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Karl Tschuppik: Goethe, ein Zwischenfall ohne Folgen (1932)

Es wird heute und morgen nicht an tausenden Versuchen fehlen, die sich darum bemühen, das Bild Goethes zu dem Bilde der deutschen Gegenwart in eine praktisch-politische Be­ziehung zu setzen. So grob dies Beginnen scheinen und jeden zarteren ästhetischen Sinn verletzen mag, so darf es doch fordern, ver­standen und als Zeichen einer allgemeinen Not und vielleicht auch Scham erkannt zu werden. Wie anders könnte sich auch die um­fassendere Anteilnahme an dem Gedenken ausdrücken, als durch ein Verlangen, welches in die Frage mündet, ob es eine Berührung mit dem Geiste Goethes gibt und wie weit sie reicht?

Als vor dreiundachtzig Jahren die hundertste Wiederkehr des Geburtstages Goethes den deutschen Kalender schmückte, ging dieses Datum an der Nation fast spurlos vorüber; es versank in der Grabesstille der Gegenrevolution, die eben mit dem Versuche der Europäisierung des deutschen Bodens er­barmungslos aufgeräumt hatte. Der hundertundfünfzigste Geburtstag fiel in eines der üppigen Jahre des wilhelminischen Zeitalters. Es war ein Fest der Würden, bei dem der Optimismus der neudeutschen Reichsherrlichkeit Goethes Büste bekränzte. Es war eine Huldigung vor der deutschen Bibliothek, der man den Gruß nicht verweigerte, die aber als Requisit aus Kindheitstagen in dem Glanz der Gegenwart entbehrlich schien. Die angstvolle Ahnung, daß der Mißbrauch des Erfolges nach 1871 die Absage an den deutschen Geist zur Folge haben werde, hatte sich erfüllt. Dem Gebildeten genügte es, Goethe als Besitz zu empfinden; er suchte das Kleine und Alltägliche aus dessen Leben, um seiner eigenen Kleinheit und Alltäglichkeit eine Weihe zu geben, er verniedlichte ihn und paßte ihn dem eigenen Behagen an, womit er meinte, den Sinn der Goetheschen Har­monie gefunden zu haben.

Es wäre nicht das schlechteste an dieser Zeit, wenn Goethes Todestag den Anreiz dazu gäbe, die Frage nach seiner Geltung in der deutschen Gegenwart ohne Selbstbelügung zu beantworten. Jede solche Betrachtung // wird von einem Gedanken ausgehen müssen, den am besten Nietzsche in Worte gefaßt hat, als er den Begriff „deutscher Klassiker“ auf dessen Lebendigkeit prüfte. Ihm schien es, daß die deutsche literarische Begabung nur dreißig Jahre tot zu sein und als erlaubte Beute öffentlich dazuliegen brauche, um unversehens plötzlich als Klassiker die Trompete der Auferstehung zu hören. Er sah in dieser Totenverklärung das eigentliche Begräbnis, gestand aber den Deutschen zu, daß sie, ohne sich dessen schämen zu müssen, von den sechs großen Stammvätern ihrer Literatur fünf als veraltet ansehen dürfen: Klopstock, der schon bei Lebzeiten auf ehrwürdige Weise ver­altete; Herder, der das Unglück hatte, daß seine Schriften immer entweder neu oder veraltet waren; Wieland, der als kluger Kopf dem Schwinden seiner Geltung durch den Tod zuvorkam; Lessing, der vielleicht noch unter jungen und immer jüngeren Gelehrten lebt; und Schiller, der aus den Händen der Jünglinge in die der Knaben geraten ist. Nietzsche schreibt es gewissen Tugenden zu und er hat darin vor den philologischen Schönfärbereien recht! —, daß diese Fünf in der Gunst zurückgedrängt worden sind: das bessere Wissen und die größere Achtung vor dem Wirklichen, also Tugenden, welche gerade durch diese Fünf erst wieder in Deutschland angepflanzt wurden, haben auch zu deren Vergessen beigetragen; sie stehen als hoher Wald über den Gräbern der Fünf und breiten neben dem Schatten der Ehrfurcht auch etwas vom Schatten der Vergessenheit darüber.

Nur von Goethe sieht er ab, nur ihn nimmt Nietzsche aus; Goethe gehöre, so sagt er, in eine höhere Gattung von Literaturen, als „National-Literaturen“ sind: deshalb steht er auch zu seiner Nation weder im Verhältnis des Lebens, noch des Neuseins, noch des Veraltens. Nur für wenige hat er gelebt und lebt er noch: für die meisten ist er nichts, als eine Fanfare der Eitelkeit, die man von Zeit zu Zeit über die deutsche Grenze hinüber bläst. Goethe ist, so faßt Nietzsche sein Urteil zusammen, in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen.

Das ist die Wahrheit, die kein Ännäherungsbedürfnis zu trüben vermag. Wer wäre auch imstande, in der deutschen Politik der letzten hundert Jahre ein Stück Goethe aufzuzeigen; wem gelänge es, in der Gestaltung des deut­schen Lebens dieser Zeit einen Hauch Goetheschen Geistes aufzuspüren? Bei solchem Be­mühen wird jede Kunst, jede Deutung ver­sagen. Es genügt, sich das Bild der deutschen Geschichte vor Augen zu halten, um zu ver­stehen, daß Goethes Haus abseits von jenem Wege stand, den sein Volk zu gehen gezwun­gen war. Als der junge Goethe in seiner Hei­matstadt das altfränkische Schaugepräge der Kaiserkrönung schaute, war die Herrlichkeit des alten Reichs eine farbenreiche Täuschung, hinter der sich die nackte Tatsache verbarg, daß die Deutschen seit dem Westfälischen Frieden aus dem Wettkampf der großen Mächte aus­geschieden waren. Noch immer empfing der kaiserliche Oberlehnsherr die Huldigung seiner knienden Untertanen und übte die Gerichts­barkeit durch seinen Reichshofrat; noch immer schwenkte der Herold bei der Krönung das Kaiserschwert nach allen vier Winden, als ge­horche die Christenheit dem Befehl des Doppel­adlers; noch sprach das Reichsrecht mit feier­lichem Ernst von den Lehen des Reichs, die auf den Felsterrassen von Genua und in Toscana lagen. Die ganze zeremonielle Herr­lichkeit des deutschen Kaisertums war aber, wie es Treitschke sagt, ein Mummenschanz, ebenso lächerlich, wie das Schwert Karls des Großen, das den böhmischen Löwen auf der Klinge trug. Es gab keinen deutschen Staat, es gab keine deutsche Nation. Das Reich be­stand aus einer Unzahl souveräner Landes­obrigkeiten, Königen, Fürsten, Reichsrittern, Grafen, Bischöfen und kleinen Stadtrepubliken, aus einem Chaos von Widersprüchen, in welchem jede Institution des Reichs ihren Sinn, jedes Recht seine Sicherheit verloren hatten. Außerhalb des Reichs, auf dem Bo­den eroberten Slawenlands, wuchs die neue Macht Brandenburg-Hohenzollern.

Es gibt eine borussische Literatur-Legende, die sich auf eine beiläufige Bemerkung Goethes beruft, wonach die deutsche Dichtung ihren ersten und wesentlichen Auftrieb von Friedrich dem Großen und den Schlachten des Sieben­jährigen Krieges empfangen habe. Es ist müßig, darüber zu streiten, wie Goethe jene berühmt gewordene Stelle gemeint hat. Da Friedrich die deutsche Literatur verachtet und auch Goethe nicht mit abfälligem Urteil verschont hat, bleibt nur die Deutung, daß diese königliche Verachtung sich als ein förderndes Element erwiesen habe. Daran ändert auch Lessings Minna nichts, und gerade die geborenen Preußen, Klopstock, Herder und Winckelmann, suchten je eher, je lieber den Staub der Heimat von sich zu schütteln; Klopstock floh nach Dänemark, Herder nach Rußland, Winckelmann rettete sich nach Sachsen und von dort nach Rom. Nur die Unkenntnis der deutschen Geschichte und die spätere Glori­fizierung Friedrichs haben den Glauben er­zeugt, daß dieses eigenartigen Mannes Taten der Auftakt gewesen seien zu einem sinnvollen Lauf der Preußischen Historie, der in die Siege von 1866 und 1870, endlich in die Grün­dung des Hohenzollernschen Kaiserreiches mün­dete. In Wahrheit war die Schöpfung Fried­richs II. von kurzer Dauer; sie verfiel nach einem Tode und zerbrach völlig auf dem Schlachtfelde von Jena und Auerstädt. Das andere Preußische Heer, das vom Geiste Scharnhorsts und Gneisenaus belebt, vom Mißtrauen des Königs begleitet, später dazu beiträgt, die Macht Frankreichs zu beugen, hat mit der Schöpfung Friedrichs allenfalls die alten Märsche gemein, sonst aber nichts.

Nach der Französischen Revolution bis zu den Befreiungskriegen schreitet eine Gestalt durch die deutsche Welt, die Goethes Blick ganz anders angezogen hat, als Friedrich II.: Napoleon. Goethes Verehrung für Napo­leon, nicht erst vom Tage der Begegnung in Erfurt an, ist eine so unumstößliche, durch Aufzeichnungen und Gespräche belegte Bestimmtheit, daß es vor ihr nur eine Ent­scheidung gibt: sie zu begreifen und zu be­jahen, oder sich entrüstet abzuwenden. Und hier scheiden sich denn auch die Geister. Nicht zwar, als ob auf der einen Seite der Patrio­tismus und seine Geschichtschreibung, auf der andern der dem Westen zugewandte Radika­lismus stünden: hier finden sich Ludwig Börne und der Turnvater Jahn, Humboldt und Ernst Moritz Arndt, Mundt und Menzel auf einer Linie. Hätte Goethe an Napoleon „den größten Verstand gelobt, „denn je die Welt gesehen“, oder ihn „einen der produktivsten Menschen“ genannt, „die je gelebt haben“, es wäre ihm verziehen worden: auch die unpazifistische Gesinnung in dem Gedicht Politika, in dem Gott die Verlesung der Sünden Napo­leons mit den Worten abschneidet:

„Wiederhol’s nicht vor göttlichen Ohren!
Du sprichst wie die deutschen Professoren.
Wir wissen alles, mach‘ es kurz!
Am Jüngsten Tag ist’s nur ein …“

Es war nicht dies und war nicht Goethes Abkehr vor der patriotischen Erhitzung, was Humboldt zu dem Tadel verleitete, „Egois­mus. Kleinmut und zum großen Teil Menschenverachtung“ trügen zu „Goethes Gleich­gültigkeit für alles Deutsche bei“. Goethe trennte von seinem Volke der unbeirrbare Blick in die Wirklichkeit der deutschen Welt. Er sah an Napoleon den „do­minierenden Genius“ und die „Tyrannis wirklicher Kulturforderungen“ bei seinem Volke ein heroisches Bemühen, ohne die Aussicht auf ein wirkliches Ziel. Es ist trotz der eifrigen Pflege und der ansehnlichen Entfal­tung des „historischen Sinns“ bis heute noch nicht geglückt, ein nur halbwegs wahres Bild der deutschen Befreiungskämpfe zu erhalten, ihrer treibenden Kräfte, dem klaren und dem unklaren Wollen, das aus dem Prügelsoldaten von 1806 den freiwillig kämpfenden Land­wehrmann von 1813 gemacht hatte. Es war eine deutsche Revolution. Verwunderlich in ihrem Widerstreit rumorender Gedanken und Gefühle, rührend in der Einfalt und Ver­trauensseligkeit des deutschen Menschen, trostlos am Ende bei dem Betrug, der an den Kämpfern begangen wurde: „die größte Zech­prellerei der Geschichte“. Wie die Reform des preußischen Staates auf halbem Wege steckengeblieben war, so blieb der König alle Ver­sprechungen schuldig, die er in dem Aufruf von Kalisch feierlich gegeben hatte. Goethe war während dieser Zeit in die Geschichte des chinesischen Reiches vertieft.

Ist es ersprießlich weiter zu denken und danach zu fragen, was Goethe hundert Jahre später gesagt, was er getan hätte? Die Ver­ächter der Wirklichkeit haben der deutschen Katastrophe ihre Deutung gegeben. Sie prei­sen die Verschwommenheit des Denkens als heilige „Anti-Ratio“; das höchste Gut, die Vernunft, mißachtend, folgen sie, scheuen Pfer­den gleich, ihrem dunklen Drang. Sie nennen’s „faustisch“. Nicht wissend, daß Goethe diesen Typus noch in der subtilsten Ausgabe gehaßt, und wie die Pest gemieden hat.

Goethes Auge sucht noch immer die Aufhellung Deutschlands.

In: Der Tag, 19.3.1932, S. 1-2.