Else Feldmann: Umherziehende Kinder.

Else Feldmann: Umherziehende Kinder. (1919)

Ein grauenhaftes Schauspiel kann man jeden Nachmittag in der Kärntnerstraße und am Ring sehen. Eine Völkerwanderung von Kindern zieht aus Favoriten, Meidling, Ottakring, Hernals, der Brigittenau und andern Gegenden in die Innere Stadt ein.

Die Kinder verdienen durch Bettel und Prostitution vierzig bis fünfzig Kronen täglich: aber sie kaufen sich keine Stiefel oder Kleider, sie betteln sich kleine Vermögen zusammen;

aber sie werden nach wie vor zerrissen und barfuß herumlaufen; die Lumpen sind ein notwendiges Requisit ihres Geschäftes, und sie werden sich davor hüten, sie abzulegen.

Jetzt erst kommt alles angeschwommen, was die viereinhalb Jahre Morden aus Völkern gemacht haben. 

Wie eine Karikatur, wie ein Verhängnis, gegen das es nichts gibt, sind die Kinderhorden anzusehen, die in keine Schule gehen, sondern mit ihren Geschwistern und Kameraden ausziehen, Geld zu suchen. Die Mütter – Väter gibt es fast keine – haben die Jahre hindurch alle Demütigungen und Erniedrigungen ertragen. Sie mußten sich auf der Straße anstellen, um die paar Kronen für den Kopf ihrer Männer; mit diesem Gelde mußten sie sich weiter die Nacht hindurch auf dem kalten Pflaster, um das bißchen elender Nahrung herumwälzen; der kleine Greisler konnte sie nach Belieben hinauswerfen; der Kohlenhändler konnte ihnen nach Laune Kohle verkaufen oder auch nicht. Die Mütter sahen langsam ihre Kinder in langen, elenden und verschärften Leiden zugrunde gehen. Zuerst kam die Vernachlässigung des Körpers. Ich habe Arbeiterfrauen gesehen, die ihre Kinder jede Woche zweimal badeten. Sie hätten sich lieber die Finger weggehackt, ehe sie sich von der Nachbarin hätten nachsagen lassen, ihre Kinder wären schmutzig. Dieselben Mütter mußten es ertragen, daß in dem kalten Winter, wo man keine Kohlen, kein Licht, keine Seife hatte, die Kinder infolge Unreinlichkeit massenhaft an Hautausschlägen (Scabies) erkrankten.

Durchschnittlich jedes zweite Kind hatte Scabies, und da diese Krankheit sehr leicht übertragbar ist, auch auf Erwachsene, kam es zu einer Epidemie, von der nur deshalb nicht viel in der Öffentlichkeit verlautete, weil sie ja nicht lebensgefährlich, bloß eine Pein mehr für die Armen war.

Dann war noch da das Hungern und mit ihm der moralische und sittliche Verfall der Kinder; das Stehlen, Eingesperrtsein der Jugendlichen, die Prostitution der jugendlichen Mädchen aus Not. In den Syphilisspitälern gibt es in einem Jahr tausende junge Mädchen und Burschen, darunter erschreckend viele unter vierzehn Jahren. Das Asylspital hat einen ständigen Belag von über vierhundert jugendlichen Prostituierten. Man bedenke, was das allein für die Fortpflanzung heißt. Es sei nicht zu verkennen, daß, aus der Not heraus, einige ganz gute Einrichtungen geschaffen wurden; besonders drei wären lobend hervorzuheben: die Jugendgerichtshilfe, die Tagesheimstätten und die Waldschule. Aber ist dies mehr, als ein Tropfen auf einem heißen Stein? Es ist und bleibt bei allem guten und besten Willen ein armseliges, bejammernswertes Dilettantentum der Kinder- und Jugendfürsorge.

Wer hat daran ein Interesse, daß die Kinder nicht verkommen, sondern tüchtige und brauchbare Menschen werden? Vor allem doch der Staat. Wie darf also der Staat die Kinderfürsorge zum größten Teil noch immer der privaten Wohltätigkeit überlassen? Bürgerliche Frauen, freiwillige Kräfte, und wenn sie das Muster von Frauen wären, taugen im allgemeinen nicht dazu. Nur geschulte, herangebildete Pädagogen, Menschen mit Herz und Verstand, staatlich angestellte, gut bezahlte – damit sie den Idealismus nicht verlieren – mit Pflichtgefühl und sozialer Einsicht, die besten Menschen, die wir haben, müssen herangezogen werden zur Kinder- und Jugendfürsorge, und niemals Frauen, die einem einsamen Tag, leeren Stunden entrinnen möchten! //

Denn dabei kann nur wieder etwas Halbes herauskommen, und die Halbheiten sind es, die uns zugrunde gerichtet und auf den Bettelstab gebracht haben; wir müssen für immer mit ihnen aufräumen.

Es ist vollkommen sinn- und Zwecklos, wenn unsere Politiker jedes Selbstbewußtsein verlieren und wie trostlose Melancholiker, wie Hysterische sich zusammensetzen und über unseren Untergang jammern.

In den Tagen des August 1914 hörte man von allen Leuten: wir müssen den Krieg haben; alle Klassen, reich und arm, jung und alt, Mann und Frau schrien sich gegenseitig zu: wir müssen Krieg haben! Hurra, der Krieg! Literaten, Künstler, Poeten, Philosophen, die etwas auf sich hielten, sie alle schrien: Hurra den Krieg! Die Sozialdemokratie schrie: Hurra, in den Krieg! — Vergessen waren die treuen Gelöbnisse, vergessen waren die Brüder in Frankreich, in England, in Rußland, die arbeitenden Menschen aller Länder, die Brüder eines Gedankens, einer Seele.

Und so schreien sie heute: Wir sind ein unglückliches Land, wir sind bankrott, wir müssen uns beugen, wir müssen uns am allertiefsten erniedrigen, wir müssen den letzten Rest Ehrgefühl preisgeben.

Nein, es ist nicht wahr; wir müssen uns nicht beugen und erniedrigen, oder wenn wir es müssen, dann können wir es sozusagen praktisch, aber ideell müssen wir es nicht. Auf unseren Idealismus, auf unser Menschensein dürfen wir nicht verzichten. Gewiß, wir müssen essen, und wir müssen uns dieses Essen durch Demütigung verdienen. Aber nicht allein vom Essen können wir leben, wir brauchen noch andere Güter, wir brauchen die Idee, wir brauchen das Menschentum, wir brauchen Begabung, Tüchtigkeit, den Keim des Guten und Wahren im Volke.

Wenn unsere Regierung aber zusieht oder sich blind stellt, wie die Kinder, durch die Verhältnisse böse und schlecht geworden, durch Not und Entbehrung bestialisch und verbrecherisch, zerrissen und zerlumpt durch vornehme Straßen ziehen, um Geld zu suchen, so kann sich diese Regierung die Folgen selbst zuschreiben, wenn in wenigen Jahren ein Geschlecht von Verbrechern herangewachsen sein wird. Wenn sie in einigen Jahren – statt jetzt die Kinder zu sammeln und Baracken und Waldschulen zu errichten, wo nur ein freies Plätzchen ist – die Zuchthäuser, die Korrektionsanstalten, die Spitäler werden hinstellen müssen.

Die Mütter, die jede Liebe, jede Scham, jeden Stolz in diesen Jahren des Leidens und Duldens verloren haben, schicken heute selbst ihre Kinder auf die Straße, damit sie betteln; der reiche Erlös lockt auch die anderen an; es werden immer mehr und mehr, die ausziehen, einer Heuschreckenplage vergleichbar. Schaue einem solchen Kind, das dich anbettelt, in das Gesicht, und du wirst erschrecken, wenn du zu sehen verstehst. Sie fühlen sich wie erlöst. Sie sind unbändig frei, glücklich, seit sie auf die Straße gehen und Geld bekommen, ohne zu arbeiten – aber langsam fault alles, was bisher noch rein und kindlich in ihnen war; langsam zerfrißt wie von einer Säure alles, was noch menschlich in ihnen war. Ärger als der Krieg, als die Verstümmelten, Verkrüppelten, Blinden sind die bettelnden Kinder der Straße; sie sind wie freigelassene Wahnsinnige mit ihren entsetzlichen Trieben, die in den Kellerwohnungen bei den Ratten Keime in sich ausgenommen haben, die sich vor dem Grand Hotel entwickeln und in kurzer Zeit zu einem erschreckenden Bild von Riesengröße gestaltet haben werden.

Die Regierung muß ein Mittel finden, Kinder vom Hausieren mit Blumen und anderen Dingen, Betteln und Zeitungskolportage zu entfernen. Eine Regierung muß die Macht und Kraft haben, etwas so Entsetzliches, wie es die umherziehenden Kinder sind, sofort abzustellen, will sie nicht warten, bis diese ihr über den Kopf wachsen.

In: Neues Wiener Journal, 25.5.1919, S. 8-9.