Felix Salten: Nervenprobe
Wie gern würde nun jedermann seine Gedanken zu anderen Dingen senden und sie dort festhalten. Oder sie sorglos durch den Raum schweifen lassen. Von einer entzückenden Gegend in der Sommersonne zu einem geliebten oder verehrten Menschen; von einem bahnbrechenden Buch zu einem beglückenden Kunstwerk, oder zu einem Musikstück, daraus Seligkeit und Aufschwung strömt. Wie eifrig müht man sich, das Gespräch in andere, weit weg führende Gebiete zu lenken, wo sich weite Ausblicke öffnen, irgendwohin, gleichviel wo. Es wäre wohltätige Beruhigung, wäre notwendiges Labsal. Aber noch geht das nicht. Noch nicht. Die eben erst durchlebten Tage lasten zu schwer auf den Nerven. Was immer man auch versucht, es bleibt unmöglich, etwas anderes zu denken, von etwas anderem zu reden, als von dem Ereignis dieser Tage. Deshalb soll man die vergebliche Mühe auch gar nicht aufwenden. Sich ruhig aussprechen, so ruhig wie eben zulässig, ist doch die einzig wirksame Entspannung. Entspannung aber brauchen wir, weiß Gott, alle miteinander.
Ein starker Eindruck war es, ein stärkender Eindruck zugleich, wie jede Arbeit trotz des heftigen Kampfes ihren ungestörten Fortgang nahm. Alle waren an ihren Stellen. Die Arbeiter in ihren Fabriken und Werkstätten, die Beamten in den Bureaux. Die Lieferung der Lebensmittel wurde nicht gestört. Und – ein Beweis großen Vertrauens – zahlreiche Kaufladen hatten offen, als sei nichts passiert und als könne nichts passieren. Während Anno achtzehn der Novemberumsturz über unser zermürbtes, zerstörtes Vaterland hinfegte, wurde hier an dieser Stelle gesagt: „Partei, das ist die Unfähigkeit, eine rein menschliche Angelegenheit rein und menschlich zu betrachten.“ Die musterhafte Art, in der sich das Volk von Wien jetzt verhalten hat, ist eine rein menschliche Angelegenheit. Angesichts einer hoffentlich bald überwundenen Gegenwart, die sogar die Schulkinder politisieren wollte, so daß sie eine Besinnung und ein Urteil sich zumuteten, bevor sie das Leben überhaupt kannten, angesichts dieser, wie gesagt, hoffentlich bald überwundenen Gegenwart darf man das rein menschliche Verhalten der Wiener wohl einmal rein menschlich würdigen.
Mag auch behauptet werden, die Leute seien alle nur deshalb bei ihrer Arbeit und Pflicht geblieben, weil jeder sich sagte, daß der kleinste Platz, der frei wird, Hunderte von stellungslosen Bewerbern findet, die Anerkennung, die solch einem Ausharren gebührt, kann dadurch nicht gemindert sein. Nerven gehören zu solchem Ausharren. Geduld, sehr viele, sehr gutmütige Geduld muß man haben. Und neben der angenehmen, neben der sympathischen Dosis Leichtsinn doch kluge Einsicht und im Grund verantwortungsbewußten Daseinsernst.
Man erwäge, was die Wiener seit zwanzig Jahren durchgemacht haben. Erwäge ferner, daß Tausende von ihnen vor zwanzig Jahren Kinder waren, Tausende Halbwuchs, daß weitere Tausende vor zwei Dezennien erst zur Welt kamen. Man rechne die Zahl derjenigen dazu, die vor zwanzig Jahren als reife Menschen behaglich ihre Tage genossen haben und seither vom härtesten Existenzkampf ausgehöhlt sind. Dann wird man begreifen, wie unendlich viel diese glänzend überstandene Nervenprobe bedeutet. Das Wiener Volk ist während des ganzen, ungeheuer langen Krieges vom Donner des Krieges verschont geblieben. Die paar Gewehrsalven in der Umsturzzeit erregten heftigste Bestürzung und das Schießen nach dem Brand des Justizpalastes weckte starres Entsetzen.
Was ist das heute, gegen die Vorgänge der letzten Tage? Beinahe gar nichts. Die Ansätze zu Feuergefechten in der sogenannten Revolution sind Ansätze geblieben, mußten Ansätze bleiben, weil die Wiener, zu sanft, zu liebenswürdig, zu mildherzig, keine Neigung für das Tragische zeigen und weil sie damals zu müde, zu verzweifelt waren, um in wildem Jähzorn aufzuschäumen. Der staatsrechtliche Umsturz vollzog sich in Wahrheit, ohne daß es notwendig gewesen wäre, daß die Gewehre knallten. Dieser Umsturz geschah durch Zwang von außen her, durch die Konjunktur, die ihnen gegeben und die von der tiefen Entmutigung der bis dahin Regierenden gefördert wurde. Der Brand des Justizpalastes mit seinen Todesopfern stellt sich schon längst als das ebenso dilettantische wie nichtswürdige Unternehmen von ortsfremden Hetzern dar.
Jetzt aber das dumpfe Dröhnen der Geschütze. Mitten in volkreichen Bezirken. Das tödliche Schwätzen der Maschinengewehre. Oesterreicher gegen Oesterreicher. Keiner von den heute Lebenden vermag sich zu erinnern, er habe Kanonenfeuer in Wien gehört. Diesmal brüllte die furchtbare Stimme der Artillerie durch Tage und Nächte. Die Fenster klirrten, die Häuser bebten von dem Luftdruck. Und im drückenden Bangen um das nächste Geschehen, um das gestern und heute Geschehene bebten die Nerven, bebten die Gemüter der Menschen. Eine ungeheure Fassung, ein frommes Sichfügen braucht es, da die Tagesarbeit zu verrichten und des Nachts nicht völlig zu verzagen. Dann der Gedanke an alle die Toten, an die blutigen Opfer, Oesterreicher alle zusammen; der Gedanke an die zahllosen vernichteten Existenzen, an junge Leute, die verwirrt und mit der Inbrunst der Jugend ihr Leben einsetzten, an unschuldige Kinder, die nicht ahnen, wieso und warum plötzlich die Hölle über sie hereinbricht. Der Gedanke an die Männer der exekutiven Gewalt, die hingebend und heroisch ihre Pflicht erfüllen, die das Aeußerste in ihrer Unerschrockenheit, in ihrer mutigen Bravour wagen. Begreiflich, daß zu solcher Zeit das Verbreiten von Gerüchten unter Strafe gestellt wird.
Aber ebenso begreiflich, daß dennoch Gerüchte von Mund zu Mund fliegen. Jeder will etwas wissen und jeder will etwas gehört haben oder etwas hören. Aber selbst da zeigten sich die Wiener geradezu musterhaft. Als hätten sie mit feinem Taktgefühl verstanden, daß diese Tage zu ernst, zu schwer, zu entscheidend waren, um Sensationsmache und Wichtigtuerei zu gestatten, ließ sich kaum ein Gerücht in die Runde tragen. Und das Telephon war doch frei. Wenn die Leute trotz des Gewittersturmes, der sie umtobte, treu bei ihrer Arbeit blieben, wenn sie trotz allem, was sie wußten, und mehr noch, trotz allem, was sie erfahren konnten, ihre Nerven behielten, so trat damit ihre Abkehr von der Politik auf das deutlichste in Erscheinung, die Abkehr von der kannegießenden, phrasendreschenden, professionellen Politik. Die Menschen wollen in Wirklichkeit Ruhe haben. Sie wollen Frieden und eine gesicherte Existenz. Der weitaus überwältigenden Mehrheit sind das die wichtigsten, die höchsten und heiligsten Güter. „Sicherheit und Ruhe, Ordnung und Freiheit“, läßt Goethe den Chorus des Volkes im Egmont-Drama sprechen. Goethe ist es, der in seiner „Italienischen Reife“ einmal sagt, der Mensch sei doch „eine gutmütige und geduldige Bestie“. Geduldiger als sich diesmal das arbeitende Wien benommen hat und gutmütiger wird man so leicht in der Welt keine zweite Stadt finden. Das arbeitende, das ums tägliche Brot sorgende, das unpolitische Wien.
Die Fremden, die in Wien sind, brauchen nicht abreisen. Die Aengstlichen, die abgereist sind, können getrost zurückkommen. Und wer im Ausland den Plan hegte, nach Wien zu fahren, soll ihn nicht aufgeben. Eine Großstadt, die derartige Erschütterung so unerschüttert überdauert hat, ist schon deshalb einen Besucht wert. Von anderen Köstlichkeiten für heute ganz zu schweigen. Man hat seit zwanzig Jahren sehr viel in Wien erduldet. Sehen wir zu, was ja keiner leugnet, dieses jüngste Ereignis ist das ärgste gewesen. Allein, was gleichfalls nicht geleugnet werden kann, überall in allen Teilen dieser schönen Erde hat der Mensch seit zwanzig Jahren Ungeheures erdulden müssen. Und da war es hier, an der Donau immer noch am besten, am wohnlichsten, am geschütztesten. Eine wahnsinnig gewordene Zeit. Vielleicht. Schwer, in dieser Zeit zu leben und aufrecht zu bleiben. Aber eine unerhört interessante, eine fabelhaft spannende, eine hochdramatische Zeit.
Wir können heute noch an nichts anderes denken, können von nichts anderem reden, als von dem Ereignis des blutigen Wiener, des österreichischen Faschings, der am Aschermittwoch sein trübseliges, sein gutes Ende nahm. Noch beschäftigt alle die Sorge, wie die Wunden, die geschlagen wurden, die geschlagen werden mußten, zu heilen sind. Noch spähen wir bang in die dunklen Wetterwolken, ob nicht ein erster Schimmer der Gnadensonne hervordringt. Er wird kommen. Gewiß. Wir wären nicht in Wien, nicht in Oesterreich, wenn dieser Schimmer ausbliebe. Wenn wieder Milde und Versöhnlichkeit waltet, woran kein Zweifel besteht, wenn jetzt gescheiterte Existenzen wieder aufgerichtet und der Gemeinschaft wieder neu gewonnen werden, wenn wir die Witwen und Waisen vor Not beschützt wissen – dann beginnt ein schüchternes, ein befreites Aufatmen. Immer tiefer wird dieses Atemholen werden, immer leichter und befreiter. Dann wird es wieder möglich sein, an andere, angenehme Dinge zu denken, wieder möglich, von anderen, wichtigen und schönen Dingen zu reden.
Eines Tages, der hoffentlich nahe ist, mag sich dann das so heiß ersehnte Gefühl der Sicherheit wieder einstellen, das so lang entbehrte Empfinden der Beruhigung. Der Preis den wir alle dafür schon bezahlt haben, ist hoch genug. Nicht bloß die Politiker und die parteimäßig Gerichteten. Wir alle ohne Ausnahme. Denn das harmloseste, abseitigste Einzelschicksal ist mit hineingerissen in den Wirbelsturm der Gegenwart. Gefühl der Sicherheit jedoch bildet die Grundlage für jegliches Blühen der Wirtschaft. Empfinden der Beruhigung bildet den Boden, auf dem das Gedeihen erst möglich wird. Und nichts anderes, bei Gott!, wirklich nichts anderes hat Oesterreich so dringend nötig, wie das Gedeihen seiner Wirtschaft.