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Joseph Gregor: Republik und Theater (1919)

             Es ist kein Zweifel mehr: Unser Leben hat sich geändert. Der schwerfällige Wiener denkt dabei zunächst an den bitteren Unterschied der Kost von einst und jetzt und kämpft einen harten Kampf, jede seiner Gewohnheiten in die sogenannte neue Zeit hinüberzuretten. Es wird aber nicht dabei bleiben. Die Einstellung auf das alte Österreich, uns allen noch gründlich im Blute, wird weichen und einem unbekannten, geheimnisvollen Neuen zur Gänze Platz machen. Die Speisekarte wird noch oft geändert werden.

             Dieses Neue, so unbekannt es ist, und so zaghaft unsere Schritte in die neue republikanische Ära sein mögen, muß doch irgendwie in uns geschlummert haben, denn selbst ein so unerhörter wirtschaftlicher und militärischer Zusammenbruch vermag eine so unerhörte Revolution nur unzureichend motivieren, wenn wir nicht seelische Kräfte annehmen, die dahin zerrten. Wir in Österreich sind mit einer Erklärung ja bald zur Hand: Das waren die Nationen, de nach der großen verlorenen Schlacht binnen weniger Wochen das „unteilbare und untrennbare“ Gefüge dieses alten Staates zerissen. Bleibt eben noch immer die Erklärung zur Republik, vermutlich bis heute die einzige Einmütigkeit der alten Volksgenossen, als nicht ganz erklärter Rest. Vollends in Deutschland wird es schwer, sich den auch in der kürzesten Zeit bewirkten Wechsel von straffstem, musterhaftesten Imperialismus und linksstehender Republik auch nur vorzustellen, dazu mit der unberuhigten Neigung zu weiterem, blutigen Bürgerkrieg. Rache an der alten Ordnung der Dinge, die möglichst durcheinandergeschüttelt werden soll, um das Neue, immer dieses geheimnisvolle Neue, aussichtsreich aufzubauen? Der Nachahmung des östlichen Beispiels, dieses offenbar unerfreulichen Lichts aus dem Osten, über das wir jahrelang gestaunt und gelächelt haben?

             Es gibt natürlich tausend Erklärungen. Der Politiker, der Nationalökonom, der Historiker, sie werden nicht verlegen sein. Wir tun ja nichts als erklären. Wir bewegen uns zwischen Kohlensorgen und Vermögensabgabe und trachten, unser Leben den neuen Tendenzen gemäß zu regulieren und gewiß gibt es auch solche, denen vor der eigenen Gottähnlichkeit bange ward. Indessen, man regt sich und fordert. Man organisiert sich bis zur Taferlklasse hinab, wählt Räte und Räte. Und was das Erstaunlichste ist: Man erreicht sogar! Freiheit des gesprochenen, geschriebenen, gemalten Wortes war ein Federstrich, warum sollten nicht mehr folgen? Kühner denn: Weg mit dem abgeblaßten Mediceertum, das der Kunst solange trübe geleuchtet hat, weg mit der Protektion, die sich mit so unfehlbarer Sicherheit die Ungeeigneten holte, weg mit Clique und Klüngel, die sie monarchisch regierten – dem freien Volk eine neue Kunst! Wobei man – und das ist ja das wirklich Schönste an der // Republik – nicht vergessen darf, daß der Republikaner diese Forderungen an keine höhere Macht mehr richten kann als an sich selber, freilich eine Weisheit, die dem geborenen Österreicher erst nach einer Weile aufgehen wird.

             Der Gedanke liegt nahe, Macht und Wirksamkeit der neuen Schlagworte – wobei der Ausdruck durchaus nicht abfällig genommen zu werden braucht! – auch an jener Kunst zu erproben, die stets als der deutlichste Spiegel des Lebens genommen wurde, an der geheimnisvollen, fluktuierenden, lebendigen Kunst des Theaters. An dieser Kunst, die sich nicht mit einem gelungenen Vers oder einem guten Bild oder gar einer schönen Attitüde der Ausdruckstänzerin erschöpft, sondern die etwas von einer Volksversammlung, einem Ball, etwas von einer Messe und etwas von einem Geschäft hat, also schon darum geeignet, unser Leben zu symbolisieren, an dieser Kunst, die darin besteht, Tausende zu Tränen zu rühren, während man an die unerschwinglichen Preise des Schuhzeugs denkt, an dieser Kunst, wo ein Schrei Gold sein kann und ein unechtes Atmen ein Hinauswurf, die läutert, indem sie demütigt, beglückt, indem sie ärgert, mit einem Firlefanz von falschen Bärten zu den Sternen erhebt und mit dem letzten Vorhang unweigerlich, aber auch unwiederbringlich zu Ende ist. Trug auch unser Theater den Keim der Republik in sich und wie gedenkt es sich mit dem plötzlich zauberhaft ausgewachsenen Baum zu verhalten?

             Zunächst: innere Hemmungen kennt das Theater nicht. Man konnte schon früher auf denselben Brettern ohne Scheu Gorkys Nachtasyl neben Schönthans Maria Theresia spielen, am selben Tage sogar, und es ist einfach nicht abzusehen, was entstanden wäre, hätte Hamlet nicht solche, sondern eitel monarchistische Verse in die Rede des ersten Schauspielers geflickt. Diese Charakterschwäche ist natürlich seine Stärke. Wir werden dieses stärkste Instrument auf den Geschmack der Masse bereit zu allem finden, die Frage ist nur, wie wir es handhaben. Wir haben solange Detektivstücke im Kino angesehen, bis wir uns eines Tages wunderten, wie gut man zu rauben verstand. Im Gegenteil aber wußten die römischen Cäsaren genau, warum sie ihre Macht, Menschen verbluten zu lassen, mit Vorliebe im Theater demonstrierten, und kein deutscher Fürst, der sich nicht gerne mit einem Hoftheaterchen drapierte, Lenin oder die Sowjets haben denn auch sofort irgend welche Schritte getan, um durch die Theater den „Bauern“ die Kunst zuzuführen und die ungarische Kommune ließ es als eine ihrer ersten Sorgen sein, noch vor der Zahlungseinstellung die Theater zu requirieren. Man applaudiert füglich zu allem.

             Das Theater wieder braucht die Tendenz wie wir die Lebensmittel. Aus der sprühendsten Comédie wird ein nüchternes Lustspieltheater, wenn die Coquelins ausgehen. Wir müssen gar nicht so weit gehen – war es doch alltäglich, daß ein Theater mit guten literarischen Anlagen plötzlich zur Operette abbog, weil die einzige Tendenz einer gewissen geduldigen Stadt die seidenbestrumpften Beine der Choristinnen waren. Unsäglich viel ist über den Rück//gang der ersten deutschen Bühne geredet und geschrieben worden und alles waren nur Glossen zu der alten Weisheit, daß man keine Bühne der Welt mit wehmütigen Erinnerungen allein speisen kann, sondern nur mit der Tendenz, mit dem Gedanken, der auf das Leben gestellt ist. Umgekehrt hat so mancher vor Jahren dem schlichten, alten Haus in der Schumannstraße in Berlin ein unrühmliches Ende geweissagt. Aber siehe da – ein eifriger Direktor holte sich Material aus der mächtig aufsteigenden Moderne, scheute sich nicht, mit Kühnheit zu verblüffen, seine Leute zu dressieren, jenes Geschimpf zu erregen, das beim Theater immer die Vorbedeutung des Erfolgs ist, übertrieb maßlos um wenigstens etwas zu retten – und landete wohl oder übel dort, wo von Rechts wegen die „erste deutsche Bühne“ hätte sein sollen; ein einer stark tendenziösen Stilkunst, der sich kein Theater, aber auch kein Zuschauer der Welt mehr entschlagen konnte.

             Absichtlich ist hier vermieden, die Namen zu nennen, die allerdings auch so deutlich sind, weil es ja nicht um Lob und Tadel geht, sondern um die Kräfte, die aus diesen Häusern hervorgehen und die wir in sie hineintun. Und man sieht, es ist immer noch ein bißchen so, wie in den alten Zeiten der Karren mit den grüngestrichenen Rädern. Man zahlt sein Geld und geht hinein. Man lacht oder weint, klatscht oder pfeift, je nachdem. Daß es aber zweierlei ist, den Geschmack des Publikums glatt zu befriedigen oder die große Tendenz zu bestätigen, hat schon bei Goethe Direktor und Dichter entzweit. Man kann aber, gewitzigt durch mehr als ein weiteres Jahrhundert, hinzufügen: Wehe dem Herren der Gaukler, der Lieb und Hassen, der die Tendenzen seines Gottes Publikum nicht ebensogut verstünde wie die leichtbewegliche Seele seiner Komödianten und der nicht entschlossen wäre, in beiden in gleichem Streben zu modellieren. Es wäre Shakespeare übel gestanden, inmitten seines von allen Kräften der Renaissance durchbebten Zeitalters bei den Untiefen der Marlow und Chapman zu verharren und keine Truppe von heute kann daran vorbeispielen, doch diese Zuhörer, wenn sie auch willig zu allem kommen, innerlich doch durchbebt sind von Leiden, Entbehrungen, Mühsalen, Gefahren – von Gewalten, die wiederum Ernst verlangen und sich nichts vorspiegeln lassen, sozusagen Schattentänze und Fahrten ins Blaue. Und wehe auch dem Publikum, das solche Spiegel für rein hält und das Theater, das nicht seines Geistes ist, nämlich seines besseren, freiheitlichen Geistes, nicht sofort und nachdrücklichst ablehnt, nicht eben mittels Referendum, aber mit dem Selbstbestimmungsrecht des Geschmackes, das älter ist als jenes andere.

In: Der Merker H. IV (1919), S. 668-670.

Fritz Feder [= Jura Soyfer]: Avantgardistisches Theater im Hagenbund.

GENERALPROBE. Der kleine Theatersaal ist kaum geheizt. Die Schauspieler sind übernächtigt und nervös. „das Technische“ klappt nicht. Ja, wenn ein regelrechter Inspizient vorhanden wäre und eine Schar von Bühnenarbeitern – wenn man Maschinerie und Personal eines großen Theaters zur Verfügung hätte – dann würde sich jetzt gerade in diesem „Technischen“ das ganze Genie des Regisseurs offenbaren. Hier aber muß er in mühseliger Selbstbeherrschung feststellen: es klappt nicht; muß sich von Minute zu Minute immer mehr überzeugen lassen, wie notdürftig sich in Wirklichkeit all die Gongschläge, Grammophon-Melodien, Beleuchtungseffekte ausnehmen, die er blitzenden Auges im Regiebuch vermerkt hat; muß jeden seiner Einfälle krampfhaft verteidigen gegen die ringsum aufsteigende Hysterie, die da fordert: Rette, was noch zu retten ist! Laß alles aus, bis auf den nackten Text! Seien wird froh, wenn wir das Stück überhaupt nur irgendwie abrollen lassen können, auf diesem armseligen Nudelbrett von einer Bühne!

Aber die Schauspieler, der Beleuchter, der Bühnenbildner gebärden sich mutloser, als sie in Wirklichkeit sind. Sie werden bis spät in die Nacht durchhalten. Sie werden am nächsten Tag zu einer weiteren noch generaleren Generalprobe antreten. Sie werden trotz Grippe und Müdigkeit, elektrisiert vom Lampenfieber, sich mit Einsatz aller Kräfte in die Premiere stürzen. So wird die Aufführung auf dem „Nudelbrett“ zustande kommen, wird die Durchschnittsleistung der großen Theater geistig bei weitem übertreffen und dies ohne andere Mittel als die Energie eines Dutzend theaterbesessener junger Menschen.

Das ist ein altes Lied: das Lied vom avantgardistischen Studio.

In dieser Woche war die Theatergruppe des Dr. Ernst Rohner an der Reihe, all die Geburtswehen einer solchen Premiere durchzumachen. Aufgeführt wurde „Die Unbekannte von Arnas“, das Werk eines jungen Franzosen namens Salacrou. Vornehmlich aus zwei Gründen ist diese Aufführung beachtenswert. Erstens ist das Stück selbst künstlerisch sehr interessant und stellenweise von genialen Einfällen getragen. Zweitens ist es dieser seiner hohen Qualität wegen äußerst instruktiv über die ganze künstlerische Richtung, der es angehört, und – was besonders wichtig ist – charakteristisch für die Situation aller avantgardistischen Theatergruppen in Wien.

Ein Mann in gutbürgerlichen Verhältnissen namens Ulysse erschießt sich, weil seine Frau ihn betrogen hat. Ehe er sich aber dem Jenseits zuwendet, hat der Tote noch hienieden ein Stück Weg zurückzulegen. Alle Erinnerungen seines Daseins erscheinen nämlich in der Wohnung und in ihrem Kreise muß er alles noch einmal durchmachen, was ihm seit der Kindheit an menschlichen Erschütterungen begegnet ist, kurz gesagt, er muß sein Leben repetieren. Dieses Nochmals-Erleben erfolgt nicht chronologisch, sondern als sehr bewegtes Durcheinander. (Als ein „Jahrmarkt“, wie der Kammerdiener Nicola es ausdrückt, der eigentlich gar kein Kammerdiener ist, sondern die Fäden des ganzen mystischen Geschehens in der Hand hält.) Das Längst-Vergangene vermischt sich mit dem Eben-Geschehenen und sogar mit der Gegenwart, das heißt, mit dem, was nach dem Tode Ulysse geschieht. In dieser sehr kompliziert verschlungenen Vielheit der Zeiten und in der vollständigen Einheit des Ortes – alle drei Akten spielen im selben Wohnraum – tritt also Ulysse seine Odyssee zum zweiten Male an.

Er begegnet den Frauen, die er geliebt hat, angefangen von seiner Mutter. Er stürzt in die Arme seines Jugendfreundes, des sechzehnjährigen Jugendfreundes, der keine Ahnung hat, daß er als Vierzigjähriger dem Ulysse die Frau stehlen wird. Er läßt sich gerührt von einem zwanzigjährigen Offizier in Kavallerie-Uniform segnen: dieser aus einem Bildrahmen Herabgestiegene ist Ulyssens Großvater, blutjung gefallen in der Schlacht von Gravelotte, der Held der Familie. Aber knapp vor seiner Abreise ins Feld hatte dieser prächtige Offizier des Geldes wegen eine alte Frau genommen, und wie alles andere, muß Ulysse jetzt auch den schmerzlichen Moment wiedererleben, da er von dieser Ehe erfährt und damit das Ideal seiner ersten Jugend zusammenbrechen sieht.

Daß er dieses ganze Leben schon einmal gelebt hat, nützt ihm nichts. Jede Illusion und jede Enttäuschung, jeder Schmerz und jede Beseligung ziehen ihn, der doch den Ausgang im voraus weiß, unvermeidlich wieder in ihren Bann. Es ist so, als lebte er all dies zum ersten Male. Nur am Schluß, als er vom Betrug seiner Frau erfährt, scheint es einen Augenblick lang, als dürfte er die Lehre aus dem repetierten Leben ziehen. Er komm nämlich zur Erkenntnis, daß die Frau des Selbstmordes nicht wert ist, daß er dieses Los ertragen muß wie die übrige Durchschnittlichkeit seines Lebens, daß er außerdem hienieden noch viel zu lernen und zu genießen hat. Kurz: er will sich nicht umbringen.

Aber da reicht ihm der Kammerdiener (grotesk und mysteriös wie eine Gestalt von E.T.A. Hoffman) den Revolver und erklärt: Nichts zu machen! Der Schuß ist schon gefallen. Worauf Ulysse die Waffe nimmt und der Schuß fällt.

Hat er sich zufällig umgebracht? „Nein,“ meint der Autor Salacrou, „es gibt keinen Zufall!“ Und um dieses wichtigste Fazit seines Stückes zu unterstreichen, hat er es eben nach jenem unbekannten Mädchen von Arras benannt, das dem Ulysse einst im Weltkrieg begegnete. Er hat sie zufällig in einer evakuierten Stadt an der West-Front kennengelernt und sogleich wieder verloren. Es ist ihm nicht gelungen, irgend etwas über sie zu erfahren – nicht einmal ihren Namen. Vielleicht, wenn der Zufall sich anders gewendet hätte, hätte er sie geliebt und geheiratet.

Vielleicht wäre sein Schicksal anders abgerollt, wenn er diese Unbekannte erkannt hätte. Aber sein vorgezeichnetes Erdenschicksal war es eben, sie nicht kennenzulernen. Erst im Jenseits wird sie ihm sagen, wer sie ist.

Das ist die möglichst einfache Wiedergabe des sehr schwierigen Stückes. Lange und ausführlich ließe sich noch an ihm herumdeuten. Lange und ausführlich ließe sich noch vom dramaturgischen und philosophischen Standpunkt pro und contra sprechen.

Aber es gibt anderes dazu zu sagen, das für uns alles wichtiger ist.

Armand Salacrou gehört, seinem Stück nach zu schließen, zu den französischen Surrealisten. In den ersten Jahren nach dem Weltkrieg haben breite Schichten des französischen Publikums und an ihrer Spitze eine Reihe prachtvoll begabter junger Schriftsteller gegen die bestehenden Kunstformen revoltiert. Eine Welt neuer Probleme war stürmisch zutage getreten. Die hergebrachten Formen schienen keine geeignete Ausdrucksmöglichkeit mehr zu bieten. In dieser Zeit haben die Surrealisten, kühn experimentierend, Neues zu schaffen versucht. Was ihnen gelang, war viel zu wenig. Nämlich – was Theater betrifft – nur die Befreiung von starren, formalen Gesetzen der Dramaturgie. In dieser Beziehung haben sie den Expressionismus fortgesetzt und vollendet. Aber weiter kamen sie nicht. Nach einer Etappe wirklichen Fortschrittes trat Stillstand ein: es wurde nur mehr um des Experimentes willen experimentiert, es wurde mit Formen gespielt, was man sagte, wurde sekundär gegenüber der Manier, wie man es sagte.

Um diese Zeit wendete sich einer der führenden Surrealisten, Aragon, von seiner eigenen Schule ab. Und er blieb nicht der einzige. Heute gibt es in Frankreich eine breite Bewegung von Schriftstellern, die sich in Lyrik, Epik und Drama der ewigen Quelle aller Kunst zugewandt haben: dem Volk, mit seinen tausendfältigen lebendigen Lebensproblemen.

Und eines, worüber Lyriker sowie Epiker untereinander noch diskutieren mögen, kann für Theatermenschen doch kaum mehr fraglich sein: nämlich daß in allen Zeiten der Geschichte das Theater nur dort, nur dann groß und fruchtbar war, wo seine Leidenschaften die von Hunderttausenden waren.

Und von dieser Feststellung wollen wir nun zu den Wiener Theatern zurückgehen. (Zurückgehen – in jeder Beziehung.)

Die herrschende Wiener Theaterproduktion, welche sich derzeit merkwürdigerweise einer relativen wirtschaftlichen Konjunktur erfreut, steht geistig auf einem äußerst tiefen Niveau. Was die großen Unternehmungen anstreben, bewegt sich zwischen dem Amüsement und dessen etwas würdiger klingenden deutschen Übersetzung: Unterhaltung. Nur ein erschreckend geringer Prozentsatz der aufgeführten Stücke läßt sich in diese primitive Wertordnung nicht einreihen. Ein künftiger österreichischer Theaterhistoriker wird diese Epoche mit ein paar bedauernden Worten abfertigen müssen. Das weiß so ziemlich jeder, der mit dem Theater zutun hat. Die einen kümmern sich nicht darum – die anderen leiden darunter und wollen es seit Jahren besser machen. Sie waren vor Jahren eine einflußlose Minderzahl. Und das sind sie bis heute geblieben.

Warum? Hat es in diesem Lager an Talenten gefehlt? Gewiß nicht. Die großen Theater haben aus den kleinen Gruppen der Jungen die lohnendste Akquisition gemacht. Hat es am ehrlichen Willen gemangelt? Ohne die Lockungen zu unterschätzen, die von einer großen Gage ausgehen, läßt sich nüchtern sagen: nicht bei allen hat es am ehrlichen Willen gemangelt.

Liegt es also am Publikum? Will das Publikum um keinen Preis etwas anderes sehen als geschickt geschriebene, nichtssagende Stücke? Wenn es wahr ist – warum suchen sich die Studios kein anderes Publikum als das eine, an das sie sich seit soundsoviel Jahren vergeblich wenden? Und wenn es nicht wahr ist, warum ist und bleibt all die bewundernswerte Arbeit eine Sisyphusarbeit?

Über all diese Fragen müßten wir alle, denen es ums Theater zu tun ist, einmal nachdenken.

Gibt es zwischen dem Happyend eines Singspieltenors und dem doppelten Selbstmord eines avantgardistischen Ulysses wirklich keine Möglichkeit, die ein Experiment lohnen könnte?

In: Der Tag, 21.2.1937, S. 22.

Max Lesser: Von der neuen Kunst

             Es wachsen jetzt seltsame Blumen im Garten deutscher Dichtung und Kunst. Einige treten ganz unblumenmäßig als Quadrate oder Dreiecke oder in der Form von Rhomboiden und Dodekaedern oder als Mischung aller dieser mathematischen Konstruktionen in die Welt der Erscheinung: andre wieder verschwimmen im Nebel der absoluten Unbegreiflichkeit, Gebilde einer Phantasie, in der sich musikalische Elemente, Sturzwellen von Farbenorgien, lallende Gefühlsräusche ineinanderwirren. Nie bisher hat man dergleichen erlebt. Die neuen Bilder sind thematische Variationen von Tönen, die ebensogut durch die Instrumente eines Orchesters wiedergegeben werden könnten; die neuen Gedichte sind von der Palette eines Malers genommen, man sollte sie als Farben und nicht als eine Folge von Worten zu verstehen suchen; die neuen Dramen sind Zusammenklänge von szenischen Kompositionen, in deren Verlauf auch einiges gesprochen wird. Aber dies ist nicht gerade nötig; wir haben neuerdings auch Dramen, in denen die menschliche Rede ziemlich gleichgültig geworden ist, in denen sich der Wille des Dichters auch durch andere Medien der Vermittlung zu manifestieren vermag, wie es denn überhaupt nicht so sehr darauf ankommt, daß etwas geschieht, dem wir folgen können, sondern daß irgendwo im Kern aller Geheimnisse ein mystischer Drang nach Expression Entladungen jenseits des Möglichkeitsbereiches unserer Gedanken und Empfindungen sucht. Von diesen neuen Werken gilt Mephistos Wort über die Mütter: „Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit, um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit; von ihnen sprechen ist Verlegenheit.“ Wir sind wieder einmal in der Welt der abstrakten Ideen, dort, wo in Urtiefen die Mütter hausen; zu ihnen führt der Weg ins Unbetretene, nicht zu Betretende, ins Unerbetene, nicht zu Erbittende, in grenzenlose Öde und Einsamkeit. Dort sitzen sie, „Gestaltungen, Umgestaltungen, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung, umschwebt von Bildern aller Kreatur.“

             Ach, aber der Schauder, der Faust ergreift, wenn er sich dem glühenden Dreifuß, dem Reich der abgründigen Geheimnisse nahen soll, er will uns nicht befallen, die wir in futuristisch-kubistische Konstruktionen die reine Idee der auf sich selbst bezogenen, von allem Gedanklichen befreiten, von allem Gefühlsgehalt entblößten Kunst begrüßen sollen und denen zugemutet wird, in Gedichten und Dramen die dialektische Überwindung des Sinnes durch ein unbestimmbares Etwas zu verehren, worin sich der Sternennebel werdender geistiger Welten noch nicht Sonnen und Planeten geformt hat. Diese sonderbare neue Kunst, die in unverständlichen Bildern und noch unverständlicheren Dichtungen nach Ausdruck ringt, bewegt sich auf der Grenze, wo die Mechanik einer klug ersonnenen Maschine und die irrationale Welt der losgelassenen Willkür einander bedrängen. Diese Kunst gehört zu unsrer Zeit, in der sich alle Elemente der rechnenden Sachlichkeit und der anarchischen Verstiegenheit mischen. Und darum sind auch die Triebkräfte dieser neuen Kunst nicht Laune oder Mode, sondern das Fordernde, Fragende und so oft Quälende an ihren Erzeugnissen ist es, daß uns ein starkes Gefühl sagt: „Hier ist am letzten Ende doch eine Notwendigkeit, hier sind doch Entwicklungsreihen, durch die wir hindurch müssen, hier beginnt eine neue Wüstenwanderung, von der wir gewiß gern glauben möchten, daß ihr Ziel das gelobte Land sein wird. Aber einstweilen führt der Weg nur selten an Oasen vorüber.

             Berlin ist der rechte Standort zur Beobachtung aller dieser wirbelnden, gärenden, kochenden Dingen, die in einem zwangsläufigen, dialektischen Entwicklungsprozeß immerfort sich selbst eliminieren, um dann in neuen Formen stets mit derselben revolutionären Auflehnung die ruhigen Bürger zu kränken, die Gleichgültigen aufzurütteln, die Jugend zu entflammen und zuletzt mit dem abermaligen Beweis für das Mißverhältnis zwischen dem Gewollten und dem Gekonnten das Bedauern darüber zu verstärken, daß immer nur Vorläufer und Verheißer kommen und gehen und daß kein erlösender Vollender bisher gefolgt ist. Es gibt hier eine breite, empfängliche, in jedem Augenblick für die gewagtesten Sachen zu gewinnende Schicht, die sich um die Novembergruppe und um Herwarth Walden und seinen „Sturm“ gruppiert, die es gläubig verschluckt, wenn auf einem Bilde Zündholzreste und Korkstücke die Aufgabe der plastischen Erläuterung zu erfüllen haben; wenn ein hingeschmiertes Farbenfurioso, das aussieht, als ob ein Esel mit seiner Schwanzquaste von hinten her auf der Leinwand phantasierte, eine „Frau in der Erinnerung glücklich besonnter Tage“ oder sonst was darstellen soll oder wenn dadaistisches Lallen zweifeln läßt, ob man es mit Narren oder mit spitzbübischen Spöttern zu tun hat. – Aber von der Verwegenheit dieser Gattung soll hier nicht gesprochen werden, wir wollen nur von der Bühne sprechen.

             Dieser Winter hat eine lange Reihe von Stücken gebracht, mit denen der Expressionismus in seinen kühnsten Formen zum Worte kam. Allen diesen Darbietungen, die im einzelnen aufzuzählen, kein Bedürfnis vorliegt, ist eine Besonderheit gemeinsam: die Beherrschung durch einen regieführenden Diktator. Wer hat früher viel nach dem Regisseur gefragt? Er war gewiß notwendig, aber man sah ihn als den Techniker an, der für den leichten Gang der Maschine zu sorgen hatte; heute ist der Regisseur die mitdichtende, mitspielende Seele der Bühne, der Kapellmeister, dessen Feldherrnstab Nerven zum Schwingen, Stimmungen zum Tönen, unnennbare Vibrationen zum vergeistigten Klingen zu bringen vermag. Die Schauspieler sind seine Instrumente, der dekorative Rahmen ist eines seiner stärksten Ausdrucksmittel. Der Regisseur ist plötzlich aus der Anonymität herausgetreten, man nennt und kennt ihn, und auch das große Publikum weiß, daß Karlheinz Martin vom Deutschen Theater, Jeßner und Berger vom Staatstheater und Meinhard vom Theater in der Königgrätzstraße gegenwärtig die Spielleiter sind, die mit der sublimsten Einfühlung ihn ihre Aufgabe die intensivste Musikalität der Wiedergabe verbinden. Der auffrischende Geist der neuen Kunst durchdringt die Dramen auch der Vergangenheit, sie blühen in seinem belebenden Anhauch zu Gebilden auf, in denen wir Seele von unsrer Seele wiederfinden. Darum wirkt die Aufführung von „Richard dem Dritten“ im Staatstheater mit Kortner als Richard so aufwühlend, weil wir in dieser Kühnheit, die so gut wie ganz ohne Dekoration und jedenfalls völlig ohne historische Kostüme arbeitet, etwas vom Wesen der Zeit entdecken, nämlich die rücksichtslose Befreiung von der Tradition, das Vordringen auf den letzten Kern und Gehalt, die Lust, überall von vorn zu beginnen. Selbst wo dieser Wagemut über das Ziel hinausschießt, wie in der merkwürdigen Aufführung der „Jungfrau von Orleans“ im Deutschen Theater, bleibt er noch gewinnreich. Denn es kam hier zum starken Ausdruck, daß sich diese Tragödie auf dem Grunde einer visionären Verstiegenheit abspielt, und wenn die hysterische Verzückung der Johanna in Helene Thimigs Darstellung seltsam erregte, so war die Bühne vollends in eine beunruhigende Mystik eingehüllt, so oft es dem Regisseur Karlheinz Martin gefiel, den Gang der Handlung, ja den Verlauf einer Szene durch wechselnde, sachlich ganz unmotivierte, aber stimmungsmäßig beglaubigte Beleuchtung gleichsam symphonisch aus dem Bereich der Worte in ein malerisches Gebiet zu transponieren. Wir haben ähnliche Wirkungen bei Bergers „Tasso“ – Aufführung im Staatstheater – erlebt, wo gleichfalls die Begier, den dunkelströmenden Untergrund des Geschehens bloßzulegen, uns unmittelbar an das Werk heranführt, nachdem der Reiz des Kostümlichen und alles sonstigen historischen Beiwerks mit Bedacht ausgeschieden worden ist. Wie in diesem Zeitalter neuer Bühnenkunst die schauspielerischen Talente üppiger als seit langem gedeihen, so bildet sich jetzt eine Generation von // Regisseuren heran, deren Aufstieg man mit wachsender Teilnahme verfolgt. Zu ihnen gesellt sich nunmehr auch einer der Spielleiter an der Volksbühne, Jürgen Fehling, dessen jüngste Leistungen (Rabindranath Tagores „Postamt“, Shakespeares „Komödie der Irrungen“) eine schöne und reife Begabung zeigen. Sie geht, was besonders wohltuend ist, ihre eigenen Wege, sie verschmäht die Nachahmung.

             Von den Dramen, die auf den Wegen des Expressionismus gehen, sind es drei, über die hier einiges gesagt werden mag: „Chauffeur Martin“ von Hans Rehfisch (im Deutschen Theater), „Der Kreuzweg“ von Karl Zuckmayer (im Staatstheater) und „Jenseits“ von Hasenclever (in den Kammerspielen). Die Verfasser der beiden ersten Stücke sind Studenten. Es ereignete sich bei der Aufführung der Tragödie von Rehfisch das Seltene, daß ein rein expressionistisches, um die Wirklichkeit des Lebens ganz unbekümmertes Drama die Gunst des Publikums durch ungemein geschickte Technik und durch grelle Deutlichmachung der symbolischen Zutaten zu gewinnen verstand. Der Expressionismus wird in diesem Drama popularisiert, aus einem mühsamen Ringen um neue, vertiefte Ausdrucksformen wird er plötzlich zu einer gemeinverständlichen Mode.

             Der Chauffeur Martin hat an irgendeinem Jahrestage der Republik mit seinem Auto einen Menschen überfahren und getötet, der blindlings in den Kraftwagen hineingerannt war. Der Chauffeur wird freigesprochen, aber in dem einsamen Grübler bohrt der Wurm des Zweifels. Er hat unwissentlich Böses tun müssen, also will Gott das Böse und nicht das Gute, also muß sich der Mensch gegen Gott auflehnen, also muß er sich selbst durch gründliche Vernichtung alles Lebens aus der Welt schaffen, um den vereinsamten Gott zur Verzweiflung zu treiben. So geht der Chauffeur Martin unter die Einbrecher, Räuber und Anarchisten; viel Volk fällt ihm zu, selbst Richter und Ärzte bekehren sich zu ihm; in einer regelrechten Gerichtssitzung wird Gott vielstimmig angeklagt, aber in dem Elendsten von allen, in einem Krüppel, ersteht ihm ein glühend-lobpreisender Anwalt, und als Chauffeur Martin von der Ekstase des Krüppels hingerissen wird, streckt ihn der Pistolenschuß eines fanatischen Anhängers nieder. – Macht dies sonderbare Stück einen errechneten und erklügelten Eindruck, so tritt hier doch auch ein starkes Talent vor den angenehm interessierten Zuschauer hin. Es ist freilich heute kein besonderes Wagnis mehr, diese zuerst von Strindberg vorgezeichneten, von den deutschen Expressionisten weiter ausgebauten Bahnen der supranaturalistischen Andeutungen und der mystischen Klänge und Stimmungen zu gehen, indessen geschieht es hier mit Geschmack und Klugheit, wofür allerdings Erschütterungen und seelische Bereicherungen völlig ausbleiben. – Die Darstellung traf unter der einfühlenden Regie von Karlheinz Martin den gewollten Ton eines phantastischen Schwebezustandes zwischen Realität und zeitloser Ferne sehr gut.

             Aber seltsam, es bekommt den neuen Dramen nicht sonderlich, daß sie verstanden werden oder, wie beim „Chauffeur Martin“, allenfalls noch verstanden werden können; es muß um sie ein Hauch der Unbegreiflichkeit wittern, jede Realität muß eingestampft oder aufgelöst werden – es muß in ihm rätselhaft urtümlich raunen und klingen; das fordern wir von dieser Kunst, darauf warten wir mit Sehnsucht. Es ist ein wunderlicher Zustand. Wir lächeln über das expressionistische Drama der Irrealität und der musikalischen Stimmungsschwingungen, aber das fühlen wir immer wieder mit sonderbarer Ergriffenheit: Hier verlangt etwas Neues nach dem Licht, hier ist Sturm und Drang, und wir fragen, ob die Zeit wie damals reif sei für einen neuen Heilsbringer. Inzwischen wandert vor dem Kommenden mancher her, der vielleicht ein Johannes werden könnte. Vielleicht auch könnte der Heidelberger Student Karl Zuckmayer ein solcher werden. Sein „Kreuzweg“ im Staatstheater gehört zu den stärksten Eindrücken dieser Spielzeit. Das ist nun ein Stück, von dem sich eigentlich gar nichts sagen läßt. Was kann man vom Gesang einer Drossel sagen? Was von der Schönheit eines Rosenblattes? […] Es geschieht nichts, aber es geschieht alles, was als menschliches Erleben möglich ist man versteht nichts, aber man versteht, warum Rätsel sein müssen, die nicht aufgelöst werden können. Und für ein solches Stück, das alles andre als ein Drama ist, die völlig widerspruchslos Achtung des Publikums zu erzwingen, das ist denn wohl eine Leistung, auf die das Staatstheater Jeßners und Bergers stolz sein darf. Aber auch das Publikum darf mit sich zufrieden sein.

             Das Publikum hat freilich auch Hasenclevers „Jenseits“ ertragen, und das spricht mindestens für seine Wohlerzogenheit. Denn in diesem fünfaktigen Unfug, in dem zwei Menschen, Raoul und Jeanne, und niemand sonst endlos reden und reden und nur darum zu reden aufhören, weil Raoul Jeanne totsticht, schneidet der Expressionismus sich selber eine Fratze, und man weiß nicht, ob es sich oder uns verspotten will. Dem Liebespaar wird sein Glück ein bißchen arg verleidet durch den Geist des im Bergwerksstollen verunglückten Mannes. Man sieht ihn als Lichtfleck an den Wänden, er huscht durch die Räume, er poltert und klopft gern. Aber das ist nicht weiter schauerlich, mit seiner erklügelten Scheinwirklichkeit läßt es uns völlig gleichgültig. Dafür wirkt um so aufreizender die Unverständlichkeit der Wechselreden, die, wenn man sie doch irgendwo zu fassen vermag, eine einzige schleimige Trivialität sind. […] Indessen lohnt es sich, zu hören, was Hasenclever über seine Kunst zu sagen hat. Es gibt ein neues Stück von ihm, „Die Menschen“, und dort schreibt er im Vorwort:

             „Es liegt dem Verfasser nichts an der Meinung, der Zuschauer müsse am Ende der Aufführung die Vorgänge auf der Bühne verstanden haben. Die Gesetze jahrhundertelanger Überlieferung sind gesprengt. Die Versuche der Chemie, alle Elemente auf ein Element zurückzuführen, kommen der Alchemie näher, als die öffentliche Meinung zugeben möchte; der Umsturz der Begriffe von Raum und Zeit, Energie und Materie in der Physik, die Errichtung der vierten Koordinate in der Mathematik bestätigen die Lehre der Geheimwissenschaften… Was geht in diesem Schauspiel vor? Ein Ermordeter steigt aus dem Grabe, ein Mensch in des Wortes tiefster Bedeutung, ein Unerlöster, Unvollkommener, ein Debet im großen Schuldbuch der Welt. Wäre sein Leben vollendet gewesen, er hätte am Messer nicht sterben können; seine Schuld war, daß er sterben konnte; er geht beladen mit seinem Haupte, das ihm der Mörder überreicht, zur Sühne an des Mörders Stelle durch die Welt, ein Doppelgänger, bis er die ewige Ruhe findet. „Ich habe getötet,“ beginnt das Schauspiel, „ich liebe“, so endet es. Der Zuschauer, der im Theater sitzt, versuche, sich in das Stück zu verwandeln. Er empfinde am eigenen Leibe die magische Kette von Blut und Wahnsinn, Liebe, Haß, Gewalt und Hunger, Herrschaft, Geld und Verlogenheit. Er ahne im Anblick dieser Leiden den Fluch der Geburt, die Verzweiflung des Todes; er verliere die Logik seines Jahrhunderts; er sehe ins Herz der Menschen!“

             Wenn Hasenclever nur das könnte, was er möchte! Es ist gewiß, daß er es nicht kann, er so wenig wie Georg Kaiser. Aber Dichter wie Karl Zuckmayer sollen uns eine Hoffnung sein.

In: Neues Wiener Tagblatt, 15.3.1921, S. 2-3.

Josef Gregor: Republik und Theater

             Es ist kein Zweifel mehr: Unser Leben hat sich geändert. Der schwerfällige Wiener denkt dabei zunächst an den bitteren Unterschied der Kost von einst und jetzt und kämpft einen harten Kampf, jede seiner Gewohnheiten in die sogenannte neue Zeit hinüberzuretten. Es wird aber nicht dabei bleiben. Die Einstellung auf das alte Österreich, uns allen noch gründlich im Blute, wird weichen und einem unbekannten, geheimnisvollen Neuen zur Gänze Platz machen. Die Speisekarte wird noch oft geändert werden.

             Dieses Neue, so unbekannt es ist, und so zaghaft unsere Schritte in die neue republikanische Ära sein mögen, muß doch irgendwie in uns geschlummert haben, denn selbst ein so unerhörter wirtschaftlicher und militärischer Zusammenbruch vermag eine so unerhörte Revolution nur unzureichend motivieren, wenn wir nicht seelische Kräfte annehmen, die dahin zerrten. Wir in Österreich sind mit einer Erklärung ja bald zur Hand: Das waren die Nationen, de nach der großen verlorenen Schlacht binnen weniger Wochen das „unteilbare und untrennbare“ Gefüge dieses alten Staates zerissen. Bleibt eben noch immer die Erklärung zur Republik, vermutlich bis heute die einzige Einmütigkeit der alten Volksgenossen, als nicht ganz erklärter Rest. Vollends in Deutschland wird es schwer, sich den auch in der kürzesten Zeit bewirkten Wechsel von straffstem, musterhaftesten Imperialismus und linksstehender Republik auch nur vorzustellen, dazu mit der unberuhigten Neigung zu weiterem, blutigen Bürgerkrieg. Rache an der alten Ordnung der Dinge, die möglichst durcheinandergeschüttelt werden soll, um das Neue, immer dieses geheimnisvolle Neue, aussichtsreich aufzubauen? Der Nachahmung des östlichen Beispiels, dieses offenbar unerfreulichen Lichts aus dem Osten, über das wir jahrelang gestaunt und gelächelt haben?

             Es gibt natürlich tausend Erklärungen. Der Politiker, der Nationalökonom, der Historiker, sie werden nicht verlegen sein. Wir tun ja nichts als erklären. Wir bewegen uns zwischen Kohlensorgen und Vermögensabgabe und trachten, unser Leben den neuen Tendenzen gemäß zu regulieren und gewiß gibt es auch solche, denen vor der eigenen Gottähnlichkeit bange ward. Indessen, man regt sich und fordert. Man organisiert sich bis zur Taferlklasse hinab, wählt Räte und Räte. Und was das Erstaunlichste ist: Man erreicht sogar! Freiheit des gesprochenen, geschriebenen, gemalten Wortes war ein Federstrich, warum sollten nicht mehr folgen? Kühner denn: Weg mit dem abgeblaßten Mediceertum, das der Kunst solange trübe geleuchtet hat, weg mit der Protektion, die sich mit so unfehlbarer Sicherheit die Ungeeigneten holte, weg mit Clique und Klüngel, die sie monarchisch regierten – dem freien Volk eine neue Kunst! Wobei man – und das ist ja das wirklich Schönste an der // Republik – nicht vergessen darf, daß der Republikaner diese Forderungen an keine höhere Macht mehr richten kann als an sich selber, freilich eine Weisheit, die dem geborenen Österreicher erst nach einer Weile aufgehen wird.

             Der Gedanke liegt nahe, Macht und Wirksamkeit der neuen Schlagworte – wobei der Ausdruck durchaus nicht abfällig genommen zu werden braucht! – auch an jener Kunst zu erproben, die stets als der deutlichste Spiegel des Lebens genommen wurde, an der geheimnisvollen, fluktuierenden, lebendigen Kunst des Theaters. An dieser Kunst, die sich nicht mit einem gelungenen Vers oder einem guten Bild oder gar einer schönen Attitüde der Ausdruckstänzerin erschöpft, sondern die etwas von einer Volksversammlung, einem Ball, etwas von einer Messe und etwas von einem Geschäft hat, also schon darum geeignet, unser Leben zu symbolisieren, an dieser Kunst, die darin besteht, Tausende zu Tränen zu rühren, während man an die unerschwinglichen Preise des Schuhzeugs denkt, an dieser Kunst, wo ein Schrei Gold sein kann und ein unechtes Atmen ein Hinauswurf, die läutert, indem sie demütigt, beglückt, indem sie ärgert, mit einem Firlefanz von falschen Bärten zu den Sternen erhebt und mit dem letzten Vorhang unweigerlich, aber auch unwiederbringlich zu Ende ist. Trug auch unser Theater den Keim der Republik in sich und wie gedenkt es sich mit dem plötzlich zauberhaft ausgewachsenen Baum zu verhalten?

             Zunächst: innere Hemmungen kennt das Theater nicht. Man konnte schon früher auf denselben Brettern ohne Scheu Gorkys Nachtasyl neben Schönthans Maria Theresia spielen, am selben Tage sogar, und es ist einfach nicht abzusehen, was entstanden wäre, hätte Hamlet nicht solche, sondern eitel monarchistische Verse in die Rede des ersten Schauspielers geflickt. Diese Charakterschwäche ist natürlich seine Stärke. Wir werden dieses stärkste Instrument auf den Geschmack der Masse bereit zu allem finden, die Frage ist nur, wie wir es handhaben. Wir haben solange Detektivstücke im Kino angesehen, bis wir uns eines Tages wunderten, wie gut man zu rauben verstand. Im Gegenteil aber wußten die römischen Cäsaren genau, warum sie ihre Macht, Menschen verbluten zu lassen, mit Vorliebe im Theater demonstrierten, und kein deutscher Fürst, der sich nicht gerne mit einem Hoftheaterchen drapierte, Lenin oder die Sowjets haben denn auch sofort irgend welche Schritte getan, um durch die Theater den „Bauern“ die Kunst zuzuführen und die ungarische Kommune ließ es als eine ihrer ersten Sorgen sein, noch vor der Zahlungseinstellung die Theater zu requirieren. Man applaudiert füglich zu allem.

             Das Theater wieder braucht die Tendenz wie wir die Lebensmittel. Aus der sprühendsten Comédie wird ein nüchternes Lustspieltheater, wenn die Coquelins ausgehen. Wir müssen gar nicht so weit gehen – war es doch alltäglich, daß ein Theater mit guten literarischen Anlagen plötzlich zur Operette abbog, weil die einzige Tendenz einer gewissen geduldigen Stadt die seidenbestrumpften Beine der Choristinnen waren. Unsäglich viel ist über den Rück//gang der ersten deutschen Bühne geredet und geschrieben worden und alles waren nur Glossen zu der alten Weisheit, daß man keine Bühne der Welt mit wehmütigen Erinnerungen allein speisen kann, sondern nur mit der Tendenz, mit dem Gedanken, der auf das Leben gestellt ist. Umgekehrt hat so mancher vor Jahren dem schlichten, alten Haus in der Schumannstraße in Berlin ein unrühmliches Ende geweissagt. Aber siehe da – ein eifriger Direktor holte sich Material aus der mächtig aufsteigenden Moderne, scheute sich nicht, mit Kühnheit zu verblüffen, seine Leute zu dressieren, jenes Geschimpf zu erregen, das beim Theater immer die Vorbedeutung des Erfolgs ist, übertrieb maßlos um wenigstens etwas zu retten – und landete wohl oder übel dort, wo von Rechts wegen die „erste deutsche Bühne“ hätte sein sollen; ein einer stark tendenziösen Stilkunst, der sich kein Theater, aber auch kein Zuschauer der Welt mehr entschlagen konnte.

             Absichtlich ist hier vermieden, die Namen zu nennen, die allerdings auch so deutlich sind, weil es ja nicht um Lob und Tadel geht, sondern um die Kräfte, die aus diesen Häusern hervorgehen und die wir in sie hineintun. Und man sieht, es ist immer noch ein bißchen so, wie in den alten Zeiten der Karren mit den grüngestrichenen Rädern. Man zahlt sein Geld und geht hinein. Man lacht oder weint, klatscht oder pfeift, je nachdem. Daß es aber zweierlei ist, den Geschmack des Publikums glatt zu befriedigen oder die große Tendenz zu bestätigen, hat schon bei Goethe Direktor und Dichter entzweit. Man kann aber, gewitzigt durch mehr als ein weiteres Jahrhundert, hinzufügen: Wehe dem Herren der Gaukler, der Lieb und Hassen, der die Tendenzen seines Gottes Publikum nicht ebensogut verstünde wie die leichtbewegliche Seele seiner Komödianten und der nicht entschlossen wäre, in beiden in gleichem Streben zu modellieren. Es wäre Shakespeare übel gestanden, inmitten seines von allen Kräften der Renaissance durchbebten Zeitalters bei den Untiefen der Marlow und Chapman zu verharren und keine Truppe von heute kann daran vorbeispielen, doch diese Zuhörer, wenn sie auch willig zu allem kommen, innerlich doch durchbebt sind von Leiden, Entbehrungen, Mühsalen, Gefahren – von Gewalten, die wiederum Ernst verlangen und sich nichts vorspiegeln lassen, sozusagen Schattentänze und Fahrten ins Blaue. Und wehe auch dem Publikum, das solche Spiegel für rein hält und das Theater, das nicht seines Geistes ist, nämlich seines besseren, freiheitlichen Geistes, nicht sofort und nachdrücklichst ablehnt, nicht eben mittels Referendum, aber mit dem Selbstbestimmungsrecht des Geschmackes, das älter ist als jenes andere.

In: Der Merker H. IV (1919), S. 668-670.

Arnolt Bronnen über den Autor

Aus: Das Theater der Gegenwart (Aus Gesprächen mit Arnolt Bronnen, Bert Brecht und Hans J. Rehfisch)

             *GF. „Zum erstenmal seit zweitausend Jahren ergibt sich die Tatsache, daß dem Autor heute die ausschlaggebende Bedeutung am Theater fehlt. Selbstverständlich wird die Rolle des Autors immer die ursprüngliche sein und bleiben; denn kein Theater kann ohne Autor auskommen. Auch ein Theater wie die Piscator-Bühne braucht einen Mann, von dem die Idee zu einem Stück, zu einer Inszenierung ausgeht. Nur dies hat sich erstmalig und entscheidend geändert: Der Dramatiker, früher auch die Mutter des Theaters, ist jetzt nur noch der Vater. Ferner: Je höher das allgemeine Sprachniveau eines Volkes wird, um so wichtiger wird der Text. In immer stärkerem Maße muß es die Aufgabe des Dramatikers werden, Situationen zu erfinden und Schicksale zu schaffen. Er wird immer mehr Ingenieur und Feldherr und immer weniger Philologe und Poet.

             Was man bisher an neuen Stoffen geschaffen hat, sind eigentlich nur Milieuveränderungen. Man hat wohl – um nur zwei Beispiele zu nennen – den Flieger oder den Chauffeur auf die Bühne gebracht, aber als alte Charaktere im neuen Milieu, und noch nicht den neuen Charakter gezeigt, den die neuen Tätigkeiten schaffen müssen. Man hat ihn in Beziehungen zu anderen Menschen gebracht und daraus ein Schicksal konstruiert. Man hat aber noch nirgends die Aktivität der Maschinen gebracht. Es fehlt das Gegenüber: Seele des Menschen und Seele des Motors.“

In: Der Tag, 29. 4. 1928, S. 8.

Karel und Josef Čapek: Wie ein Theaterstück entsteht.

Mit Zeichnungen von Josef Čapek.

1. Die ersten Anfänge.

            In seinen ersten, ursprünglichen, tastenden Anfängen entsteht das Theaterstück natürlich außerhalb des Theaters, auf dem Tisch des ehrgeizigen Autors; ins Theater gelangt es zum erstenmal, wenn der Autor annimmt, daß es fertig ist. Natürlich zeigt sich’s bald (nach einem halben Jahr etwa oder so), daß es nicht fertig ist; denn im günstigsten Fall wandert es dann zum Autor mit der Aufforderung zurück, daß er es kürze und außerdem den letzten Akt umarbeite. Aus irgendwelchen geheimen Gründen ist es stets der letzte Akt, der überarbeitet werden muß, ebenso wie es immer der letzte Akt ist, der auf der Bühne bestimmt versagt; darin ist sich die Kritik mit seltener Übereinstimmung einig, da sie die Schwäche des Stückes immer im letzten Akt entdeckt. Es ist verwunderlich, daß die Dramatiker, trotz dieser stets gleichbleibenden Erfahrung darauf bestehen, daß ihr Stück überhaupt einen letzten Akt hat. Es sollte einfach gar kein letzter Akt geschrieben werden. Oder der letzte Akt sollte grundsätzlich abgeschnitten werden, wie man es mit dem Schweif der Bulldoggen macht, der ihre Gestalt verdirbt. Oder das Stück sollte umgekehrt gespielt werden, der letzte Akt am Anfang und der erste Akt, der stets als der beste anerkannt wird, zum Schluß. Kurz, es müßte etwas geschehen, damit von den Theaterautoren der Fluch des letzten Aktes genommen werde.

            Wenn daher der letzte Akt zweimal oder dreimal zusammengestrichen und überarbeitet und das Stück angenommen worden ist, so beginnt für den Autor die Wartezeit. Es ist die Periode, in der der Autor aufhört zu schreiben und überhaupt etwas zu tun, wo er nicht einmal imstande ist, die Zeitung zu lesen, noch in den Wolken zu leben, zu schlafen oder die Zeit totzuschlagen; denn er lebt in der Trance des Wartens, daß er gespielt wird, wann er gespielt wird, wie er gespielt wird usw. Mit einem Autor, der sich erwartet, kann man überhaupt nicht reden; nur ganz abgehärtete Autoren sind imstande, ihre Unruhe zu unterdrücken und sich so zu benehmen, als dächten sie teilweise auch an etwas anderes als an ihr angenommenes Stück. Der dramatische Autor stellt sich wahrscheinlich vor, daß der Theaterdiener schon hinter ihm steht, währenddem er das Stück zu Ende schreibt, und daß er atemlos bestellen komme, der Herr Autor möge um Gottes willen den letzten Akt schon schicken, da übermorgen die Première sein soll und er, der Bote, ohne den letzten Akt nicht zurückkommen dürfe.

            So geht es aber in Wirklichkeit nicht zu: ist das Stück angenommen, so muß es eine bestimmte Zeit im Theater abliegen; dort erreicht es die richtige Reife und zieht, sozusagen, Theatergeruch an. Es muß eine Zeitlang schon aus dem Grund abliegen, daß es als die „mit Spannung erwartete Uraufführung“ angekündigt werden kann. Manche Autoren greifen rücksichtslos in diesen Prozeß des Reifens mit persönlichen Urgenzen ein, die zum Glück keine Wirkung haben. Man muß der Sache den natürlichen Lauf lassen. Wenn das Stück genügend abgelegen ist, beginnt es verdächtig zu riechen. Dann muß man damit hinaus auf die Bühne, d. h. zunächst in den Probesaal.

[Wir beginnen mit der Veröffentlichung einer Artikelserie, in der die berühmten tschechischen Dramatiker ihr Theaterweltbild entwickeln, vom ironischen Standpunkt des Autors gesehen]

2. Die Leseprobe.

            Sind Sie ein Bühnenautor oder beabsichtigen Sie einer zu werden, so rate ich Ihnen, nie zur ersten Leseprobe zu gehen. Es ist ein niederschmetternder Anblick. Es kommen sechs oder acht Schauspieler zusammen; sie sehen todmüde aus, gähnen, ihnen ist kalt; sie stehen oder sitzen in kleinen Häufchen und husten halblaut vor sich hin. Dieser düstere, heißere Moment dauert etwa eine halbe Stunde; endlich ruft der Regisseur: „Meine Damen und Herren, fangen wir an!“

            Der todmüde Chor nimmt an einem wackeligen Tische Platz.

            „Der Wanderstab, Lustspiel in drei Akten“, beginnt der Regisseur und leiert das Szenarium schnell hinunter. Ein armes, bürgerliches Zimmer. Rechts die Tür ins Vorzimmer, links ins Schlafzimmer. In der Mitte ein Tisch usw. Georg Danesch tritt ein.

Autorisierte Übertragung von Anna Auředniček, Wien.

            Nichts.

            „Wo ist denn Herr X?“ fährt der Regisseur auf, „weiß er denn nicht, daß wir Leseprobe haben?“

            „Er probiert auf der Bühne“, brummt jemand voller Unlust.

            „So werde ich seine Rolle lesen“, entschließt sich der Regisseur. „Georg Danesch tritt ein. Klara, mir ist etwas Unerwartetes geschehen. – Klara.“

            Nichts.

            „Sakrament“, sagt der Regisseur, „wo ist denn die Klara?“

            Nichts.

            „Wo ist Frau Y?“

            „Vielleicht ist sie krank?“ spricht eine Grabesstimme.

            „Sie ist auf ein Gastspiel gefahren“, hetzt ein Zweiter.

            „Gestern hat mir die Marie gesagt“, fängt jemand zu erzählen an, daß –“

            „So werde ich die Rolle der Klara lesen“, seufzt ergeben der Regisseur und leiert schnell, als jage jemand hinter ihm her, den Dialog des Georg Danesch und der Klara herunter. Niemand hört ihm zu. Am andern Ende des Tisches entwickelt sich ein leises Gespräch.

            „Die Katuscha tritt ein“, atmet endlich der Regisseur erleichtert auf.

            Nichts.

            „Na also, Fräulein“, schimpft der Regisseur, „geben Sie doch Acht! Sie sind doch die Katuscha oder nicht?“

            „Ich weiß,“ erwidert das Fräulein Naive.

            „So lesen Sie. Erster Akt. Die Katuscha tritt ein.“

            „Ich hab‘ die Rolle zu Hause vergessen“, erklärt schalkhaft das Fräulein Naive.

            Der Regisseur brummt etwas Entsetzliches und sagt selbst den Dialog der Katuscha und der Klara her. Er brabbelt schnell, so wie der Priester bei einer Armenleiche das Vaterunser betet. Nur der anwesende Autor zwingt sich zuzuhören; sonst spielt sich die Sache bei allgemeinem Desinteressement ab.

            „Gustav Včelak tritt ein“, schließt der Regisseur mit einem heiseren Aufschrei.

            Einer der Mimen fährt zusammen, sucht seinen Zwicker in allen Taschen; nachdem er ihn aufgesetzt hat, blättert er in der Rolle. „Welche Seite?“, fragt er endlich.

            „Die sechste.“

            Der Mime wendet die Seiten und beginnt mit tragischer Grabesstimme seinen Part herunterzulesen. „Mein Gott,“ entsetzt sich der anwesende Autor, „das soll ein lustiger Bonvivant sein! Währenddessen sagen der die Klara vertretene Regisseur und der den lustigen Bonvivant spielende Mime düster die Antworten auf, die ein funkelnder Dialog sein sollen.“

            „Wann kommt Ihr Gutte zurück?“ liest der Mime mit ersterbender Stimme.

            „Gatte“, verbessert der Regisseur.

            „Bei mir hier steht Gutte“, beharrt der Mime.

            „Das ist ein Fehler beim Abtypen, bessern Sie’s aus.“

            „Man soll ordentlich abschreiben“, entgegnet der Mime voll Widerspruch und wühlt mit dem Bleistift in seiner Rolle.

            Indessen kommt eine gewisse Bewegung in den agonisierenden Chor; und es heißt plötzlich: Warten! In einer Rolle fehlt ein Satz; warten! Hier ist ein Strich von … „es war die erste Liebe“ bis „sie essen gern“; warten, die Rollen sind vertauscht. So, jetzt weiter; knurrend, stolpernd, erschöpft läuft der Text der mit Spannung erwarteten Uraufführung. Wer seine Rolle heruntergesagt hat, packt zusammen und geht seines Weges, wenn auch nur mehr drei Seiten bis zum Schlusse fehlen. Wie es scheint, interessiert es niemand auch nur im geringsten, wie das Ganze ausfällt. Schließlich ist das letzte Wort des Stückes gesprochen und Stille tritt ein; eine Stille, in der das Stück von seinen ersten Interpreten abgewogen und beurteilt wird.

            „Was für ein Kleid soll ich dazu anziehen?“, kräht die Heldin des Stückes inmitten des schweren Schweigens.

            Der Autor taumelt hinaus; er ist von der Überzeugung erschüttert, daß bisher in der Weltgeschichte niemals ein so graues, erfolgloses Stück geschrieben worden ist wie das seine.

In: Die Bühne, Nr. 168, 26.1.1928, S. 14-15.