Otto Heller: Sibirien. Ein anderes Amerika. Berlin 1930

Otto Heller: Sibirien. Ein anderes Amerika. Berlin 1930

Der Wettlauf mit Amerika beherrscht die westliche Welt. Ein Wettlauf kann eine sehr schöne und wohltuende Sache sein. Vom Wettlauf des bürgerlichen Europas mit der Welt von Wallstreet und Hollywood kann man das leider nicht behaupten.

Amerika ist Trumpf, Schlagwort und System. Wenn etwas das hat, was man mit einem der furchtbarsten Worte der Gegenwart „Tempo“ nennt, so ist es amerikanisch. Jede Raserei ist amerikanisch, in der Vorstellungswelt des Westens: das Autorasen wie das Wolkerkratzerbauen. Von der anderen Raserei, der Ausbeutung des Arbeiters, der Vernichtung all dessen, was vergangene Zeitalter als menschlich bezeichneten, spricht man nicht gerne. Ein einziges Reisebuch aus der endlosen Kette von Amerikabüchern hat uns gezeigt, mit welch einem Paradies wir um die Wette laufen. 

Zwei Opfer gibt es bei diesem Rennen: den arbeitenden Menschen und die Natur. Beide sind nur Objekt. Die Subjekte sitzen in Palm Beach oder in Cannes.

Vor dreihundert Jahren kamen die Väter der Yankees in die Gefilde Winnetous und Mitahasas. Eine Rasse ist vernichtet worden und eine Sklaverei ohnegleichen ist entstanden. Man sieht immer nur das Woolworth-Building. Die Freiheitsstatue ist nicht einmal mehr zu Reklamezwecken verwendbar. Die neue Welt ist nur der Schlußpunkt, vielleicht noch das Ausrufungszeichen der alten. Außerdem liefert sie Wolkenkratzerziffern, Rekordzahlen von reichen Leuten, Selbstmorden, Verbrechen, Menschen, die des Hungers sterben, Börsenkrachs, Golddepots in Bankkellern, Aktienpaketen, Interessen, Einflußsphären und Automobilrennen. Jeder Rekord ein Geschäft. //

Auch der Selbstmordrekord. Erst recht der an Naturschätzen. Ein Bombengeschäft im wahrsten Sinne des Wortes. Siehe Mexiko, Nicaragua und Haiti.

Vor dreihundert Jahren kamen die Kosaken  nach Sibirien. Sie haben keine Rasse vernichtet. Sie gerieten selbst in eine Sklaverei ohnegleichen, obzwar sie dessen erst zweihundert Jahre später gewahr wurden. Sie waren Sklavenhalter im kleinen. Nicht mehr. Und als die Sklaven sich erhoben, wurden auch ihre Peiniger frei. Seltsam, aber wahr. Man sah immer nur die Katorga. Man las immer nur Dostojewskis Memoiren aus einem Totenhaus. Das war nicht anders möglich und es war auch recht so. Sibirien war das Gegenstück zu Amerika – schon damals. Dort klirrte die Börse, hier klirrten die Ketten. Die Börse plünderte einen Weltteil. Die Ketten legten sich vor den Toren des anderen. Amerika wurde wachgemordet, in die Geschichte geschossen. Sibirien schlief – bis gestern. 

Wahrscheinlich war das sein Glück. Die Geschichte geht ihre eigenen Wege, ohne Zufall, nach strengem Gesetz, das nur nicht allstündlich offenbar ist. Die neue Welt liegt nicht jenseits des Atlantik. 

Die neue Welt liegt nicht vor, sondern hinter uns. Wir haben es nur nicht gewußt. Wir sind, mit dem Gesicht nach Westen, um die Wette gelaufen. Mit dem falschen Partner. Es ist an der Zeit, daß wir uns umwenden. Nach Osten. Da gibt es leider ein abgebrauchtes lateinisches Wort vom Licht, das im Osten ersteht. Dort ist es allerdings schon lange hell. In Sibirien jeden Tag um rund fünf Stunden früher als bei uns. Es wird bald um fünf Stunden heller sein, dort drüben. Die Sonne ist vor dreizehn Jahren an der richtigen Stelle aufgegangen. 

Wir laufen einstweilen immer noch um die Wette. Noch eine Lichtreklame, noch eine Rolltreppe, noch ein Über-//saxofon, noch ein Tonfilmpatent,noch eine amerikanische Beteiligung bei der Aktiengesellschaft X & Cie.! In letzterem Fall endet der Wettlauf meistens zugunsten der anderen Seite. Wir laufen noch immer um die Wette. Auf jedem Gebiet: von der Prostitution bis zum Bau neuer Kirchen. Neger und Kulis haben wir auf Lager. Sogar mit der Annehmlichkeit, daß sie über eine weiße Haut verfügen. So bequem ist Europa. Man glaubt es gar nicht. 

Im Jahre 1893 gründeten Eisenbahnarbeiter um die Stelle des Brückenbaus über den Ob, in der Baraba-Steppe, ein Dorf. Sie nannten es Alexandrowsk. Im Jahre 1895 kamen den Arbeitern Händler nach. Man taufte die kleine Stadt, die aus dem Dorf entstanden war, in Nowo-Nikolajewsk um. Im Jahre 1897 zählte man fünftausend Einwohner […] 1910 wohnten schon fünfzigtausend in der Stadt, die noch immer nichts anderes war als ein großes Dorf. […] Im Jahre 1921 verlegte man den Sitz der sibirischen Regierung, des „Sibrekom“ (Sibirisches Revolutionskomitee) von Omsk nach Nowo-Nikolajewsk; die Zahl der Einwohner stieg bis 1923 auf sechundsiebzigtausend. Im Jahre 1926 fand man, daß der Name der Stadt nicht mehr in die Zeit passe. Man gab ihr den dritten Namen, der ihr nicht mehr genommen werden wird. Man nannte sie Nowosibirsk, die „Neusibirische“. Es gibt kein Altsibirien, kein altes Stück „Sibirsk“, das sich zum „Neuen“ verhielte wie New York zu York. Nowosibirsk ist das neue Sibirien. Gleichsam ein Musterlager.

Im Jahre 1926 hatte die Stadt hundertzwanzigtausend Einwohner. Im Jahre 1929 schätzte man die Einwohner-// zahl auf rund einhundertfünfzigtausend. Das ist amerikanisches Tempo. Freilich gibt es in Nowosibirsk keine Erdhütten, die im Schlamm versinken, neben Wolkenkratzern aus Glas, Stahl und Marmor. Gleich neben dem Bahnhof wächst eine Arbeiterstadt aus dem Boden. Der Bahnhof ist alt und klein. Aber die Wohnhäuser der Arbeiter sind groß und luftig. […]

Chicago wuchs in knappen hundert Jahren zur Millionenstadt. Vorher war Prärie an den Ufern des Michigan-Sees. In Chicago wachsen noch immer die Türme des Reichtums zum Himmel. Es stehen noch immer die Erdhütten der Ungenannten und Ungezählten, der Hunderttausenden, neben den Palästen. In Nowosibirsk gibt es kein Floptown. Das ist ein Stadtteil von Chicago. 

Kap.: Wettlauf mit Amerika (Auszüge), S. 246-252.