Liebesleben der Russen viel zu oft zu einem seelenlosen Geschlechtsverkehr degradiert, zu einer bloßen Bedürfnisbefriedigung, ohne höheren persönlichen Anspruch. Die Männer scheinen sich hierbei ganz wohl zu fühlen, die Frauen weniger. – So zeigt es sich, daß die sowjetrussischen Frauen zwar alle Rechte haben, nur nicht das eine Recht, Weib in einem höheren Sinn des Wortes zu sein. Kaum erblüht, werden sie als erledigt angesehen: gilt doch in den // [278] Augen ihrer Männer als etwas primitiver Maßstab für die Altersgrenze nicht der Stärkegrad der gegenseitigen seelisch-geistigen Durchdringung, nicht der Eros, der mit den Jahren sogar zunehmen und sich vertiefen kann, sondern zunächst die nackte, rein sexuelle Anziehung und Eignung. 

Den russischen Frauen wäre sehr zu wünschen, daß man in den bevorstehenden kulturellen Fünfjahresplan noch einen neuen Punkt aufnimmt: die kulturelle Hebung der gegenseitigen Beziehung der Geschlechter. 

In: F. Halle: Die Frau in Sowjetrussland. Berlin-Wien-Leipzig: Zsolnay 1932, S.271-278 (Auszüge)