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Oskar Ewald: Kulturperspektiven (1921)

Zu den am meisten gelesenen neuesten Büchern in deutscher Sprache gehört das Reisetagebuch eines Philosophen, dessen Verfasser Hermann Keyserling ist. Neben Spenglers Untergang des Abendlandes hat es wohl in Deutschland die stärkste und allgemeinste Wirkung geübt. Aber nicht allein aus diesem äußerlichen Gesichtspunkt des Erfolges werden beide Werke so häufig in Verbindung gebracht; es mangelt auch nicht an inneren Zusammenhängen. Beide stellen große Kulturperspektiven auf. Spengler spricht vorwiegend als theoretischer Geschichtsphilosoph, dem es freilich auch nicht an Phantasie und Intuition mangelt; Keyserling spricht in seinem Reisetagebuch aus unmittelbarer Anschauung. Keyserling, ein baltischer Graf, in dessen Familie einst Kant eine Hauslehrerstelle versehen hatte, ist in der philosophischen Literatur keine neue Erscheinung. Eine Reihe interessanter, wenn auch in vielen Punkte anfechtbarer Schriften ist bereits aus seiner Feder hervorgegangen. So: Das Gefüge der Welt, Unsterblichkeit, Schopenhauer als Verbilder, Prolegomena zu einer Naturphilosophie. Scheinbar hat sich Keyserling erst in seinem letzten Werk so recht gefunden. Auf der ersten Seite des zweibändigen Werkes lesen wir als Motto das geistreiche Paradoxon: „Der kürzeste Weg zu sich selber führt um die Welt herum.“ Sehr schön erzählt der Verfasser im ersten Kapitel, was ihn zu der Weltreise veranlaßt hat, deren Haupteindrücke er in tagebuchartigen Aufzeichnungen festhält.

„Seitdem ich erwachsen bin, bedeuten Eindrücke als solche mir wohl nichts mehr; mein Geist gewinnt nicht mehr durch bloße Stoffaufnahme. Dafür reagiert er jetzt als Ganzes verschieden, je nach den Umständen, innerhalb deren er sich befindet, und dieses Verschiedenwerden erschließt mir Seiten der Wirklichkeit, zu denen mir früher jeder Zugang fehlte. Dem Unwandelbaren kann die Welt, seitdem er erwachsen, allerdings nichts nützen. Je mehr der sieht, erlebt, erfährt, desto oberflächlicher wird er, weil er mit Organen, die bloß auf einen Ausschnitt der Wirklichkeit zugeschnitten sind, nun vielen gerecht werden will und so notwendig falsche Eindrücke gewinnt; dem ist es besser, er bleibt in seiner Sphäre. Der Plastische hingegen, den jedes neue Milieu, dessen Eigenart entsprechend, verwandelt, kann nimmer genug erleben, denn er geht aus jeder Metamorphose vertieft hervor. – So trete ich denn eine Weltreise an. Europa fördert mich nicht mehr. Zu vertraut ist mir schon diese Welt, um meine Seele zu neuen Gestaltungen zu zwingen. Und dann ist sie auch zu beschränkt. Ganz Europa ist wesentlich eines Geistes. Ich will in Breiten hinaus, wo mein Leben ganz anders werden muß, um zu bestehen, wo das Verständnis eine radikale Erneuerung der Begriffsmittel verlangt, wo ich möglichst viel von dem vergessen muß, was ich ehedem wußte und war. Ich will das Klima der Tropen, die indische Bewußtseinslage, die chinesische Daseinsform und viele andere Momente, die ich gar nicht vorausberechnen kann, umschichtig auf mich einwirken lassen und zusehen, was aus mir wird.“

Es muß gesagt werden, daß die Erwartungen, die diese Sätze wecken, in dem Inhalt des Buches größtenteils ihre Erfüllung finden. Keyserling besitzt eine außerordentliche Gabe der Einführung, er besitzt jene Mischung künstlerischer Anschauung und philosophischer Reflexion, die ihn befähigt, vieles und verschiedenartiges zu erleben und sich zugleich über das Erlebnis Rechenschaft zu geben. Es ist staunenswert, wie er sich in die uns so fernen und fremden Atmosphären des Orients, Indiens und Chinas hineinzuversetzen vermag. Diese Begabung ist nicht völlig einwandfrei; man kann sich zuweilen des Eindrucks nicht erwehren, als entgleite einem in diesen unaufhörlichen Verwandlungen alles Feste und Allgemeingültige; als sei die Fähigkeit, so viele Milieus zu verstehen, so viele Kostüme zu wechseln, mit dem Preise einer einheitlichen, in sich gegründeten Persönlichkeit bezahlt. Gleichwohl ginge man fehlt, wenn man in dem Verfasser lediglich einen differenzierten Stimmungsmenschen, einen genialen Impressionisten sehen wollte. Er ist ein wirklich universaler Mensch, der um den Kern seines Wesens eine Mannigfaltigkeit von Lebensgeschichten zu bauen weiß, an denen alle mögliche Kulturen und Weltansichten ihren Anteil haben. Im Grunde aber bleibt er sich und seiner Welt treu. Vor dem Durchschnitt philosophischer Systembildner, in deren Spuren zu treten er verzichtet, hat er vieles voraus: vor allem das Vermögen, hinter die Systeme zu blicken, die Gesetze ihrer Bildung zu erforschen. Er weiß, daß der menschliche Geist ebenso wie die Natur zu reich ist, um sich auf eine Form, auf eine Methode des Denkens und Lebens festlegen zu können. Und er findet im Orient, zumal in Indien, eine Mannigfaltigkeit von Anschauungen, die bloß dem einseitigen Theoretiker widerspruchsvoll erscheinen, in Wahrheit aber jener tropischen Fülle der Natur entspringen, die sich im Innern wie im Äußern, in der Vegetation wie im Gedanken kundgibt. Daher die Toleranz, mit der die Inder selbst die verschiedenartigen religiösen und philosophischen Standpunkte gelten lassen. Sie sehen darin bloß Ausdrucksmittel oder Symbole, und was hat es für einen Sinn, sich dem Unergründlichen gegenüber an ein einziges Symbol zu binden? Wir sind im Abendland noch recht weit von dieser Weisheit entfernt; es hat Jahrhunderte gedauert, bevor sich die Idee der Duldung hier durchsetzen konnte. Man könnte sagen, daß Keyserlings Reisetagebuch ein wertvoller Beitrag zu der Literatur der Aufklärung ist, die auch heute noch keineswegs abgeschlossen ist; umsoweniger, als der Weltkrieg einen furchtbaren Rückfall in die Finsternis früherer Zeiten bedeutete. Hat doch in ihm die Unduldsamkeit, der mangelnde Sinn für fremde Art und Ausprägung einen Höherpunkt erreicht! Um so bedeutungsvoller erscheint es, daß jetzt Bücher die Öffentlichkeit beherrschen, die diese Enge der Perspektiven sprengen und ganz ins Weite einer Universalkultur streben. Spengler und Keyserling sind bei aller sonstigen Verschiedenheit hierin einig. Beiden erscheint die Kultur des Abendlandes nicht als die Kultur schlechtweg, sondern als eine mögliche Form neben anderen Möglichkeiten. Der Eigendünkel des Europäers erhält von ihnen eine gründliche Zurechtweisung und seine angemaßte Stellung im Mittelpunkt der Welt wird durch die Tiefe und Unerschöpflichkeit des Orients widerlegt. Wir können darin wohl ein Zeichen der Zeit erblicken. Hoffentlich ist dergestalt wenigstens in den Kreisen der Ernstzunehmenden endgültig nun jene Stimmung überwunden, die so intensiv den Krieg gefördert hat und einen besonders wirksamen Ausdruck in Chamberlains weitverbreiteten Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts erhält, einem Buch, das bekanntlich die geistige Produktivität als alleiniges Rassemerkmal der Indogermanen hinstellt. Bezeichnend genug hat der Verfasser in seinen Kriegsschriften diese Theorie noch mehr verengt und allen höheren Wert der deutschen Nation vorbehalten. Keyserling, der ursprünglich von Chamberlain ausging, ist weit über ihn hinausgewachsen; man kann sagen, daß er dessen Wegrichtung geradezu umgekehrt hat. Er besitzt viel mehr vom alten Klassizissmus nd bleibt der echten, ungefälschten deutschen Bestimmung, sich verstehend in fremde Art einzusenken, treu. Der mit der modernen Geistesgeschichte einigermaßen Vertraute weiß, wie innig sich hier auf Schritt und Tritt Eigenes mit Fremden verbindet. Seit der Renaissance bilden französische, italienische, englische und deutsche Kultur mehr und mehr ein untrennbares Ganzes, dem sich nunmehr auch der skandinavische und slavische Geist einzuschmelzen beginnt. Weniger bekannt ist der Anteil, den Ostasien besitzt. Längst, ehe die chinesischen und japanischen Malereien das Auge der europäischen Impressionisten entzückten – schon vom siebzehnten Jahrhundert an – waren Jesuitenmissionen im Fernorient tätig und lernten dort die gewaltigen Werke Laotses und Konfutses kennen. Ihre Berichte erregten in Europa viel Aufsehen und gewannen einen starken Einfluß auf die großen Schriftsteller der Aufklärung, zumal auf Montesquieu und Voltaire, in deren Werken wir zahlreichen Hinweisen auf chinesische Verhältnisse und Einrichtungen begegnen. Ein moderner, in England herangebildeter Chinese, Ku-Hung-Marg, hat in einer anregenden Schrifte Chinas Verteidigung gegenüber europäischen Ideen diesen Zusammenhang hervorgehoben und erwartet auch für die Zukunft eine wachsende Einflußnahme seiner Nation auf die Westkulturen. Er meint, daß die europäischen Versuche, in China Fuß zu fassen, zu diesem entgegengesetzten geistigen Ergebnis führen würden. Dies ist sicherlich einseitig geschaut, aber der Wahrheitsgehalt ist nicht in Abrede zu stellen. Die Harmonie zwischen dem äußeren und dem inneren Menschen ist im fernen Orient besser verwirklicht als bei uns, weil der Pflege des Lebens dort eine größere Sorgfalt zugewendet wird. Hieraus ergibt sich ein besseres Gleichgewicht von Zivilisation und Kultur. So ist es begreiflich, daß in Zeiten allgemeinen Zusammenbruchs wir nach diesen so wesentlich anders gearteten Menschen und Lebensformen als nach neuen Vorbildern ausschauen. Das endgültige Resultat solcher Ausgleiche und Verbindungen läßt sich nicht annähernd vorausbestimmen; genug, daß sie vollzogen werden. Es besteht keine Gefahr, daß irgend eine Eigenart zu kurz komme. Es ist vielleicht nicht so sehr ein Sieg der Weißen über die Gelben oder umgekehrt zu befürchten, aber ein Sieg der Menschheitsidee, die bisher hinter jeder großen Leistung stand, zu hoffen.

In: Arbeiter-Zeitung, 27.3.1921, S. 10.

N.N.: „Brülle China“. Neues Wiener Schauspielhaus.

             In der dumpfen schwülen Wüste des völlig geistlosen, bürgerlichen Wiener Theaters eine kleine Oase. Sie sticht umsomehr von der Umgebung ab. Sie kommt für die Arbeiterschaft gerade dieser Stadt umso überraschender und kann deshalb mit umso größerer Freude begrüßt werden, weil das Theater in Wien überhaupt aufgehört hat, auf die Arbeiterschaft, die zu neunzig Prozent die Bevölkerung Wiens bildet, irgendwie Rücksicht zu nehmen. In keiner anderen Stadt z. B. Deutschlands wäre es möglich, daß ein solcher Kurs in den Theatern eingeschlagen wird wie in Wien, wo nahezu sämtliche Theater völlig abhängig sind von der Sozialdemokratischen Kunststelle und der sozialdemokratischen Gemeindeverwaltung. Darüber wird noch zu sprechen sein.

             Aktuelles Theater. Ein Ausschnitt aus den Kämpfen, den brennendsten Kämpfen der Gegenwart. Das bedeutendste Ereignis des gegenwärtigen Weltgeschehens: der Befreiungskampf der unterdrückten Kolonialsklaven, die Flammenzeichen gegen die imperialistischen Unterdrücker. Ein Russe, Genosse Tretjakow, hat ein bewußtes Tendenzstück geschrieben, das von Meyerhold in einer Weise inszeniert wurde, die in der ganzen Welt Beifall und Aufsehen erregte. Beide, Tretjakow und Meyerhold, haben damit neuerlich den Beweis geliefert, daß ein wirkliches Kunstwerk, das imstande ist, die Massen zu erfassen und mitzureißen, nur entstehen kann aus dem kämpfenden Leben bei eindeutiger und klarer Stellungnahme. Das ist verpönte „Tendenz“, die das Bürgertum und mit ihm auch die Sozialdemokratie aufs tiefste haßt und ablehnt.

             Die Handlung, die der Wirklichkeit entnommen wurde: Ein amerikanischer Kaufmann kürzt den Kulis, die ihn Lasten schleppen, den kärglichen Hungerlohn. Er beginnt auch mit dem Schiffer, der ihn auf einem kleinen Boot vom englischen Kriegsschiff an Land bringt, Streit wegen des Fuhrlohns, versucht dem Chinesen das Ruder zu entreißen, um ihn damit zu schlagen. Er kommt aber dabei selbst zu Fall, stürzt, fällt über Bord und ertrinkt. Viele Zeugen haben vom Ufer aus den Vorfall beobachtet, auch die Offiziere. Dennoch verlangt der Kommandant des „Kanonenboots Seiner Majestät des Königs von England“ von der Stadt Wanshien Sühne für den „Mord“. Entweder sofortige Hinrichtung des Schiffers, in dessen Kahn der Kaufmann fuhr oder – da dieser von den Schiffern versteckt wird – Hinrichtung von zwei Mitgliedern der Schiffergilde. Falls diese Forderung bis zum nächsten Tag nicht erfüllt ist, wird die Stadt bombardiert. Der englische Journalist drahtet an die Weltpresse: „Schamlose Ueberfälle von Chinesen auf Europäer, drei Kaufleute ermordet, als Auftakt zu weiteren Morden.“ Ein Telegramm der chinesischen Behörden wird nicht befördert. Die Chinesen sagen: „Auch ein englischer Kapitän muß sich in seinen Forderungen mäßigen, wir werden uns beim sozialistischen Ministerpräsidenten von England beschweren“. „Ich kenne keinen solchen“, antwortet der Kapitän, „ich kenne nur einen Ministerpräsidenten Seiner Majestät, des Königs von England.“

             Die Masse der verhungernden Kulis, die um sich vor dem Hungertod zu retten, ihre Kinder und Frauen für ein paar armselige Münzen an Europäer verkaufen, beginnt zu rebellieren. Noch kennen sie nicht den Grund ihrer Unterdrückung, noch haben sie kein Klassenbewußtsein. Allmählich – und das bringen Autor und Regisseur meisterhaft zum Ausdruck – dringt die Erkenntnis durch, daß die Kulis ganz Chinas zusammenstehen und kämpfen müssen gegen die Unterdrücker. Die Kulis fragen nach Recht. „Für euch gibt es keins“, antwortet einer aus ihrer Mitte, „ihr werdet getreten, geschunden, geköpft, euch nimmt man euer Land, weil ihr arm seid.“ Die Chinesen gehen nochmals aufs Kanonenboot, um den Kapitän zu bitten, von dem Mord an den Schiffern abzulassen. Der chinesische Bürgermeister erniedrigt sich vor dem englischen Offizier, kniet vor ihm nieder. Aber je mehr sich die Chinesen erniedrigen, desto frecher werden die Bedrücker. (So ist es nicht nur in China!) Zwei Schiffer werden ausgelost, um dem imperialistischen Blutsauger als Opfer vorgeworfen zu werden. Die ganze Stadt würde sonst in wenigen Stunden in Flammen stehen. Ein Kuli stirbt für den andern! Das Klassenbewußtsein beginnt, feste Formen anzunehmen. „Sag mir einen von jenen, die sich gegen die Ausbeuter auflehnen und sie zusammenschlagen, sag mir einen, ich will mittun.“ Der andere Kuli, ein Wissenderer, antwortet: „Du, ich, er, wir alle!“

             Die beiden Schiffer werden zur Richtbank geschleppt, der Kapitän ist unerbittlich. „Hier stehe ich und keine Macht der Welt kann mich zwingen, diesen Platz zu verlassen.“ Es fehlt nicht der Millionär, der den Mord mitvorbereitet hat und nun Krokodilstränen vergißt, von den Chinesen aber schroff abgewiesen wird, es fehlt nicht die Wohltätigkeitsdame, die verspricht, den kleinen Sohn des ermordeten Schiffers in ein Waisenhaus zu bringen.

             Das Programm des Kapitäns ist erfüllt. Stolz und auf die Chinesen zynisch herabblickend, will er sich entfernen. Aber da geht auch die Geduld der Kulis zu Ende, der Sturm bricht los und unter den derben Fäusten der Proleten bricht der „Offizier Seiner Majestät, des Königs von England“ und Seiner Exzellenz, des sozialistischen Ministerpräsidenten Macdonald tot zusammen. Schon krachen auch die Salven vom Kanonenboot gegen die Stadt Wanshien, aber die Kulis sind zu einer eisernen Masse zusammengeschweißt, vorwärts, aufwärts geht es unter der Fahne Sunyaisens. Aufschreien die Kulis: „Brülle, China!“

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             Der Originaltext wurde an einigen Stellen geändert. So wurden alle Hinweise auf die Sowjetunion, die die Kulis im Kampfe gegen die imperialistischen Unterdrücker unterstützt und wegweisend voranschreitet, gestrichen. Der revolutionären Kraft des Stückes konnte aber dadurch nicht Abbruch getan werden.

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             So wirksam wie das Stück selbst ist die Regie Fritz Peter Buchs, die für Wien eine wahre Revolution bedeuten könnte, wenn wir nicht wüßten, daß nach dieser kleinen Oase wieder endlose schwüle geisttötende Wüste kommt. Auch die Darstellung steht durchaus auf dem gleichen künstlerischen Niveau.

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             Die Wiener Arbeiter haben es sich im Lauf der Jahre abgewöhnt, ins Theater zu gehen und so ist es nicht weiter verwunderlich, daß die proletarischen Massen dieser Stadt nur sehr spärlich ins Schauspielhaus strömen. Bezeichnend für die sozialdemokratische Kunststelle ist es, daß sie wohl Operettentheater und Bühnen, die allen erdenklichen Mist und Schund aufführen, füllt, bisher aber nicht die Massen auf das wirklich revolutionär-proletarische Stück „Brülle, China!“ aufmerksam machte.

             Es ist zu hoffen, daß die Direktion des Schauspielhauses, die in Tretjakows Stück nichts als ein Kunstwerk sieht und glaubte, damit gute Geschäfte zu machen, auch den revolutionären Arbeiterorganisationen den Besuch von „Brülle, China!“ durch Abgabe von ermäßigten Karten ermöglicht. Kein Arbeiter soll die Möglichkeit, einmal in einem Wiener Theater ein aktuelles revolutionäres Stück, geschrieben von einem russischen Genossen, zu sehen, ungenützt vorübergehen lassen.

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             Die gesamte bürgerliche Presse brüllt auf. Skandal! Bolschewisierung des Theaters! Verbieten! – Wir erwähnen das als Bestätigung der Richtigkeit des von uns vorher Gesagten.

In: Die Rote Fahne, 7. Mai 1930, S. 5. Weitere Aufführungsdebatten finden Sie hier.

Oskar Maurus Fontana: Brülle China! Neues Wiener Schauspielhaus

             Unterdrückung und Befreiung sind die zwei starken Akzente dieses Schauspiels von S. Tretjakow (deutsch von Leo Lania). China ist unterdrückt, ist ausgebeutet von den weißen Männern, die die großen Schiffe und das viele Geld haben. Ein Beispiel dafür erzählt in neun Szenen Tretjakow. Ein englisches Kanonenboot und ein amerikanischer Händler liegen vor der Stadt Wanshien. Geschäfte werden gemacht, Löhne gedrückt. Die Kanonen schauen wie unbeteiligt zu. Wie sehr sie aber beteiligt sind, zeigt sich sofort, als der Amerikaner bei einer Rauferei mit einem Chinesen zugrunde geht. Nun drohen die Kanonen offenen Mord, nun sprechen sie die Sprache der Unterdrückung. Die Stadt und China mit ihr werden rücksichtslos gedemütigt. Der Schuldige ist nicht gefunden worden, also müssen zwei Unschuldige als Sühne sterben.  Alles Flehen hilft nichts, die Kanonen sind aus Erz, sie hören nichts. Die zwei Unschuldigen werden angesichts der ganzen Stadt gehängt. Stumm und leidend hat sie es geduldet. Bis plötzlich die Not der Unterdrückung die Dämme der Angst bricht, bis das Volk der Stadt Wanshien aufsteht, den englischen Kapitän niedermacht und auch dem Bombardement des Kanonenbootes mit der aufgerollten, flatternden Fahne der Kuomintang den unbrechbaren Trotz der Befreiten gegenübersetzt: Brülle China, brülle gegen die Knechtschaft, brülle gegen die Kanonen, die den Nutzen des Händlers sichern!

             Das Stoffliche des Stückes ist seine Stärke. Das Panorama einer Kolonialwelt, das da entrollt wird, regt auf, so sehr seine Zeichnung im einzelnen primitiv und grob sein mag. Menschliche Not und Überwindung menschlicher Not (und geschehe sie auch nur auf dem Theater) rufen seit je am stärksten die Herzen und Geister der Menschen an und damit die Dichter und ihre Gefolgschaft. Denn, darüber darf man sich trotz der alarmierenden Wirkung dieser Szenen keiner Täuschung hingeben, Tretjakow gehört nur zur Gefolgschaft der Dichter, nicht zu ihnen selbst. Sein Schauspielverhält sich zu einer Dichtung wie ein Plakat zu einem Ölgemälde. Tretjakows Schwarzweißtechnik – tieferes Schwarz für die Herren, strahlendes Weiß für die Unterdrückten – genügt für ein wirksames Gegeneinanderausspielen wirkender irdischer Kräfte, aber nicht für die Gestaltung von Menschen, für die innere Erhellung von Situationen. Tretjakows Schauspiel, in einer bereiten Welt entstanden, lebt dennoch, wie die unendlich gültigeren, unendlich reicheren „Weber“ nur von der Trotzmelodie einer unterdrückten Welt: „Ihr fesselt der Armen Hab und Gut und Fluch wird euch zum Lohne!“ Tretjakows Schauspiel kommt darum als künstlerisches und auch revolutionäres Dokument nicht über die Wiederholung hinaus. Das Neue, das es gibt, ist das Stoffliche, ist eine Ahnung der Welt Chinas, ist ein fernes Grollen der Tragödie des chinesischen Volkes.

             Aus diesen Möglichkeiten schlägt die Regie Fritz Peter Buchs Funken. Er gibt ein leidenschaftlich bewegtes Theater im Anschwellen, Abbeben und Wieder-Hochfluten der Massen. Er findet für die Feierstimmung im Schatten der Kanonen auf dem Kriegsschiff spitze Töne der Satire wie er der Verzweiflung der Chinesen den leisen Schmerz und den brüllenden Ausbruch zu geben weiß. Eine starke Regieleistung. Auch dort, wo sie Elemente der Inszenierungen Piscators und Eisensteins (Potiomkin) übernimmt, tritt sie nicht auf dem gleichen Fleck, sucht sie Anregungen weiter zu entwickeln. Daß Buch kein Nachahmer des Szenenaufbaus ist, merkt man an seiner Arbeit – am Schauspieler besonders deutlich. Hier ist nichts verwischt oder beiläufig, hier ist jede Type zu einem lebendigen Ausdruck gebracht.

             Wie ausgezeichnet Josef Zechell als chinesischer Student, geduckt aufbegehrend, wie voll fremder Würde der Dauyin des Herrn Rothauser, welche dunkle Klage ist in Anna Feldhammers Worte gebannt, was für leidende Menschen sind die alten Schiffer der Herren Weiß, Kalwoda, Lipschütz, welche Weißglut der Empörung in Jakob Feldhammers Kuli, welcher Trotz in Kurt Liecks Aufschrei gegen die Kanonen, wie stark und gar nicht theatralisch der Kapitän des Herrn Koch, wie gut ist die exakte, militärisch sachliche Besatzung des Kriegsschiffs von den plaudernden ahnungslosen weißen Zivilisten unterschieden, wie ergreifend mit ein paar Sätzen und Bewegungen der arme Chinesenboy der Elisabeth Eschbaum. Das alles ist starkes Theater und eine Bereicherung des Wiener Theaters.

             Ist es Bolschewistentheater – wie die Hetze höhnt? Nun, dann auch „Die Räuber“ mit ihrem Ruf „In Tyrannos“ als Bolschewikentheater ausgegeben werden. Daß es Revolutionen gegeben hat und geben wird, soll das auf dem Theater verschwiegen werden? Nicht Blindheit und die Torheit der sich Blindstellenden arbeiten den Revolutionen entgegen, sondern nur Erkenntnis und der Mut zur Erkenntnis.

In: Der Tag, 4.5.1930, S. 18. Weitere Aufführungsdebatten finden Sie hier.