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D[avid] Bach: Das Arbeiter-Symphoniekonzert (1925)

Das letzte Konzert wurde mit der Aufführung eines neuen Sprechchors, Kerker von Fritz Rosenfeld, eingeleitet. Man muß sich wohl nicht erst verteidigen, daß in unseren eigenen Veranstaltungen ein Werk aufgeführt wird, das sich offen und ausdrücklich zu den Ideen des kämpfenden Proletariats bekennt. Unsere Konzerte heißen nicht bloß Arbeiter-Symphoniekonzerte, sondern sie wollen es auch im höchsten Sinne sein. Darüber also, daß insbesondere am 12. November ein Werk mit sozialistischer Tendenz aufgeführt wird, braucht man kein Wort zu verlieren. Wohl aber müssen die bei uns aufgeführten Werke, und das ist unser Stolz, nicht bloß durch ihre Tendenz, sondern auch künstlerisch gerechtfertigt sein. Der Sprechchor von Rosenfeld nun sucht innerhalb dieser noch ganz jungen Kunstgattung neue Möglichkeiten. Der Sprechchor als solcher ist geboren aus dem Bedürfnis, die Masse selbst zur tätigen Aktion auf der Bühne heranzuziehen. Die ganze Sprechchorbewegung hat natürlich ihre politischen und sozialen Ursachen und sie ist ganz besonders ein Kind der revolutionären Ereignisse des letzten Jahrhunderts. Künstlerisch begegnen sich hier zwei Entwicklungs­tendenzen. Die eine will zur Annäherung der Bühne an das Leben führen. Sie leitet sich aus dem verständlichen Wunsch her, auf dem Theater nicht bloß Angelegenheiten erörtert zu sehen, die dem Fühlen der großen Masse vollkommen fremd sind und fremd bleiben müssen. Die Gefahr eines Mißverständnisses liegt natürlich nahe. Nicht der Stoff, nicht die Handlung ist das, worauf es in Wahrheit in der Dichtung ankommt, sondern der Inhalt, das wahre Problem. Man könnte ein Stück ersinnen d solche werden leider auch oft genug geschrieben, das in Arbeiterkreisen spielt, jede der Figuren die dem Zuschauer wohlgefälligen Reden führen läßt und das trotzdem einem Arbeiterpublikum gar nichts zu sagen hat. Denn das revo­lutionäre Element der Kunst kann niemals vom künstlerischen ganz abgelöst werden. Auf der andern Seite ist es verständlich, wenn Gefühle der Masse durch die Masse selbst ausgedrückt werden. Der Chor des antiken Dramas, der mit Betrachtungen und Gefühlen die Handlung begleitet, wird hier selber der Träger der Handlung, Ausdruck eines Massenwillen und eines Massenschicksals. Die Masse als Held —das ist nicht mehr die Forderung einer nach neuen Stoffen greifenden Dramatik und ihrer ästhetischen Mode, wie es einmal der Naturalismus war, sondern es ist das einleuchtende Ergebnis einer Entwicklung, welche die Kunst im Zusammenhang des gesamten gesellschaftlichen Geschehens sieht. Damit gleichzeitig läuft das Bestreben, Theater und Theaterspielen schneller, als es den wirtschaftlichen Verhältnissen und Gesetzen entspricht, aus dem Zwange zu befreien und den lebendigen, wirksamen Kräften des Volkes zu nähern. Die Lust am Theaterspielen ist keineswegs bloß die Freude des Dilletanten, sie ist das unbewusste, darum doch sehr tiefe und sichere Gefühl: „Es geht um dich“ auch auf der Bühne; wenn der Zuschauer die Schicksale des Helden mitleidet – das ist der Sinn aller dramatischen Kunst –, dann möchte er erst recht auch darstellerisch der Held sein.

Die Versuchung liegt nahe, beim Sprechchor mit ein paar feststehenden Worten und typischen Wendungen auszukommen. Aber wie die großen Dichter des klassischen Altertums einem für sie alle gemeinsamen Stoff, der Götter- und Heldensage, jedes­mal einen neuen großen Inhalt abgewannen, so bliebe in der Gebundenheit des Sprechchors, selbst des streng sozialistischen Sprechchors, erst recht die bewegliche Kraft des Dichters zu erproben. Rosenfeld bemüht sich, von der Abänderung der Form zu neuem Inhalt zu kommen. Er versucht Chorwirkungen, legt großes Gewicht auf das Verhältnis der Gruppen zueinander, ja baut seine Sprechdichtung in verschiedenen Stufen gleichsam symphonisch auf. Weniger neu ist er in der sprachlichen Gestaltung seiner Absichten; hier wird mit den bewährten Mitteln einer poetischen Phraseologie das Auslangen gefunden. So hängt die Wirkung seines Sprechchors[1] wesentlich auch von der Begeisterung ab, die den Chor selbst trägt. Daran hat es der Sprechchor der Kunststelle wahrlich nicht fehlen lassen; sein Sprechen war erfüllt von Hingabe an die Sache des Werkes und der durch dieses ausgedrückten sozialistischen Idee, für das man der Leiterin Elisa Karau zu danken hat. Sie war auch die verständnisvolle Hauptsolistin kleinere Solostimmen waren mit tapferen und begabten Mitgliedern des Chors besetzt — des Sprechwerkes; daß die Solistin nicht gleichzeitig dirigieren kann, schon deshalb nicht, weil der Anblick stört, wird sich die Künstlerin für spätere Gelegenheiten wohl selber sagen.

Die Musik zu diesem Sprechchor hat unser Freund Paul A. Pisk beigestellt. Es ist keine Musik zu gesprochenen Worten, soll es nicht sein. Wenn einmal die Literatur der Sprechchöre ein gewisses Maß erreicht haben, wenn genügend Material und Erfahrungen aus den notwendigen Versuchen vorliegen werden, darin kann auch die Frage des Verhältnisses von Musik zu Sprechchor theoretisch geprüft werden. Augenblicklich scheint der Sprechchor an sich eine Abkehr von der Musik in Tönen zu be­deuten; will er doch gerade die Musik der Sprache mit den Mitteln der Sprache allein vernehmbar machen. Aber Massensprechen, rhythmisches, chorisches Sprechen stellt nun doch einen Übergang zur Musik dar. Friedrich Theodor Vischer, der berühmte Ästhetiker, hat deshalb in den Chören der Braut von Messina eine Vorahnung der Bestrebungen der deutschen Oper gesehen. Überdies haben von der Seite der Musik her die Künstler, trotz aller Warnungen der ästhetischen Theorie, niemals aufgehört, Versuche mit dem Melodram, der musikalischen Untermalung des gesprochenen Wortes, anzustellen. Dieses Problem wird von der Musik zum Kerker nicht berührt. Pisk beschränkt sich darauf, die Übergänge mit Musik zu füllen, die Szene an entscheidenden Punkten musikalisch anzudeuten. Er tut dies mit den einfachsten Mitteln, mit Geschmack und Können. So einfach diese Musik ist, so ist sie, um das Geheimnis zu verraten, doch „modern“; daß dies weiter gar nicht auffällt, sondern daß diese Art Musik als selbstverständlich empfunden wird, beweist, daß die Entwicklung der Musik eben ins allgemeine Bewußtsein eingegangen ist; man schreibt auch sonst heute die einfachste Begleitmusik anders als vor vierzig Jahren, die Tanzmusik ist anders geworden, die Salonmusik, die Hausmusik, die symphonische Musik — welche Frage also, ob der Arbeiter dafür „reif“ sei! Er hat auch hier nicht um die Erlaubnis gefragt, „reif“ zu werden…

Paul Pisk dirigierte auch die Musik zu Mozarts „Petits riens“, das sind „Nichtigkeiten“ oder besser „Kleinig­keiten“. Es ist eine Ballettmusik, deren textliche Grundlage verloren gegangen ist. Es lockte die Aufgabe, aus der Musik selbst das neue tänzerische Gebilde entstehen zu lassen. Die Hellerauer haben dies wahrlich verstanden. Mit Geist, Witz, Anmut und vor allen: mit musikalischem Verständnis ist hier eine Handlung ersonnen, die mit der Musik eine natürliche Einheit zu bilden scheint. Valeria Kratina, die Tanzdichterin,  Tanzkünstlerin und Führerin ihrer Gruppe, ist an erster Stelle zu nennen, dann die Damen ChIadek, Berg, Hougberg, schließlich alle anderen Mitwirkenden. Die von Emmy Ferrand entworfenen Kostüme verdienen besondere Erwähnung. Was die Musik selbst angeht, so steckt in diesem entzückenden Werkchen der spätere, größere Mozart. Einzelne Teile der Musik haben als Einzelstücke auch andre Verwendung gefunden, so die reizende Gavotte, oder das eine Hauptthema, das auch dem Bearbeiter der Grünen Flöte so gefallen hat, daß er es hinübernahm. Diese Musik wurde vorn Orchester ganz lustlos und unaufmerksam, auch technisch nicht einwandfrei, heruntergespielt. Es lag nicht am Dirigenten. Es wäre schlimm, am schlimmsten für das Orchester selbst, wenn in den Arbeitern jemals die Meinung entstünde, das Orchester glaube, sich manches gerade mit einem Arbeiterpublikum erlauben zu dürfen. Die Meinung ist auch sicherlich falsch; aber dann sollte das Orchester selber darauf Wert legen, solche Mißverständnisse zu unterdrücken.

Das Konzert enthielt noch eine zweite größere, auch umfangreichere choreographische, das heißt der tänzerischen Um­schreibung gewidmete Nummer, die Bilder aus einer Ausstellung von Mussorgsky. Es sind Klavierstücke (Paul Weingartner hat sie vor einigen Jahren zum erstenmal öffentlich in Wien gespielt), welche die Eindrücke einer Bilderausstellung wiedergeben. Es ist eine Umsetzung des Bildes in Musik. Ein Bild kann in Worten kaum umfassend beschrieben, schon gar nicht etwa durch ein Gedicht vollkommen ersetzt werden; wie sollte dies in Tönen, in der Form einer geschlossenen Komposition möglich sein? Dies meint der Komponist auch gar nicht. Denn die Aufbaugesetze, die formalen Notwendigkeiten eines Musikstückes sind andre als die eines Bildes; schon deshalb, weil dieses sich in der Gleichzeitigkeit einer Ebene, jenes aber in der Aufeinanderfolge der Zeit vollzieht. Wenn in beiden Fällen von „Komposition“ gesprochen wird, so ist jedesmal etwas andres gemeint, nämlich jedesmal eine andre Anordnung, eine andre „Zusammenstellung“, wie Komposition deutsch heißt. Bei der Umsetzung des Musikstückes in Tanz oder vielriehr in rhythmische Bewegung, Anordnung der Gruppen und so weiter, wird das Musikstück eigentlich wieder mehr dem Bild angenähert. Aber vor allem mit dem Unterschied, daß die Ebene des Bildes in den Raum der Szene übertragen, doch dabei der Rhythmus mit dem Rhythmus der Musik in Übereinstimmung [gebracht] werden muß. Diese schwierige Anfgabe hat auch hier Fräulein Kratina ausgezeichnet gelöst, sowohl schöpferisch wie, mit ihrer Gruppe als Tänzerin, als Nachschöpferin der eigenen Gedanken. Manche Nummern wurden geradezu bejubelt und mußtein wiederholt werden. Es erübrigt sich also auch hier die Frage, ob die Arbeiter, sich dafür interessieren; da entscheidet der Erfolg, geradeso wie im vorletzten Konzert die einfache Tatsache, daß ein Satz aus dem Violinkonzert von Prokofieff stürmisch zur Wiederholung begehrt wurde, die Frage nach der Berechtigung der modernen Musik im Arbeiter-Symphoniekonzert zumindest für diesen einen Fall erledigt. Kaum ein andrer Pianist hätte, übrigens, um auf Mussorgsky zurückzukommen, die Musik an sich den Hörern näher bringen können als Professor Friedrich Wührer durch sein technisch vollendetes, plastisches und farbenreiches Klavierspiel. Er wurde mit Recht durch Beifall und Hervorrufe geehrt.

Auch ohne Unterstützung der Szene behauptet die Musik zu Viel Lärm um Nichts von Erich Wolfgang Korngold ihren Rang und ihren Wert. Diese Musik ist manchem Arbeiter schon aus den Aufführungen des Burgtheaters bekannt; die sie im Konzert zum erstenmal kennen­lernten, erfreuten sich hier an der anmutigen Erfindung, an dem beweglichen Geist der Rhythmik, an der witzigen Instrumentation. Der Komponist dirigierte selbst und gewann die Hörer ohne weiteres trotz gelegentlicher Hindernisse des Orchesters; auch hier gab es Wiederholungen. Ein wahres Prachtstück bot Herr Korngold als Dirigent noch vor der Ouvertüre zu den Lustigen Weibern von Windsor von Nicolai. Der Schwung dieser in jeder Einzelheit durch­dachten Wiedergabe riß alle mit sich fort. Korngold wurde sehr gefeiert.

In: Arbeiter-Zeitung, 3.12.1925, S. 20.


[1] [Orig. FN] „Kerker“ ist im Verlag der Brüder Suschitzky, Wien, erschienen.

e[rnst] f[ischer]: Sprechchor und Drama

Alle, die das Problem des Theaters, des Dramas, der Bühnenkunst prüfen, konstatieren seit Jahren in sämtlichen europäischen Ländern die Krise des Schauspiels. Immer wieder ist es vor allem das eine, dessen Mangel schmerzlich empfunden wird: der unmittelbare Kontakt mit dem Publikum. Einst Megaphon religiöser Erlebnisse, später Tribüne herrschender oder revoltierender Klassen, ist das Theater ein Luxuslokal geworden, in dem zusammengewürfelte Massen sich unterhalten wollen. Einerseits erstarrte das klassische Drama in tönender Langeweile, Anlaß zu Festprologen und billigen Phrasen, andererseits waren Autoren und Regisseure gezwungen, durch Effekte lärmender oder sentimentaler Art die Nerven des Publikums zu dem neuen Werke zu verführen. Zwischen  dem zahlenden Publikum und der Bühne klaffte ein Raum, der nur durch die Sensation überbrückt werden konnte.  Dichtung, Inszenierung, Erfolg waren Zufälle ohne tiefere kulturelle Bedeutung, ohne lebendige Bindung mit der Zeit. Man konnte immer auch anders. –

             Das Theater der letzten Jahrzehnte war das Theater des altgewordenen Bürgertums, des Bürgertums, das die Klassiker zu Zitatenonkeln entfärbte und sich bei Operetten von ihnen erholte, des Bürgertums, dem die Werte Schillers zur Konvention und Extravaganzen der Kunst zum Bedürfnisse geworden waren, des Bürgertums, das aus der Wirklichkeit in die Romantik floh. Der Naturalismus war der letzte große und einheitliche Versuch, aus verstaubten Kulissen das schwindende Leben zu retten, der Naturalismus, der zugunsten der von den bürgerlichen Epigonen mit Limonade vergifteten Wahrheit auf Stil und Symbol verzichtete und sich daher sehr bald in innere Widersprüche verwickelte, an denen er starb. Dann kamen die teils genialen, teils schwachsinnigen Experimente des einzelnen, auf eigene Faust eine neue Form des Dramas zu finden. Von den gewaltigen Experimenten Strindbergs und Wedekinds bis zu den blutlosen Konstruktionen der Expressionisten oder den Kunststücken Pirandellos wirken nur ein gemeinsames Wissen, ein gemeinsamer Wille in den Dramatikern des interessant verwesenden Bürgertums: „Die alten Formen sind tot, wir müssen neue finden.“

             Es ist charakteristisch für die Zeit der triumphierenden Technik, daß die Regisseure (vor allem die russischen) die Möglichkeiten einer Theatererneuerung viel deutlicher witterten als die Dramatiker, daß die Inszenierung die Voraussetzungen für Kunstwerke schuf, mit denen die Zeit schwanger geht, ohne sie gebären zu wollen. Der Regisseur riß die Herrschaft an sich und wurde zum eigentlichen Schöpfer und Dichter, ohne daß aus der wundervollen Maschinerie ein Gott sich erhob. Aber die Bühnenzauberer unserer Tage, die Meister des Lichtes, der Farbe und der Dynamik, haben Urkräfte des Theaters entfesselt: Sie haben die von Pedanten vertriebene Lust am Spiel zurückgerufen und sie haben künstlerisch das zwanzigste Jahrhundert entdeckt. Das alles gilt freilich nur für die Inszenierung, nicht aber für die Unterwerfung der Darsteller unter einen bestimmten Stil.

             Das Proletariat war von diesen Ereignissen ausgeschlossen, das Theater war eine Angelegenheit der bürgerlichen Gesellschaft – und weil es das war, konnte es nicht mit strotzendem Leben erfüllt werden. Die sterbende Klasse war nicht mehr fähig, kulturproduktiv in die Zukunft zu zeugen. Nun aber erleben wir etwas seltsam Erschütterndes: Während das Bürgertum die technischen Voraussetzungen für eine neue Bühnenkunst improvisierte und das Theater technisch revolutionierte, begann im Proletariat die neue Form des Dramas organisch sich zu entfalten. Kulturelemente werden nicht am Schreibtisch erklügelt, sie wachsen langsam in tausend Herzen und sind auf einmal da.  Und so entstand an vielen Orten zugleich, aus der Schöpfersehnsucht der proletarischen Jugend geboren, der Sprechchor. In namenloser Gemeinschaft, wie es an den Maschinen steht, wie es gegen die Ordnung der Dinge sich aufbäumt, wie es zu schicksalsverkitteter Solidarität sich bekennt, schafft sich das Proletariat seine Kunst. Der Sohn, die Tochter aus bürgerlichen Familie imitieren, wenn sie sich künstlerisch betätigen, den übelsten Typus des bürgerlichen Kunstbetriebes, den Star, der junge Proletarier, die junge Proletarierin symbolisieren in ihrem Verlangen nach künstlerischem Ausdruck das Schicksal der Klasse, der sie angehören, den Dienst an anonymem, an kollektivem, an gemeinsamem Werk. Kunst und Leben sind eins in diesem Tun und das ist entscheidend, jede Kultur entsteht aus dieser Einheit von Kunst und Leben, jede Kultur zerbröckelt, wenn diese Einheit sich auflöst.

             Ich halte den Sprechchor in der Tat für die Urform eines neuen Dramas, wie einst der griechische Chor, wie einst der Chor der ersten Kirchenspiele es war. Und wer vor einigen Tagen im Opernhaus den Sprechchor der sozialistischen Arbeiterjugend sah und hörte, wer die wundervolle Kraft und Erschütterung, die von der Sinfonie ihrer Stimmen und der Reinheit ihres Spieles ausging, erlebte, der wird meinen Glauben und meine Hoffnung teilen. Man könnte vielleicht einwenden: Was soll ein gelungenes Experiment beweisen? Nun, was ursprünglich nur als Experiment gedacht war, wurde zum wesentlichen Ereignis. Es handelt sich nicht so sehr um den Effekt, den man mit einem sorgfältig geschulten Sprechchor erzielen kann, es handelt sich vor allem darum, daß das Publikum wieder mitspielt, daß die Menschheit der Zukunft, die Arbeiterschaft, die bisher im bürgerlichen Theater nur ein geduldeter Gast war, sich selber auf der Bühne erleben kann, und zwar nicht nur inhaltlich (das war schon bei manchen naturalistischen Dramen, man denke nur an „Die Weber“, der „Fall“), sondern auch in seiner ureigenen Form, in der unisono empfindenden und hanselnden Masse.

             Das Drama der Zeit, die Großstadt, die Arbeiterbewegung, die Revolution, mußten stets in die Formelemente des bürgerlich-individualistischen Dramas übertragen werden, damit man es überhaupt darstellen konnte – und an diesem inneren Widerspruch kranken alle revolutionären Bühnendichtungen unserer Tage. Es war wohl möglich, eine Massenaktion äußerliche richtig, in photographischer Natürlichkeit, auf die Bühne zu projizieren, aber die innere Wirklichkeit, das geheimnisvolle Fluidum der Masse mußte geopfert werden. Und da es im Drama vor allem um innere Erlebnisse geht, waren die großen, die mythischen, die göttlichen Dinge des zwanzigsten Jahrhunderts von der Bühne so gut wie verbannt und die erotischen und pathologischen Konflikte des untergehenden Bürgertums beherrschten das Repertoire. Eine Wiedergeburt der Tragödie aus dem proletarischen Sprechchor würde die Dichter zur Überwindung der kleinlichen Psychologie, der medizinischen Spässe, der überspitzten Gehirnschweinerein, würde sie zu Form und Größe erziehen.

             Das heißt natürlich nicht, daß morgen oder übermorgen das neue Drama blank und gepanzert vor uns hintreten wird; aber alle Dramatiker, die unter dem Zwiespalte der Bühnenkunst leiden und um den künstlerischen Ausdruck der Zeit ringen, werden bald zu dem Sprechchor der Arbeiterschaft in die Schule gehen und hier aufatmend, mitten unter Maschinen und Konstruktionen, etwas organisch Bewachsenes, herrlich Lebendiges entdecken, etwas das nur darauf wartet, einem Werke dienen zu dürfen. Die Möglichkeiten sind euch gegeben, und das Zeit, die Techniker der Inszenierung und das Proletariat haben alles für euch getan, ihr müßt nur hineingreifen in diese beginnende Welt und aus ihr ein dramatisches Gleichnis formen. Denn nicht aus euren einsamen Experimenten, nur aus dem Wesen einer neuen Gemeinschaft wird eine neue Kultur und mit ihr ein neues Drama sich bilden. Und tausendmal lebendiger und ergreifender als alle eure persönlichen Konflikte und Probleme ist der Sprechchor, den die Arbeiterjugend sich geschaffen hat.

In: Arbeiterwille, Graz, 18.10.1925, S. 5-6.1

  1. Der Text ist auch abgedruckt bei: Ernst Fischer: Neue Kunst und neue Menschen. Literarische und essayistische Texte aus seinen Grazer Jahren (1918-1927). Hg. von Jürgen Egyptien. Graz: Clio 2016, 219-223.

Béla Balazs: Das entfesselte Theater

             Gelt, das klingt gefährlich? Das klingt nach Unbändigkeit und Wahnwitz, nach Revolte gegen alle Gesetze und Regeln, nach formlosem Sturm und Drang. Ein entfesseltes Theater! Was stellt man sich dabei vor? Die Phantasie bricht aus seinem Kulissenkäfig und rast durch die Straßen der Nüchternheit? Das Spiel schwillt an, steigt über die Dämme der isolierten Kunststätte und überschwemmt den Ernst des Lebens. Eine brausende Sturzflut von Masken und Kostümen ergießt sich mit Harfenklang und Schellengeläute – entfesselt – über die philiströse Ordnung des Alltags.

             Es klingt nur so, es scheint nur so, Tairoff, der Direktor der Moskauer Künstlerspiele, der seinen Reformversuchen diesen populär gewordenen ausdrucksvollen Namen gab, ist kein zügelloser Stürmer und Dränger, der alle Gesetze verachtet. Im Gegenteil. Er ist ein streng-dogmatischer Ästhet. Wenn er ein Revolutionär ist, so ist er ein doktrinärer wie die Kommunisten, denen er angehört, die nach den Vorschriften eines gelehrten Buches die Welt neuschaffen wollen. Er könnte auch ruhig sagen: ich bin nicht gekommen, das Gesetz zu zerstören, sondern um es durchzuführen. Tairoff, der prominenteste Vertreter der neuesten Bühnenreformbewegung, der Schöpfer des „entfesselten Theaters“, ist ein fanatischer Pedant.

             Denn was meint er eigentlich mit der Entfesselung des Theaters? Er meint die Befreiung von der Diktatur der Literatur. Das Theater, sein Theater, will nicht mehr dienend die vorgeschriebenen Wege des vorher geschriebenen Dramas gehen. Es will nicht mehr bloß Kanzel der Dichter, unselbständiger Dolmetsch außerhalb stehender Schriftsteller sein.

             Das Orchester meutert und empört sich gegen die Partitur, will autonom, aus seinem eigenen Element, spontane Gestalten schaffen. Das Theater soll nicht mehr Ausschank der Literatur sein, sondern ursprüngliche Quelle einer eigenen, selbständigen Kunst werden.

             So ungewohnt diese Absicht auch heute ist, ist sie nichts weniger als neu und unerhört. Bekanntlich ist das Theater älter als das geschriebene Drama, das nur als nachträgliche Kodifizierung und Regelung der allgemein üblichen Stegreifspiele entstanden ist. Die Stücke der Commedia dell’ arte waren keine Literatur, und selbst Shakespeares Dramen sind zum Teil auf der Bühne entstanden. Neu ist also diese revolutionäre Idee nicht. Noch weniger aber ist sie anarchistisch und wider das Gesetz. Vielmehr wird mit ihr die pedante Durchführung eines alten akademisch-ästhetischen Dogmas bezweckt. Es ist das ästhetische Dogma vom „reinen Stil“, von der materieechten, ungemischten Kunst. Denn ein Gemälde etwa, das musizieren täte, oder eine Statue, die Verse sprechen könnte, wäre doch ein grauenhafter Kitsch. Und hat man nicht ästhetische Bedenken gehabt gegen Textillustrationen oder gegen die Oper, gegen diese Mischform von Musik und Drama? Hat man sich nicht ereifert gegen die „literarischen“ Bilder, die irgend einen erzählbaren Inhalt haben? Ja, die Forderung einer reinen, ungemischten Kunst schien ein unbezweifeltes, ästhetisches Dogma zu sein, wiewohl sie auf keinen steinernen Tafeln geschrieben stand. Auch ging man nicht soweit in der Konsequenz, etwa dem Lied die Existenzberechtigung abzusprechen und zu behaupten, Schubert, Schumann, Brahms, Wolff wären Kitscheure, weil sie Musik mit Literatur mischten. Es kommt eben darauf an, ob dabei durch eine wirklich „chemische“ Mischung ein organisches drittes Ding entsteht. Und man kann wohl kaum leugnen, daß dies bei der Mischung von geschriebenem Drama und Bühnenpantomime in vielen Fällen restlos gelungen ist.

             Und doch scheint die Freiheitsbewegung des Theaters um sich zu greifen. Die selbsttätige Bühne in der Form von Balletts, Pantomimen und Sprechchören (bei denen das Wort lediglich nur als akustische Masse mit den Form- und Farbwirkungen kombiniert wird) ist ohne Zweifel aktuell geworden. Das muß außer den besagten ästhetischen Bedenken tiefere Gründe haben. Gewiß ist ein so unliterarisches, autonomes, „entfesseltes“ Theater eine sinnvolle und berechtigte Kunstgattung. Aber daß sie just in unseren Tagen modern wird, das wird mit Dingen zusammenhängen, die außerhalb der Ästhetik liegen.

             Warum kommt man heute vom Worte ab? Warum ist man heute mehr für dekorative Schaustellungen als früher? Das kommt daher, daß das Wort heute nicht mehr zielsicher ist. Dichter und Schauspieler wissen nicht mehr, ob ihr Wort auch richtig verstanden wird. Die geschlossene bürgerliche Kulturgemeinschaft hat aufgehört. Man ist nicht mehr intim unter sich, wie man es seinerzeit in den fürstlichen Theatres parés und auch später im Kreise der gebildeten Patrizier war. Soziale Schichten haben sich verschoben, Klassen und Stände sind durcheinandergewürfelt. Das Publikum ist nicht mehr homogen; es ist ein zufälliges, und man weiß nicht mehr, zu wem man spricht. Was der eine versteht, muß dem anderen fremd klingen. Will man also das Theater für die breite Öffentlichkeit retten und doch auf einem artistischen Niveau erhalten, so greift man eben zu den dekorativen Schaustellungen. Denn diese sind nicht so präzisen Sinnes wie das Wort. Man kann sie auslegen, stimmungsgemäß, je nach Anlage, und subjektiv verschieden deuten. Jeder holt sich daraus, was ihm entspricht. Die unbegrenzte Möglichkeit des Mißverständnisses bürgt für allgemeine Wirkung.

             Das entfesselte Theater deutet eine Freiheit aus Not. Hier ist eine Kunst wieder einmal frei geworden, wie ein Vagabund, der seine Heimat verloren hat.

In: Der Tag, 1. November 1924, S. 2.