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Oberspielleiter Dr. Fritz Peter Buch: Ein Drama der Revolution. Zur Aufführung des Dramas „Brülle China!“ von Tretjakow im Neuen Wiener Schauspielhaus.

             Als ich im Sommer vorigen Jahres die Rohübersetzung von „Brülle, China!“ in die Hand bekam, war ich einigermaßen erstaunt über die scheinbare Dürftigkeit dieses Szenengerüstes, das kaum die Hälfte von dem normalen Umfang eines Theaterstückes betrug. Neun kleine Szenen, oft nicht länger als drei bis vier Seiten, in einer kargen, sehr knappen Sprache, ganz wenigen, nicht sehr aufschlußreichen Regieanweisungen, vielen Personen, von denen jede ganz wenig zu reden hatte. Ich las zwei-, dreimal und war doppelt erstaunt, als ich allmählich fühlte, was für ein Reichtum an Phantasie, an szenischer Vorstellungskraft in diesem skizzenhaften Gebilde steckte. Als ich daranging, das Regiebuch für die deutsche Uraufführung in Frankfurt herzustellen, wurde mir klar, daß hier nicht ein Dichtwerk geschaffen werden sollte, dessen Schwerpunkt in der formalen Vollendung liegt, sondern daß ein ergriffener Mensch einem Erlebnis seiner unmittelbarsten Gegenwart, das ihn tief erschüttert hatte, den einfachsten und stärksten dramatischen Ausdruck gab. Es lag also für den Regisseur, der dieses Szenarium für das Theater lebendig zu machen hatte, nahe, vor allem auf den Tatsachenbestand selbst, den das Stück zu gestalten versucht, zurückzugehen.

             Im Sommer 1925, als die fortschreitende nationale Erhebung Chinas zu einer Verschärfung des alten Konflikts zwischen China und den fremden imperialistischen Mächten führte, die sich aus Handelsinteressen im Laufe der letzten Jahrzehnte immer mehr in die innerchinesischen Verhältnisse eingemengte hatten, kam ein amerikanischer Kaufmann in Wanxian, das ist eine Stadt am Oberlauf des Jangtsekiang, bei einem Streite mit einem chinesischen Bootsführer ums Leben. Der Kapitän eines englischen Flußkanonenbootes erzwang, als man den angeblich Schuldigen nicht ermitteln konnte, unter dem Drucke seiner Geschütze gegen jedes Völkerrecht die Hinrichtung von zwei an dem Vorfall ganz unbeteiligten Schiffern. Die Empörung der Volksmassen wurde in diesem Falle mit Mühe zurückgehalten. Als aber ein Jahr später der Kapitän desselben Kanonenbootes wegen eines ähnlichen Zwischenfalls – er hatte zwei chinesische Dschunken gerammt und weigerte sich, Ersatz zu leisten – mit den Behörden der Stadt Wanxian abermals in Konflikt geriet, kam es zu Zusammenstößen der Schiffsmannschaft und einigen Kulis; im Verlauf dieser Zusammenstöße legte der englische Kapitän eigenmächtig die Stadt Wanxian durch die englischen Schiffsgeschütze in Trümmer, wobei nach englischen Meldungen dreitausend, nach amerikanischen sogar fünftausend an den Vorfällen unbeteiligte Chinesen ums Leben kamen. Tretjakow hat diese zeitlich auseinanderliegenden Ereignisse zusammengezogen und daraus ein Stück voll leidenschaftlicher Anklage gegen die Uebergriffe imperialistischer Kolonialmächte in wehrlos gemachten und wirtschaftlich unterworfenen Gebieten geformt. Dem Ursprung und der Absicht des Stückes entspricht es, daß die Handlung nicht von einer individualistischen Heldengestalt getragen wird, sondern von einer Gruppe chinesischer Kulitypen, hinter denen das ganze, seiner wirtschaftlichen Selbständigkeit beraubte chinesische Volk steht. Die Typisierung der Gestalten und des Konflikts erweitert den sozial-kritischen Horizont des Stückes; sein Schauplatz könnte auch Indien oder Südafrika sein, wo ja aus ähnlichen Ursachen stammende Reibungen auf der Tagesordnung sind. Der Dichter hat diese historischen Tatsachen nicht mit kalter Nüchternheit aufgezeichnet, sondern mit menschlicher Wärme durchglüht.

             Um auf der Bühne die unmittelbar lebendige Wirkung zu erzielen, die dem Dichter vorgeschwebt hat, muß auch die Inszenierung den Wirklichkeitsgehalt der dramatischen Fabel betonen. Ich bringe im Lichtbild eine Reihe von dokumentarischen Belegen, die die tatsachenmäßige Grundlage der Handlung dem Zuschauer nahebringen sollen. In der schauspielerischen und szenischen Gestaltung des Stückes wird versucht, einen sozusagen photographischen Realismus zu geben und die Grenzen des Sprechtheaters durch die Einbeziehung des Films und dem Film entlehnter mimischer Ausdrucksmittel zu erweitern. Auch die Verwendung einer Vorderbühne, die die Geschehnisse näher an das Publikum heranträgt, liegt in der Absicht des Dichters nach einer möglichst unmittelbaren und eindringlichen Wirkung. Aus diesem Bemühen um einen dokumentarischen szenischen Stil ergab sich bei der Frankfurter Aufführung die Beziehung eines chinesischen Assistenten, dessen Mitarbeit sich auch in der Wiener Inszenierung auswirkt.

In: Arbeiter-Zeitung, 26. April 1930, S. 9. Weitere Aufführungsdebatten finden Sie hier.