Stefan Zweig: Das Feuer
Stefan Zweig: Das Feuer (1917)
Dem Erfolg der Stunde, dem höchst zufälligen, zu vertrauen, bedeutet Gefahr, aber Gefahr auch, ihn zu mißachten. Jede Wirkung hat zumindest den Wert, ihre Ursache erkenntlich zu machen, und so drückt immer ein sensationeller Erfolg schon durch seine bloße Existenz eine immaterielle Tatsache aus: irgend ein seelisches Bedürfnis, das er erfüllt, eine ungesprochene Frage, die er beantwortet, eine nationale Stimmung, die er formuliert. Als sichtbare sinnliche Symptome der seelischen Verwandlungen sind die großen Erfolge darum für die Diagnose der Zeitpsychologie unschätzbar und besser als aus allen Dokumenten und Berichten werden spätere Generationen aus den Auflagenziffern und Jahreszahlen der Erfolgsbücher einmal die Bluttemperatur Europas und alle ihre Schwankungen in den drei Kriegsjahren ablesen können. Aber schon heute wird es für die Erkenntnis der Stunde, ja selbst als politischer Behelf, uns nicht ganz gleichgültig sein dürfen, wie das Erfolgsbuch seelisch beschaffen ist, das jetzt in Frankreich gleichsam im Sturm alle anderen Kriegsbücher überrannt hat, denn aus den repräsentativen Männern einer Nation erkennen wir am besten ein Land, aus den Erfolgen einer Zeit sie selber, die Zeit. So wie in Rousseaus Contrat social die Revolution, in Goethes Werther die Romantik, in Turgenjews Väter und Söhne der Nihilismus in prophetischem Vorgefühl zusammengeballt war — so verkündet uns Henri Barbusses Le feu die französische Besinnung von heute und vielleicht die europäische Verbrüderung von morgen. Es kann, es darf bei uns die Tatsache nicht übersehen werden, daß der stärkste Erfolg eines Kriegsbuches in Frankreich heute der eines leidenschaftlichen Friedensbuches geworden ist.
Henri Barbusse — der Gebildete muß sich nicht schämen, diesen Namen bislang nie gehört zu haben, auch derjenige nicht einmal, der in französischer Literatur recht bewandert zu sein vermeinte. Man kannte den jungen Dichter in der engsten Pariser Gesellschaft als den Schwiegersohn Catulle Mendès, kannte ihn auch ein wenig durch Verse und einen Roman L‘enfer, der Talent verriet, aber Talent, wie kleingemünzt und abgegriffen ist heute das Wort geworden, das einst in Rom und Griechenland als Goldbarren zugewogen wurde! Hätte eine deutsche Granate den Infanteristen Barbusse bei Crouy oder Sonchez statt seines Nebenmannes zerschmettert, so wäre das kleine Bläschen seines Ruhmes rasch vertrocknet. Die Kameraden im Felde hätten ein paar Erdschollen über seinen Körper, die Zeitungen ein paar Zeilen über sein Gedächtnis geschüttet, und einer der stärksten Verkünder unserer Zeit wäre (wie so viele, deren Namen, deren Werke wir nicht ahnen) spurlos im riesigen Mörser der Vernichtung zerstampft worden. Heute aber, kaum ein halbes Jahr nach seinem Erscheinen, trägt dies Buch Le feu auf dem Umschlag schon den erstaunlichen// Vermerk „Hundertstes Tausend“. Und eine Jugend in Frankreich und weit darüber hinaus, eine ganze Welt sieht in Henri Barbusse den berufenen Verkünder ihres innersten Gefühls.
Dieses Welterfolgsbuch, das mit einer explosiven Kraft wie seit Nana kein französisches Werk sich in die Zeit geschleudert hat, ist es ein Roman? Fast wäre man geneigt, zu sagen: das Gegenteil eines Romans. Denn Roman meint doch eigentlich Erfindungswerk, Phantasieprodukt, verwandeltes, gesteigertes, umgestaltetes Leben — „fiction“ nennt der präzise englische Sprachgeist kurzweg alle schöngeistige Prosa — dieses Buches Wert dagegen ist in erster Linie seine Nichtbindung, seine nackte, unmittelbare Wahrhaftigkeit und Tatsächlichkeit. Barbusse versucht nicht das Blut rosenrot zu färben und den Krieg in ein bravouröses Jugendspiel umzulügen, er verschmäht patriotisches Pathos als Steigerung und den berühmten Schützengrabenhumor, von dem die im Hinterland so viel zu faseln wissen, als Milderung der tragischen Geschehnisse. Er dichtet nicht zu, er harmonisiert nicht den Widersinn, er schildert das Leben, und mehr noch als dies den Tod im Kriege, die Existenz des französischen Infanteristen in Dreck und Feuer, der teuflischen Sphäre, der irdischen Hölle.
Ein Tagebuch also aus dem Krieg, eines von Tausenden, das erste nicht und gewiß nicht das letzte aus unserer, in ein Hüben und Drüben zerrissenen Welt. Aber warum trifft gerade dieses so mitten ins allgemeine allmenschliche Gefühl, warum entlockt es, ähnlich einem antiken Drama, zugleich mit unendlichem Grauen auch jene geheimnisvolle schreckhaft-schöne Erregung der gepreßten Brust, die das Gräßliche zum Tragischen, das Sinnlose zum Symbol, das bloß Schmerzhafte zur seelischen Erschütterung erhöht? Warum dies Buch von allen so sehr und für eine ganze Welt? Es ist immer schwer, bei einem großen Kunstwerk die einheitliche Norm seiner Wirkung zu finden, denn unendlich viele unterirdische Kräfte kristallisieren seine wirkende Kraft, aber ich glaube, hier beruht der unvergeßliche Wert des Werkes vor allem auf seiner einzigartigen Optik, seiner doppelten Perspektive: daß es einerseits aus dem tiefsten menschlichen Abgrund des Leidens, aus der dumpfen Erdhöhle des Schützengrabens vom französischen Infanteristen Barbusse und
gleichzeitig aus freiester moralisch-menschlicher Höhe vom ‚allweltlichen Dichter Barbusse gesehen ist. Der Schauende, der Leidende ist als Atom in dem Chaos der Millionen verloren und doch gleichzeitig ihm entwunden durch seine geistige Freiheit, die selbst in dieser Hölle des Hasses und der befohlenen Zerfleischung die Fähigkeit der Liebe und Versöhnung nicht für einen Augenblick preisgibt. Darum zeigt dies sein Buch ebensoviel Meisterschaft der Kunst wie der Menschlichkeit.
Schon die rein literarische Technik ist in Le feu eine ganz erstmalige und persönliche. Nichts wird Eigenschicksal darin, alles nur kollektives Erlebnis. Nicht das Tagebuch eines einzigen Soldaten bietet er dar, sondern das Journal d‘une escouade, das Erlebnis einer Gruppe, das Schicksal seines Infanteriezuges. Zwischen den beiden bisherigen Möglichkeiten der dichterischen Darstellung, der von außen oder innen, der objektiven oder der subjektiven, hat Barbusse hier die dritte gewählt: die kollektive. Der Krieg ist nicht wie bei Tolstoi mit allgegenwärtiger Eindringlichkeit in allen seinen Formen, aus allen seinen Stockwerken zugleich gesehen, in der Stube des Feldherrn, im Gemach des Kaisers, in der Seele des Bauern oder des Offiziers, unter dem unendlichen Horizont der Weltgeschichte; nicht aber auch wie bei Liliencron und Stendhal bloß aus der Optik des eigenen Auges, des persönlichen Gesichtsfeldes. Hier ist das erlebende, schauende Ich zu einer neuen Einheit verzehnfacht, hier spricht und schildert statt des einzelnen die Kameradschaft der siebzehn Mann, die in diesen hundert Wochen in der feurigen Esse gemeinsamen Leidens zu einer einzigen Einheit zusammengeschmolzen ist. Der Infanteriezug, die kleinste militärische Einheit des Weltkrieges, sie erzählt in dem Buche den gigantischen Krieg.
Barbusse, ihn selbst, den Dichter, ihn spürt man vorerst gar nicht. Er ist gleichsam nur Trichter des Grammophons, in den diese siebzehn Stimmen sprechen und stöhnen, der anonyme Horcher und Künder ihrer Leiden, er ist unsichtbar wie der Maler vor dem Bilde, das er von außen mit dem Innersten seines Wesens füllt. Aufgelöst in brüderliche Gemeinschaft erlebt er nichts abgesondert und persönlich mehr, aber was er erlebt, lebt er mit siebzehn Seelen. Er ist der Horchende und darum der Schweigende, er läßt die Stimmen um sich aus dem Leben in sein Buch hineinsprechen, wie sie sprechen, und fälscht die Worte der Kameraden nicht um. Er läßt ihnen das Eckige und Brockige ihrer Bauernsprache und damit die Unmittelbarkeit des Ausdruckes, er poliert den rauhen Dialekt nicht ab und lackiert ihre Rede nicht mit Aphorismen und Reflexionen. Im Pariser Welsch, im Argot ist drei Viertel dieses Buches geschrieben und darum kaum für jene verständlich, die ihr Französisch aus Grammatiken und von braven Gouvernanten lernten, aber selbst der seinen Sprachenschatz auf dem Montmartre ergänzte, stolpert über manches Wort, das die Akademie im Jahre 1914 noch nicht kannte und erst der Schützengraben gestanzt hat. Meisterhaft ist diese neue Technik der Gruppendarstellung und vor allem: sie ist mehr als Technik, weil sie nicht dem Kunstgriff eines geschmeidigen Literaten entwuchs, sondern einer menschlichen Notwendigkeit, dem treu-dankbaren Gefühl einer hundertwöchigen Gemeinschaft unter dem gleichen nächtlichen Zelt aus Segeltuch, und jenem anderen, feurig gesponnenen der deutschen Granaten. Losgerissen von der eigenen heimatlichen Welt, eingeschüttet in die unendliche des Krieges, wird diese Handvoll Menschen ihm seine Heimat, seine Familie, sein Volk. Was er lebt, lebt er mit ihnen und durch sie, sie haben ein Leben und einen Tod. Wie in der Barke des Odysseus vor Scylla und Charybdis die Ruderer sich zusammendrängen und wissen, daß in der nächsten Minute die unsichtbare grausame Hand in ihre Reihe greifen und zwei von ihnen schlingen wird, und keiner weiß es noch wen, so kauern diese siebzehn hier tagelang, nächtelang zusammen in ihrer Deckung, und die Urangst preßt ihnen die letzten Worte aus der Seele. Und diese Worte der Angst vor dem Tode und anderseits die dumpfen tierischen Schreie der ewigen Ekstase vor dem täglich neugeschenkten Leben — stärker als all die schönen Worte, mit denen die rückwärts heimischen Dichter und die Pariser Zeitungen den Krieg „verklären“ — sie sind die unbeschreiblichen unvergeßlichen im Werke des Henri Barbusse, diese Gespräche im Dunkel des Lebens vor dem Dunkel des Todes.
Und der ganze Krieg, der unübersichtliche, breite, vielfältige, massige, gigantische Krieg, er ist in diese Gespräche einfacher und eben in ihrer Schlichtheit ergreifender Menschen ganz klein zusammengeballt wie in einen winzigen Knäuel. Aber die Stunden, die langen unzählbaren Stunden des Wartens — Warten ist ja die Haupttätigkeit dieses Krieges, Warten auf Befehle, auf Entscheidungen, auf Ablösung, auf Urlaub, auf Tod, auf Frieden, auf Menschlichkeit — sie rollen ihn allmählich auf. Gleichsam mit kindlich spielender Hand lockern die Gespräche Masche um Masche dieses ungeheure stählerne Netz, mit dem Frankreich und unser ganzes tragisches Europa überspannt ist, sein ganzes phantastisches Nervengewebe wird deutlicher sichtbar in diesen bäurischen Bemerkungen als es jemals kalte erklärende Darstellung zu veranschaulichen vermöchte. Ich will an Beispielen zu zeigen versuchen, wie diese Technik des Gespräches bei Barbusse im Spiel den ganzen Mechanismus des Krieges auseinanderlegt. Es ist Ruhe-//pause. Kameraden rüsten in müßiger Stunde ihre Rucksäcke und schütten sie vergleichend aus. Stück um Stück sieht man darin das ganze befohlene Rüstzeug des Infanteristen, seine militärische Notdurft und zugleich in dem heimlich zugepackten jedes Tornisters den individuellen Charakter jedes einzelnen. Der holt die Photographie seiner Frau mit den beiden Kindern heraus, der zweite ein Andenken, der dritte ein Kartenspiel, der vierte ein handliches Stoßmesser und sie betasten ihre kläglichen Kostbarkeiten gegenseitig Stück um Stück. Sie vergleichen, wie man praktischer anordnen könnte und packen gleichsam vor den Äugen des Lesers ihre Tornister aus, sie sprechen und vergleichen, sie erinnern sich an diesen winzigen Gegenständen an Vergessenes zu Hause und im Krieg und allmählich rollt die ganze Heimat, die ganze Ferne aus den geöffneten Rucksäcken in das Buch hinein. Oder einer kommt zurück von der Heimat; eine „bonne blessure“, wie dort drüben die französischen Infanteristen zärtlich den Schuß nennen, der statt des Todes dem Glücksvogel ein paar Wochen Urlaub bringt, hat ihm Gelegenheit gegeben, sich rückwärts aufzuhalten, und nun schildert er den Weg vom Spital zur Etappe, von der Etappe ins Hinterland, schildert die Vexationen der französischen Bureaukratie, den Hochmut der Offiziere, all die bitteren und süßen Erfahrungen mit den verschiedenen Samaritern. Die Kameraden mengen ihre Erfahrungen ein und aus Rede und Widerrede erwächst allmählich eine (wenig freundliche) Schilderung des französischen Hinterlandes. Mit ein paar losen Einzelbildern ist blitzschnell so die geschlossene Vision des komplizierten Gefüges sinnfällig gemacht, auf dem die vorderste kämpfende Front elastisch ruht. Oder eine rasche Lektion über Artillerie! Sie wachen auf vom Donner einer Kanonade und beschreiben gegenseitig nach den Tönen der Geschosse die Kaliber und ihre Wirkung. Wie der Jäger die Stimmen der Tiere, so erkennen diese Höllenbewohner am bloßen Geräusch die Geschosse, sie unterscheiden genau, bloß nach dem Schall, auf Zentimetergröße die schweren Granaten und agnoszieren mit ganz besonderem Grauen die zerschmetternden österreichischen Mörsergeschosse, die sie vor Verdun zuerst kennengelernt. Sie schildern mit ihren Rufen und Schreien und Scherzen unbewußt die Flugbahn, die Wirkung, die Schnelligkeit der Geschosse und unmerklich wird aus dem bäuerisch und banal geführten Gespräch ein ungeheuer anschauliches Bild der fürchterlichsten Waffe dieses Krieges, der Artillerie.
Aus solchen kleinen Darstellungen, Episoden und Anekdoten ist das ganze Buch gestaltet. Einzelne sind unvergeßlich in ihrer Schönheit oder ihrem Grauen. Da ist die des Fliegers, der Sonntag morgens über den Stellungen kreist und zu beiden Seiten der Schützenlinie je eine dunkle, viereckige, gleichartige Masse wahrnimmt. Er schraubt sich nieder, dies Seltsame zu erkunden, und sieht zur Rechten und zur Linken eine gleichzeitige Feldmesse, die deutsche und die französische. Von beiden Seiten tönt zu gleicher Stunde zum gleichen Himmel und zum gleichen Gott Gesang und Gebet zweier Sprachen, zweier Völker empor, aber ehe noch die frommen Warte zu ihm aufrauschen, splittern schon die Schrapnelle der Abwehrgeschütze um seinen Apparat. Oder jene andere Geschichte, die des Soldaten aus Souchez, der in der Wüstenei des früheren Ortes, im zerschmetterten Nichts des Heimatsortes wie ein Blinder umhertappt und sein eigenes Haus nicht mehr zu erkennen vermag, so gänzlich um und um ist seine Heimat verwüstet. Oder die des Soldaten, der die Leiche seines Bruders — des letzten von sechs — sucht und nicht weiß, daß sie eine Armspanne von seinem Lager hinter dem Erdwall liegt, und die Uhr, die er die ganze Nacht ticken hörte, die des Gesuchten ist, die mit ihrem kalten Mechanismus sein warmes junges Leben überdauert. Unvergeßlich durch Grauen, unvergeßlich durch Wirklichkeit, unvergeßlich durch Kunst der Darstellung sind diese Episoden, und doch, und doch: immer und immer stöhnt der einzelne der französischen Soldaten, klagt der Dichter aus ihnen verzweifelnd: „Qu ne peut pas se figurer!“ Man kann es sich nicht vorstellen: das wird der immerwährend wiederkehrende Rhythmus, das Leitmotiv des Werkes. Entsetzlichstes stellt Blatt um Blatt der Dichter dar und fühlt doch immer, er sagt nicht genug, nicht genug des Leidens, nicht genug der Qual. Denn selbst wenn er alle Höllen dieses Krieges schildert, das Grauen das entsetzliche, wie dies darstellen, die unsichtbarste und grausamste aller seiner Qualen, seine Unendlichkeit, die Zeit, die langsame, allzu langsam fließende Zeit? Sekunden und Minuten, die kann man mitdenken, aber die Monate, die Jahre, wie sie fassen, diese Dauer, diese Monotonie, diese Ewigkeit? Sie verzweifeln, die französischen Infanteristen, und er verzweifelt mit ihnen, sie an der Welt, er an der Kunst. Das äußerste Leiden der Menschen wird hier zugleich zur höchsten Not, zur Verzweiflung des Künstlers.
Endlosigkeit. Zermürbung, Müdigkeit, Unabsehbarkeit dreier Jahre, diesen letzten Höllenkreis des französischen Infanteristen von heute, den Zola in seinem Débacle noch nicht kennen konnte, ihn schildert heute Barbusse seinen Landsleuten und der Welt. Als Drohung hält er den politischen Patrioten und hinterländlerischen DurchHaltern diese letzte Qual ihrer Opfer entgegen, kein Leiden schildert er, der Soldat und Kämpfer war, ein makelloser Zeuge, so grausam als dieses der unermeßlichen Dauer, vor der es keine Rettung gibt. Denn auch die Pause, der Urlaub, die angebliche Rast, auch sie ist den Heloten des rasend gewordenen Nationalismus, den Infanteristen vergiftet, eine grausame Farce grinst sie aus diesem Buche der Qual. Barbusse schildert den ersten Besuch der Urlauber in Paris. Noch klebt der Schmutz des Erdloches an ihren Kleidern, noch gellen ihnen die Ohren vom Donner der Geschütze, noch krampft sich ihnen die Seele von den Bildern des Grauens. Und sie kommen über die Boulevards, die von Müßigen strotzen, die Automobile sausen geputzte Menschen hin, die Geschäfte funkeln Lockung, die Frauen mit den Blicken. Nichts, niemand weiß von Krieg, allen diesen Menschen ist er fern wie der strahlende Himmel über den Dächern. Aber doch: hier ist ein Zeichen. Vor einem Geschäft sammeln sich Leute und bestaunen hinter der Glasscheibe ein sonderbares Ding. Was ist es? Sie drängen sich mit und sehen die lebensgroße Wachsfigur eines deutschen Offiziers in echter deutscher Uniform mit dem eisernen Kreuz aus Pappe, die um Gnade kniend, ihre beiden Wachsarme bettelnd zu der ebenfalls wächsernen Figur eines französischen Offiziers emporhebt, dessen karminrote Kinderaugen und blöde Glasaugen verdreht auf ihn niederstarren. Unter dieser einfältigen Spielerei steht groß angeschrieben „Kamerad, das Spottwort für die Deutschen. Die Soldaten sehen hin, Grauen und Ekel faßt sie an: so denken sich also hier diese Müßiggänger die Deutschen, so denken sie sich hier im Hinterlande den Krieg! Eine elegante Dame streift sie parfümiert an und fragt: „Nicht wahr, meine Herren, sie, die sie wirklich Soldaten sind, sie müssen das auch gesehen haben?“ Und die beiden, gewürgt von Ekel, stammeln ein furchtsames „Ja.. ja…“ und die anderen glänzten vor Freude. Sie gehen weiter in ein Cafe, Plauderer reihen sich ihnen an, rühmen sie als echte Soldaten, ein Herr erzählt, wie gern er, der Begeisterte, in den Krieg gegangen wäre, aber das böse Ministerium gebe ihn nicht frei, ein anderer erklärt ihnen, daß er hier eben so wichtig für den Staat sei, als sie draußen. Wieder sagen sie: „Ja…, ja…, ja…“ gutwillig und scheu zu allem, aber sie spüren tief innen, zwischen ihnen und jenen ist eine Grenze, sie sprechen verschiedene Sprachen. Und sie irren wieder weiter, die Armen, namenlos vergessen fühlen sie sich in der Großstadt, in diesem Paris, das nur an sich selbst und// sein Vergnügen denkt, und Plötzlich sagte der eine: „Weißt du, es gibt kein Land heute mehr, sondern zwei Länder im Land, und die sind einander zu fremd. Dort draußen ist man zu unglücklich und hier ist man zu glücklich.“ Verloren fühlen sie sich in der Hauptstadt Frankreichs, die sie mit ihrem Blut in tausend Tagen verteidigten, und gesenkten Hauptes wandern sie aus der steinernen Fremde zurück in ihre andere, in die furchtbare Heimat, in ihre Schützengräben.
Sie sind wieder zu Haufe, sind wieder Familie, die „escouade“. Nun aber hebt der letzte Akt dieser menschlichen Tragödie an. Sie wachen nachts auf vom Alarm und werden aus dem Schlaf in den Sturm geschickt. Die Schilderung dieser Apokalypse unserer modernen Menschheit hat Barbusse so grausam, so entsetzlich lebendig — oder besser: so entsetzlich mörderisch — gestaltet, daß man sie nicht wieder erzählen vermag. Die Seele verbrennt einem, daß es solche Stunden auf unserer Erde gibt, und der Atem wird nicht mehr frei für das Wort, davon zu sprechen.
Dann kommt die Nacht nach dem Sturm, nach dem Gemetzel. Es ist vorbei. Die letzten Zwei von den einstmals Siebzehn der Escouade streifen über das von den Granaten zerhämmerte Feld. Sie suchen die Kameraden, die vor einer Stunde mit ihnen beim Kartenspiel saßen, und finden als zerfetzte Leichname die einzelnen Brüder, die sie geliebt, mit denen sie durch diese zwei Jahre verwachsen waren wie Muskel und Haut. Aber doch: in ihr menschliches Grauen, ihre brüderliche Trauer vermengt sich unaufhaltsam die dämonische urweltliche Ekstase der eigenen Existenz, der rasende Triumph: „Ich lebe noch! ich lebe noch!“ Sie haben selber getötet, sie sehen den Tod um sich mit blutenden Schädeln und grinsenden Fratzen und wissen doch nur das eine, daß sie selbst noch leben. Sie irren weiter von Leiche zu Leiche. Immer wieder, immer verzweifelter klingt vor den furchtbaren Bildern des Grauens das Leitmotiv des Buches auf „on ne peut pas se figurer“, man kann es sich nicht vorstellen. Und sie verstummen, sie kriechen zurück mit ihren blutigen Händen durch den Stacheldraht und kauern sich wieder hin in ihre Winkel.
Und nun beginnt ganz leise Stimme um Stimme aus dem Dunkel zu sprechen. Ganz namenlos sind sie schon, diese Stimmen der Übriggebliebenen, und manchmal tönen sie dumpf, als sprächen die Toten, die neuen Zehntausend, die neuen Hunderttausend mit, die jetzt vor der deutschen Linie wertlos liegen wie Kot. Sie sprechen, die namenlosen Stimmen, vom Kriege und suchen seinen Sinn. Aber nicht von Elsaß-Lothringen reden die Infanteristen und von Marokko und Syrien wie ihre Minister, sondern nur von dem Leiden und seinem Ende. Einer wagt noch die Phrase, die angelesene, man müsse Deutschland zerstören, damit der Militarismus vernichtet sei. Aber die anderen glauben der Phrase nicht mehr. „Würde Deutschland auch geschlagen, so würde der Militarismus in einem anderen Lande neu erstehen,“ so sagen sie. Nicht Deutschland müsse im Kriege besiegt werden für immer, sondern er selber, der Krieg; nicht Deutschland ist der Feind des Volkes, sondern der Krieg. Zwei Armeen, die sich bekriegen, das ist ja eine einzige große Armee, die Selbstmord begeht!“ ruft einer aus und alle stimmen stürmisch ihm zu. Kein Wort des Hasses haben diese französischen Kämpfer für Deutschland, und die eben noch mit den Handgranaten in ihre Linie gestürmt waren und mit den Messern wie die Bestien gewütet, sie haben Mitleid mit den Opfern des Krieges und Haß nur gegen den Krieg und all diejenigen, die sie hineingetrieben. Nie dürfe ein solches Leiden mehr über die Menschheit kommen, so schreien sie aus ihrer Not, und nur wenn dies der letzte Krieg der Menschheit gewesen, könne ihr Leiden sinnvoll sein. Keine Provinzen könnten ihr Leiden bezahlen, nur dieser eine letzte Gedanke, daß vor diesem Übermaß ihres Leidens die Menschheit zurückschrecken würde, noch einmal das Kreuz des Krieges freiwillig auf sich zu nehmen. „Guerre à Ia guerre!“ gellt es aus den französischen Reihen über das Leichenfeld wie die Posaune des Gerichtes.
Und das ist Trost für sie, unendlicher Trost, daß sie alle als namenlose Heillande mit ihrer Qual die ganze Zukunft vom Kriege erlösen, daß dies Beispiel alle Generationen für immer ernüchtern wird. Aber nur eine Sekunde lang beruhigt sie dieses Idol. Denn wer, so fragen sie sich, wird dieses unser unermeßliches Leiden der Menschheit schildern, wer weiß es denn? Kein Dichter kann es sich von heimwärts erdenken, und, die Kriegsberichterstatter, die „touristes des tranchées“, die Spazierreisenden des Schützengrabens, auch sie haben nur einen Teil ihres Leidens gesehen und nicht den fürchterlichsten gefühlt: den Zwang, die Dauer, die Unendlichkeit. Wer weiß es, wer kennt es, dies Schicksal des Infanteristen? „Wir! Wir allein!“ antworten die Stimmen. „Wir! Wir allein, die wir es erlebten!“ Aber wie ein Hammer fällt das Bedenken eines auf ihr Herz. „Auch wir nicht, auch wir nicht!“ schreit er auf. „Wir vergessen! Es ist zu viel. Man kann es nicht behalten: Auch wir, auch wir werden unser eigenes Leiden vergessen.“
Wie ein Feuerbrand fährt dieser Gedanke, der fürchterlichste des fürchterlichen Buches, durch sie hin. „Ja, wir vergessen!“ schreit der eine. „Wenn ich nach Hause komme und die eigenen Briefe lese, die ich aus dem Felde geschrieben, so erkenne ich mich, so erinnere ich mich nicht mehr.“ Und ein anderer: „Es ist zu viel, um alles zu behalten. Man vergißt die Dauer dieser Nächte, die Qual der Entbehrung, nichts bleibt, als Orte und Namen wie im amtlichen Communiqué.“ O Durchlässigkeit des Gefühls, o Unbeständigkeit des Erinnerns, o Mattigkeit des Gedenkens! Wie Verzweifelte klagen sie sich selber an. „Wir sind „machines à oublier“, Maschinen des Vergessens. Der Mensch ist nur ein Wesen, das ein wenig denkt und viel vergißt.“ Auch sie, die einzigen wahrhaften Zeugen, werden stumm sein, vor dem Tribunal der Menschheit, auch sie nur stammeln können, statt zu sprechen! Als Helden wird man sie schildern, die sie sich als Märtyrer fühlen, als die maßlos schuldlos Leidenden, ihre Taten wird man kennen, die aneifernden, und nicht ihr Leiden, das allein die Generationen der Zukunft erlösen kann. Wozu dann diese Qual, dieses Leid? Verloren ist ihre Hoffnung: „Tout le malheur est perdu!“ Alles Leiden ist -vergeblich, wenn es die Menschheit nicht weiß, wenn niemand es wahrhaft bezeugt.
Dieser Zeuge, diese Stimme zu sein, die das Leiden des Infanteristen, des französischen, für alle Zeiten der Menschheit zur Warnung kündet, hat Henri Barbusse versucht. Wie ein gigantisches Grabdenkmal, gequadert aus Qual, gemörtelt mit Tränen und Blut, ist es über dem Gedächtnis seiner gefallenen Kameraden getürmt, wie ein Fanal der Warnung flammt die erhobene Flamme seiner Leidenschaft in die Zeit hinein. Es wird dauern als Schutzwall gegen die trübe Flut der Gedichte und Traktate der Maulhelden, die eilig aus der Enthobenheit ihrer Stellung eine Erhabenheit des Gefühls gemacht, als Warnung und ewiger Hohn der vorsichtigen Patrioten, die so beredt das große Stahlbad gerühmt und sich selbst gehütet, nur die Fersenspitze darin zu netzen – es wird dauern, weil sein Gefühl aus Erlebnis gestaltet ist und weil dies Gefühl keine Grenzen und Völker mehr kennt, nur seinen heiligen Ursprung: die Menschlichkeit. Inmitten der Kämpfe um Entscheidungen der Kraft und des Besitzes ist es schon ein Sieg, der einzige, der im letzten Sinne zählt: der Sieg des klaren Geistes über den Widersinn der Erscheinung, der Sieg der Wahrheit über die Phrase und ihren erbärmlichen Knecht: das Wort.

