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N.N. [Friedrich Austerlitz]: Deutsch oder russisch? (1918)

Die Demokratie die die Voraussetzung des Sozialismus –: das war bis vor einem Jahre die gemeinsame Überzeugung aller Sozialdemokraten der Welt, die Überzeugung, die den Sozialismus vom Anarchismus schied. Im Kampf um das allgemeine und gleiche Wahlrecht ist die Sozialdemokratie entstanden; daß alle Macht im Staate Vertretungskörperschaften übertragen werden müsse, die vom ganzen Volk frei gewählt werden sollen, war die erste Forderung jedes sozialdemokratischen Programms.  Wofür wir gekämpft haben seit einem halben Jahrhundert, das zu verwirklichen ist jetzt in unserer Macht: Die Fürsten sind davongejagt, die Herrscherhäuser beseitigt, die Wahlrechtsprivilegien zertrümmert; wir können jetzt, wenn wir nur wollen, die alte Forderung restlos verwirklichen, alle Macht der vom ganzen Volk gewählten Körperschaft übertragen.

            Aber jetzt, da wir diesem Ziele nahe sind, halten manche unserer Genossen seine Verwirklichung nicht mehr für erstrebenswert. Der demokratischen Selbstregierung des ganzen Volkes, für die sie selbst seit Jahrzehnten gekämpft haben, stellen sie jetzt die „Diktatur des Proletariats“ entgegen. Nicht Vertretungskörper, die aus allgemeinem und gleichem Wahlrecht gewählt werden, sollen das Land regieren, sondern Arbeiter- und Soldatenräte. Es soll nicht allen Staatsbürgern das gleiche politische Recht zustehen, sondern die Arbeiter und die Soldaten allein sollen den Staat beherrschen, die Angehörigen aller anderen Klassen sollen von allen politischen Rechten ausgeschlossen sein.

            Der Gedanke ist zuerst in Rußland aufgetaucht. Die zweite russische Revolution im Oktober 1917 gab die Herrschaft den Arbeiter- und Soldatenräten. Doch dachte man auch damals noch nicht daran, die Räte an die Stelle der aus dem allgemeinen Wahlrecht gewählten Nationalversammlung zu setzen. Erst nach der Oktoberrevolution wurde die Nationalversammlung gewählt und einberufen. Als es sich aber zeigte, daß die Industriearbeiter in dem überwiegend noch bäuerlichen Lande eine Minderheit sind, daß daher über die Mehrheit in der Nationalversammlung die Vertreter der Bauernschaft verfügten, jagten die Bolschewiki die Nationalversammlung auseinander, ohne eine neue Nationalversammlung wählen zu lassen. Jetzt erst tauchte der Gedanke auf, daß das allgemeine Wahlrecht überhaupt nicht geeignet sei, ein sozialistisches Gemeinwesen zu begründen; nur die Diktatur der Arbeiter- und Soldatenräte könne den Übergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaftsordnung herbeiführen.

            Diese Ansicht ist damals schon heftig bekämpft worden; nicht nur in Rußland von den Menschewiki und den Sozialisten-Revolutionären, sondern auch von den sozialdemokratischen Parteien West- und Mitteleuropas. Besonders Kautsky, der bedeutendste und bekannteste Vertreter der Marxschen Schule, hat in seiner lesenswerten Broschüre Die Diktatur des Proletariats die neue Lehre der Bolschewiki heftig bekämpft. Er hat gezeigt, daß der Versuch, die Demokratie durch die Diktatur, die Gleichberechtigung aller durch das Privileg der Arbeiter und Soldaten zu ersetzen, die Alleinherrschaft der Arbeiter durch die politische Entmündigung der Kleinbürger und der Bauern zu begründen, zu nichts anderem führen könne, als zu blutigen Bürgerkriegen, zu endlosen Wirren, innerhalb deren die große Aufgabe des Ausbaues einer sozialistischen Gesellschaftsordnung nicht vollbracht werden könne. Wohl müsste das Proletariat die Herrschaft im Staate zu erringen suchen; aber das könne es nicht gegen die Demokratie, nicht dadurch, daß es das allgemeine Wahlrecht beseitigt, sondern nur dadurch, daß es die Mehrheit der Wähler für sich gewinnt.

            In Rußland freilich hat ein sehr großer Teil der Arbeiterklasse an der Ansicht festgehalten, daß nur die Diktatur der Arbeiter- und Soldatenräte die kapitalistische Gesellschaftsordnung zertrümmern könne. In der Tat ging ja diese Ansicht aus den besonderen russischen Verhältnissen hervor. Da das industrielle Proletariat kaum ein Zehntel der Bevölkerung Rußlands bildet, kann es nicht hoffen, daß das allgemeine und gleiche Wahlrecht ihm die Mehrheit in der Nationalversammlung gibt. Deshalb sind die Bolschewiki Gegner des allgemeinen Wahlrechtes; deshalb haben sie den Grundsatz verfochten, nicht eine aus dem allgemeinen Wahlrecht hervorgegangene Nationalversammlung, sondern die von den Arbeitern und Soldaten gewählten Räte allein sollten den Staat beherrschen. Die Formel „Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten“ ist hervorgegangen aus der wirtschaftlichen Rückständigkeit Rußlands.

            Aber in Rußland entstanden, hat diese Staatsidee bald über die Grenzen hinaus gewirkt. Auch die große deutsche Revolution hat die Macht zunächst in die Hände der Arbeiter- und Soldatenräte gelegt. So tauchte auch in Deutschland die Frage auf: Soll die Staatsgewalt in den Händen der Räte bleiben oder soll die von den Räten ernannte Regierung die Wahl einer Nationalversammlung ausschreiben, damit das ganze deutsche Volk durch allgemeines und gleiches Wahlrecht seine künftige Regierung einsetze? Deutschland steht also heute vor derselben Frage, vor der vor einem Jahr Rußland stand. Aber es hat diese Frage unter ganz anderen Voraussetzungen zu beantworten.

            In Deutschland ist das Proletariat nicht wie in Rußland eine kleine Minderheit, sondern die große Mehrheit der Bevölkerung. Die russischen Arbeiter können bei allgemeinem und gleichem Wahlrecht die Mehrheit in der Nationalversammlung nicht erringen; die deutschen Arbeiter brauchen nur einig zu sein, um die Mehrheit in der Nationalversammlung zu erobern! Nur Kleinmütige, die der deutschen Arbeiterklassen nicht die Fähigkeit zutrauen, ihr eigenes Interesse zu erkennen, können glauben, daß das deutsche Proletariat sein Schicksal dem allgemeinen Wahlrecht nicht anvertrauen könne. Wer zu der Einsicht des deutschen Proletariats Vertrauen hat, darf darauf rechnen, daß das deutsche Proletariat auf der Grundlage des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes unschwer die Mehrheit in der Nationalversammlung erobern wird. Die Herrschaft des Sozialismus in Deutschland wird ungleich gefestigter sein, wenn sie sich auf eine vom ganzen Volke gewählte Nationalversammlung stützt, als wenn sie einen großen Teil des deutschen Volkes aller politischen Rechte beraubt; denn nur das gleiche Recht aller, nicht das Privileg einer Klasse kann eine feste und gesicherte Regierungsform begründen.

            Der Versuch einer Sowjetdikatur hätte in Deutschland zunächst wohl dieselben Wirkungen wie in Rußland: er würde den offenen Bürgerkrieg herbeiführen und dadurch das ganze Wirtschaftsleben zerrütten und die Gefahr der Einmengung des Entente-Imperialismus in Deutschlands innere Verhältnisse vergrößern. Ein so gefährliches Experiment wäre begreiflich, wenn es für Deutschlands Arbeiterklasse keinen anderen Weg gäbe, sich von der Kapitalsherrschaft zu befreien. Aber so ist es nicht. In dem russischen Agrarland mag das Proletariat nur durch die Diktatur die Macht festhalten können; in dem deutschen Industriestaat kann das Proletariat durch die Demokratie die Herrschaft erringen. Das deutsche Proletariat hat nicht russische Beispiele ungeprüft zu übernehmen; es hat nach seinen besonderen deutschen Kampfbedingungen seine Waffen zu wählen.

            Die Konferenz der Bundesstaaten hat beschlossen, eine konstituierende Nationalversammlung wählen zu lassen und die Vorbereitungen zur Wahl möglichst zu beschleunigen. Damit ist die grundsätzliche Entscheidung gegen die Diktatur, für die Demokratie gefallen; auch in Deutschland soll das Volk durch die Wahl der Nationalversammlung entscheiden, ob es eine Geldsackrepublik oder eine sozialistische Republik haben will. Gelingt es den deutschen Arbeitern allen inneren Zwist zu überwinden und ihre ganze Kraft gegen die Bourgeoisie zu sammeln, dann wird die deutsche Republik das erste wirklich sozialistische Gemeinwesen der Welt sein. Und der Sieg des deutschen Proletariats wird auch unser Sieg sein. Denn auch Deutschösterreich wird ein Teil des sozialistischen Deutschland von morgen sein.

In: Arbeiter-Zeitung, 27.11.1918, S. 1.