Lilli Körber: Die Frau in der Sowjetunion

Lilli Körber: Die Frau in der Sowjetunion (1933) 

Dr. Lili Körber, deren vor einigen Monaten im Rowohlt-Verlag erschienener Roman „Eine Frau erlebt den roten Alltag“ (Als Arbeiterin in den Putilow-Werken) berechtigtes Aufsehen erregt, stellt uns ihre in Rußland gewonnenen Erfahrungen und Beobachtungen zur Verfügung. Dr. Körber hat, um die russischen Lebens- und Arbeitsverhältnisse gründlich und aus persönlichem Erleben heraus kennenzulernen, sich monatelang in den weltberühmten Leningrader Putilow-Werken als Arbeiterin betätigt und die gewonnenen Erkenntnisse in ihrem Roman niedergelegt. Daß sie auch für das Leben außerhalb der Fabrik ein helles Auge hat, beweisen ihre Schilderungen des Lebens der Frauen in Rußland.

„Wir tragen keinen Schleier mehr,“ erklärte mir stolz eine junge Turkmenin aus Baku, und dies gilt für die Frau in der Sowjetunion überhaupt: der Schleier aus ungerechten Gesetzen, welche das Dasein der Frau drosseln und sie gegenüber dem Manne benachteiligen, ist gefallen. Gleiches Recht für beide Geschlechter, gleicher Lohn für gleiche Arbeit – und damit diese Bestimmung nicht auf dem Papier bleibt, wird die Hilfsarbeiterin in speziellen Kursen zur qualifizierten Arbeiterin herangebildet. Der Mangel an Arbeitskräften hat das Seinige getan – heute trifft man die Russin auf allen Gebieten, in allen möglichen Berufen – von der Schaffnerin an bis zur Leiterin eines wissenschaftlichen Instituts.

Auch die „Ketten der Liebe“ sind zerbrochen – die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Manne. Da jeder arbeitet und keiner in unserem Sinne „reich“ ist, sind die Vernunftehen geschwunden. Die Scheidung ist so leicht – das Einverständnis des einen der Gatten genügt – daß die Ehe ihren Charakter der Bindung verlieren mußte. Es genügt, daß zwei Menschen einander als Mann und Frau anerkennen, um als verheiratet zu gelten, den Begriff „uneheliches Kind“ gibt es nicht. Die Kinder werden den Eltern nicht weggenommen, wie man hier vielfach glaubt, aber praktisch ist es so, daß die Mutter meist arbeitet und für diese Zeit die Kinder in die Betriebskrippe oder in den Kindergarten gibt. Sie darf zweimal während der sieben- bis achtstündigen Schicht (der Siebenstundentag ist noch nicht in allen Betrieben durchgeführt) für je eine halbe Stunde ihren Säugling aufsuchen, diese Zeit wird vom Lohn nicht abgezogen. Die älteren erhalten zwei Mahlzeiten umsonst. Der bezahlte Schwangerschaftsurlaub dauert für die Arbeiterin zwei Monate vor und zwei Monate nach der Geburt, für die Angestellte je sechs Wochen. Gearbeitet wird vier Tage, der fünfte ist frei. Ist die Frau alt und nicht mehr leistungsfähig, so bekommt sie, ebenso wie der Mann, eine Altersrente. Da diese Rente nicht hoch ist, darf sie nebenbei eine leichte Beschäftigung annehmen, die ihr von der Arbeitsnachweisstelle vermittelt wird.

Weniger günstig ist dir Russin vorläufig noch als Hausfrau gestellt. Aufzuräumen gibt es allerdings nicht viel – ein Ehepaar hat selten mehr als einen Raum zu Verfügung, außer, wenn einer der beiden Gatten ein hochqualifizierter Wissenschaftler oder Künstler ist, dann wird ihm noch ein Studierzimmer zugebilligt. Weitaus komplizierter ist das Kochen – da in einer Wohnung einige Parteien wohnen, wird die Küche gemeinsam genützt – und die Tendenz geht dahin, die individuelle Kocherei aufzugeben und sich im Speisehaus zu verköstigen, das zur Organisation gehört, in der man arbeitet. Es kommt oft vor, daß man für die ganze Familie das Essen aus dem Speisehaus holt und es dann aufwärmt, in den alten Wohnungen auf einem Spirituskocher, „Primus“ genannt, in den neuen auf dem Gasherd. (In allen neuen Häusern gibt es Zentralheizung.) Zieht es jemand vor, zu Hause zu kochen, so bezieht er die Lebensmittel auf Karten, und zwar gibt es Karten der 1. Kategorie für Arbeiter und der 2. Kategorie für Angestellte oder Familienangehörige. Die Karten der 1. Kategorie berechtigen zu viel mehr Produkten. Da aber anderseits die qualifizierte geistige Arbeit sehr gut bezahlt wird, haben die Intellektuellen die Möglichkeit, das Fehlende, zu höheren Preisen als in der Konsumgenossenschaft, auf dem Markte oder in den staatlichen Delikatessenhandlungen zu holen. Deshalb ist es so schwer, die Preise in der Sowjetunion anzugeben, da sie wechseln, je nachdem ob man die Dinge in einem „offenen“ staatlichen Geschäft auf Karten oder auf freiem Markt gekauft hat. Ebenso ist es mit der Ware. Es gibt offene Geschäfte, wo es teuer ist, und billige geschlossen Geschäfte, die Organisationen angeschlossen sind, z.B. Zebuku, das Geschäft für Wissenschaftler, Geschäfte für Studenten, für einzelne Betriebe, für ausländische Spezialisten usw. Der Warenhunger übersteigt aber um vieles das, was auf den Markt kommt (ebenso wie die rege Bautätigkeit noch nicht in der Lage ist, dem Wohnungsmangel abzuhelfen. Vor allem fehlen Luxuswaren, die früher aus dem Auslande eingeführt wurden, „Eleganz“ in unserem Sinne kennt man dort nicht, anderseits sind auch die Jammergestalten aus Gorkis „Nachtasyl“ verschwunden (verwahrloste Kinder traf ich nur noch im Süden – in Tiflis und Baku). 

Die Geselligkeit ist sehr rege – insofern man Zeit hat; infolge des Mangels an Arbeitskräften hat jeder zwei und drei Beschäftigungen. So kenne ich eine Ärztin in Leningrad, die daneben englische Sprachlehrerin ist und außerdem noch Kinderbücher schreibt. Vielleicht ist das der Grund, warum die Russin nie beleidigt ist, wenn man sich „lange nicht gezeigt“ oder „nicht angerufen hat“. Ist man aber da, so muß man mitessen, bekommt alles vorgesetzt, was es Gutes im Hause gibt und wird dann, wenn das Wetter schlecht oder es inzwischen spät geworden ist, zum Übernachten eingeladen – man benützt das Lager eines abwesenden Familienmitgliedes,  – dieser Fall trifft immer zu – da nirgends so viel gereist wird als in der Sowjetunion. „Merkwürdige Menschen sind diese Ausländer,“ sagte mir eine russische Freundin, „wenn man sie einlädt mitzuspeisen, sagen sie: ich will Sie nicht berauben! Niemals fällt unsereinem so etwas ein!“

Das Interesse für das Ausland ist außerordentlich rege und immer wieder wird der Wunsch zum Ausdruck gebracht, mit den anderen Ländern in Frieden zu leben.

In: Der Tag, 16.1.1933, S. 3.