Siegfried Schmitz: Juden auf Wanderschaft.
Siegfried Schmitz : Juden auf Wanderschaft (1927)
Ein Volk mißachten und hassen ist Atavismns. Der Horden- und Sippenmensch kannte die Begegnung mit dem Angehörigen einer anderen menschlichen Horde oder Sippe zumeist nur als Kampf und schrieb daher dem Anderssippigen stets böse Absicht zu, mußte sie ihm auch zuschreiben, um sich selbst für den Kampf, der ja früher oder später einmal erfolgen nußte, gewissermaßen Mut zu machen. Ans diesem atavistischen Hordengefühl sind bis heute alle Höherwertigkeits- und Minderwertigkeitstheorien unter den sogenannten zivilisierten Völkern zu erklären. Sie enthalten natürlich auch den Unterwerfungskomplex — ebenfalls ein Horden- und Sippeninstinkt, da dem Sippenmenschen die Andersartigkeit des Fremdsippigen stets ein Gegenstand der Furcht sein muß, weshalb er sie durch Unterwerfung des Fremden, d. h. durch Eingliederung in die eigene Sippenart beseitigen will.
In der modernen, angeblich hoch zivilisierten Menschheit äußern sich diese Instinkte natürlich in einer sozusagen sublimierten Form, und der Wille nach der physischen Unterwerfung des Fremden ist in den Wunsch nach einer Art zivilisatorischen Unterwerfung, geistigen Uniformierung und Ebnung umgebogen. Wir begrüßen die „Europäisierung“ Japans, beten für das Seelenheil der „heidnischen“ Neger, freuen uns der Levantinisierung des vorderen Orients und setzen unseren Stolz darein, die „primitiven“ Menschenstämme, wie der schöne Ausdruck lautet, zu zivilisieren, in Wirklichkeit sie um ihre entwicklungsbedingte Eigenart zu bringen.
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Besonderer Fall in diesem Schema sind die Juden. Vor undenklich langer Zeit der territorialen Begrenzung beraubt und, im Gegensatz zu anderen Völkern, trotz weitgehender Destruktion dank einem bestimmten geistigen System erhalten geblieben, weckten sie überall, wohin sie kamen, die Urinstinkte der Furcht vor dem Fremden. Jahrhundertelang wurde aus diesem Instinkt heraus gegen die Juden die Methode der Abgrenzung angewendet, die um so näher lag, als in dem erwähnten geistigen System der Jude (das ja eigentlich wiederum wohl als sublimierter Urinstinkt anzusehen ist) gerade die Abgrenzung einen wichtigen Faktor bildet. Als dann wirtschaftliche und soziale Momente eine Lockerung dieser Abgrenzung mit sich brachten, die in einer Reihe von Ländern und Gebieten, wo Juden siedeln, zu ihrer Einfügung in die allgemeine wirtschaftliche und soziale Struktur führte, in der sie bis dahin — und in anderen Gebieten noch heute — bestimmte Funktionen ausgeübt hatten, da entstand — der Ostjude. Es ist dies jene jüdische Massenschichte, welche, aus äußeren und inneren Gründen in ihrer funktionellen und traditionellen Sphäre verharrend, in abgesprengten Teilen und Trupps dann und wann in denjenigen Gebieten auftaucht, wo die Einfügung des Juden in das gesamte wirtschaftliche und soziale Leben der Umwelt bereits einen Judentypus geschaffen hat, der — cum grano salis — als weniger fremd empfunden wird. Und nun setzt gewissermaßen die Reaktion der Furcht ein: den fremdartigen Gestalten, die da und dort auftauchen, um — allerdings in verhältnismäßig kurzer Zeit— ihre äußere Fremdartigkeit abzustreifen, muß wohl drüben, im Osten, irgend eine ähnliche Masse entsprechen, die in geschlossenen Siedlungen und Lebensformen irgend ein unverständliches, also gefährliches Dasein führt, eine Art Kaftangefahr nach dem Vorbild der in den letzten Jahrzehnten zum Modewort gewordenen gelben Gefahr.
So hat sich in Westeuropa eine Wissenschaft vom Ostjudentum gebildet, die eine beklagenswerte und gleichzeitig verächtliche Menschenrasse zeichnet und mit allerhand der furchtsamen Phantasie entsprungenen Eigenschaften ausschmückt. West- und Mitteleuropa haben nach dem Osten erst die Theorie gebracht, daß der dort lebende Jude unbedingt zu „zivilisieren“ ist, in dem üblichen wissenschaftlichen Hochmut daran vergessend, daß Anlehnung und Einfügung in die Umwelt nur dort vollständig erfolgen kann, wo die Werte dieser Umwelt höher sind und stärkere anziehende Wirkung haben als die eigenen. West- und Mitteleuropa haben dem Osten das Ostjudenproblem beschert, durch Vermittlung jener Methoden der gewissermaßen zivilisatorischen Gewalt, die, im Grunde zwecklos, nur geeignet sind, die bösesten Instinkte physischer Gewalt hervorzurufen, und dann, wie es so oft in jüngster Zeit geschehen ist gegenüber einem Volke absoluter Gewaltlosigkeit aus geistiger und seelischer Einstellung, wie es die Juden sind, zum Ärgsten führen müssen. Im gewissen Sinne kann man sagen: an den Pogromen im Osten Europas trägt der Westen mit seiner Unkenntnis des Wesens und Lebens der jüdischen Masse im Osten die Schuld.
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Und nun erscheint ein Buch*) (Wie gleich vorweg genommen werden soll, ein gutes, mit klarem Blick geschriebenes.) Joseph Roth, ein Publizist, hat in seinem schmalen Büchlein ausschließlich Reportage gegeben, also Berichterstattung über Tatsachen, Erscheinungen, Eindrücke. Und aus dieser Reportage kam ihm die Erkenntnis grundlegender Tatsachen des heutigen Judenproblems: das Bestehen der Wanderwelle von Osten nach Westen, die Gleichsetzung des Begriffes „Ostjude“ mit einem bestimmten Kulturkreis eigener Prägung, die Tragik der sogenannten Europäisierung, aber auch die Tragik, die darin besteht, daß das jüdische Städtchen zu eng geworden ist, weil ihm jedes Hinterland fehlt, daß das Reservoir der jüdischen Massen im Osten infolge des darin herrschenden Druckes immer wieder Stücke aus seinem Inhalt auswirft, die dann in zielloser Bewegung durch die Welt geistern — die Tragik der unorganischen jüdischen Wanderung. Aus ihr sind die westlichen Ghetti entstanden, von denen Roth in seinem Buch anschauliche, manchmal vieldeutig lächelnde, manchmal traurig-ernste Schilderungen gibt, jene sonderbar „zivilisierten“ Judenviertel in Wien, Berlin, Paris, London, Newyork, die doch — der Welt mehr gegeben haben, als sie von ihr empfingen. Diese Wanderungen aus dem jüdischen Massenreservoir sind ewiger Grund von Mißverständnissen: das „wissenschaftlich“ fundierte Mißverständnis West- und Mitteleuropas über den Ostjuden ist hier bereits erörtert worden, das Mißverständnis des Ostjuden über die Vorzüge der Fremde, das aus der menschlichenEigenart entsteht, erzwungene Tatsachen (hier die Wanderschaft) durch Illusionen in Willenstatsachen umzubiegen, schildert Roths Buch mit charakteristischen Strichen.
Dieser menschlichen Eigenart, die beim Juden durch eine geradezu elementare Vitalität noch verstärkt wird, verdanken es jene wandernden Teile der jüdischen Masse,
daß sie, wohin sie gelangen, irgendwann und irgendwie immer wieder schöpferische Arbeit verrichten konnten. Von jüdischen Emigranten wurden ganze Industrien geschaffen, neue Wirtschaftsformen geprägt, eigenartige und wertvolle Nuancen des Kulturlebens geformt. Kurz, alles das, was den Juden der sogenannte wissenschaftliche Antisemitismus abspricht, die schöpferische Originalität, ist tausendfach und unter tausenderlei Schwierigkeiten von jenen abgesprengten, durch den Erdenrund irrenden Teilen der Judenheit immer wieder der übrigen Welt vor Augen geführt worden: die schöpferische Kraft. Daraus erklärt es sich auch, daß der Antisemitismus im Gegensatz zu seiner Theorie vom unschöpferischen Judentum, im gleichen Atem vom zerstörenden Judentum spricht; wäre der Blick der Welt nicht durch die atavistische Sippenfurcht getrübt, der Antisemitismus könnte nicht übersehen, daß unschöpferische Elemente nicht zerstören können. Roth setzt am Schlusse seines ehrlichen, klaren Buches die Annahme, daß im neuen Rußland die Judenfrage durch Auflösung liquidiert werden konnte. Sie könnte es, wären die Juden — nicht so schöpferisch wie sie sind. Von außen her kann bei einem von so schöpferischer Lebenskraft durchdrungenen Volk, wie es die Juden sind, sein Volksproblem nicht liquidiert werden, es sei denn, man tötet es Mann für Mann. Das jüdische Problem wird nur von den Juden selbst liquidiert werden. Der Urinstinkt der Sippenfurcht, der in der Menschheit sich am stärksten gegen die Juden austobt, beweist es am besten.
*) [OFN] Joseph Roth: „Juden aus Wanderschaft (Band 4 der Reihe „Berichte aus der Wirklichkeit“), Verlag Die Schmiede Berlin.

