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Else Feldmann: Kulturarbeit

Else Feldmann: Kulturarbeit (1919)

             Wem sind noch die Augen blind? Wer glaubt noch, daß wir das für Kultur anzusehen haben, was uns vor dem Sommer 1914 Kultur bedeutete? Was war uns Kultur?

             Ein herrlich strahlender Maimorgen. In der Reitallee der Ringstraße sprengten elegante Reiter daher. Das war Kultur. Oder der Blumenkorso im Prater. „Ah, die Metternich!“ riefen ausgemergelte Proletarierweiber – schon damals ausgemergelt, wo ein Kilogramm Mehl noch dreißig Heller kostete!  – und hoben ihre rachitischen Kinder in die Höhe; und während die armen Kleinen mit den dünnen Ärmchen nach den Blumen griffen, wurde die Mutter vom Kopf bis zu den Füßen mit Kot bespritzt – allein, was tat’s, sie ging nach Hause, nach Ottakring, in dem frohen Bewußtsein, die Metternich in ihrer gelben Karosse gesehen zu haben. Oh, schmachvolle Wachträume der Armen! Oh, Hunger und Notdelirien der Elenden!

             Was nannte man alles Kultur?

Lueger hat den Wald- und Wiesengürtel um Wien gelegt, hat blühende Gärten um die Stadt gebaut. Aber wie hat er gleichzeitig das Herz dieser Stadt mit widerlichem Parteigezank vergiftet und verpestet.

Wie schön sind unsere Bauten. Zum Beispiel das spielerische Antikwerk des Reichsratsgebäudes, die wundervollen Mosaiken daran im Sonnenglanz eines Frühherbstabends. Und wie häßlich war das, was jahrzehntelang darin geschah. War das überhaupt je Arbeit erwachsener, ernster Menschen, nicht vielmehr wichtigtuerischem Geschrei kleiner Schullausbuben vergleichbar?

Was ist geschehen? Was haben wir außer Gassenhauern und Operetten geleistet? Die prächtige Renaissance des Burgtheaters. Für wen stand es da? Für die frisierten und manikürten Damen im Goldkäferschuh und in großer Gala, für glattrasierte Herren im Lackschuh und Frack, duftend nach Kölnerwasser. Das war Kultur! (Die Jugend aus besseren Häusern stellte sich an.) Wo aber war das Volk geblieben? Das Volk? Dafür waren die Branntweinschenken. Das Äquivalent für all die Nichtanteilnahme des Volkes an den Festen des Geistes, an den Freuden und Errungenschaften der Kultur war, daß die hohe Regierung den schrankenlosen Ausschank von Alkohol gestattete. Und er war billig. Um fünf, sechs Kreuzer konnte man sich einen ordentlichen Rausch antrinken, nach Hause gehen, in die freudlose Lichthofwohnung, um die Kinder zu zeugen, die dann mit Wasserköpfen, Rückgratverkrümmungen, Nerven- und Herzfehlern zur Welt kamen.

Unsere Herrscher, Staatsmänner, Parlamentarier und Politiker hatten im „Kirchenstaat“ ein Leben der äußeren Kultur zu leben mit gut gehender Beamten- und Polizeiwirtschaft; sie hatten dafür Sorge zu tragen, daß man nicht aus dem Gleichgewicht kam.

In: Neues Wiener Journal, 5.1.1919, S. 6.