Schlagwortarchiv für: Aussteuerung

N.N. [Felix Kanitz]: Arbeitslos und ausgesteuert (1934)

Genosse Felix Kanitz hielt im Bundes­rat eine Rede, in der er die Not der arbeitslosen Jugend schilderte. Er for­derte die Einstellung der Aussteuerungen für die arbeitslosen jungen Arbeiterinnen und Arbeiter. Wir bringen einen Teil der Rede des Genossen Kanitz:

Es gibt in dem Arbeitslosenversicherungs­gesetz und in der Praxis der Industriellen Bezirkskommissionen eine Reihe von schwerwiegenden Ausnahmebestimmungen, die sich gerade gegen die Jugend richten. Schon bei der ordentlichen Unterstützung ist es so. Sie kann nur dann im Normal­ausmaß von 30 Wochen gewährt werden, wenn der junge Mensch innerhalb der letzten 10 Jahre 7 Jahre voll gearbeitet hat. Ich frage, wie etwa ein Zwanzigjähriger, der ja im besten Fall mit 14 Jahren zu arbeiten beginnen kann, diese 7 Jahre aufbringen soll! Er hätte ja mit 13 Jahren zu arbeiten beginnen müssen! Aber noch schlimmer ist es bei der Notstandsaushilfe. Bis zum 18. Le­bensjahr wird sie in der Zone A, das sind die größeren Städte, durch 82 Wo­chen gewährt, dann wird der Betreffende ausgesteuert. In der Zone B durch 40 Wochen, dann wird er ausgesteuert. In der Zone C durch 20 Wochen, dann wird er ausgesteuert.

Die seelische Entwicklung eines jungen Arbeitslosen ist furchtbar. In der ersten Zeit, wenn er aus seinem Betrieb heraus­kommt, hat er noch Hoffnung, er kriegt noch ein paar Groschen Arbeitslosen­unterstützung, er besucht Kurse, lernt Sprachen, lernt Stenographieren, er arbeitet also an seiner Fortbildung. Aber allmählich kommt das Furchtbarste, die Erschlaffung. Er bringt nicht mehr die Energie auf, etwas zu tun, er sagt sich, es habe ohnehin keinen Zweck. Ich fragte die jungen Menschen bei einer Bespre­chung, wann sie aufstehen, und der eine sagte, um 12 Uhr mittags und der andere um 1 Uhr, der dritte um 11 Uhr. Nicht// aus Faulheit tun sie das, sondern weil sie keine Kohle haben, teils weil sie Nah­rung sparen wollen, teils weil sie über­haupt keine Energie mehr in sich haben; sie ist in dieser jahrelangen Arbeits­losigkeit ertötet worden!

Und dann packt diese jungen Menschen manchmal, wenn sie zu grübeln an­fangen, die furchtbarste Verzweiflung. Es kommt ihnen das furchtbare Unglück zum Bewußtsein, das furchtbare Unrecht, das ihnen geschieht, die da in eine Welt hineingeboren wurden, wo ohne ihr Ver­schulden ihr Leben, dieses einzigartige Phänomen eines Menschenlebens, zertreten wird in nichts und abermals nichts. Sie wissen nicht, wozu sie auf der Welt sind, klagen alle an und können den Schuldigen nicht fassen und gehen durch dieses Leben als gebrochene und aus­gestoßene Menschen!

In: Der jugendliche Arbeiter, Nr. 2/1934, S. 1-2.