Alexander Lernet-Holenia: Analyse des Publikums

Alexander Lernet-Holenia: Analyse des Publikums (1926)

Seit der Zeit des eigentlich großen, abendländischen Theaters, des elisabethinischen also etwa in England, des französischen in Versailles, des spanischen mit Calderon und der alles andere befruchtenden Variabilität des italienischen des 17. Und 18. Jahrhunderts, geht der Erfolg eines Stückes immer mehr auf den Zufall zurück als eigentlich auf bewußte Kunst und Fähigkeit des Dichters und der Schauspieler. Je größer, je ausgebreiteter ein Erfolg, wenn er nur überhaupt eintritt, im Vergleich zu früher heute sein kann, je unbestimmter und zufälliger, je unbekannter ist die Art geworden, auf die er herbeizuführen ist. Der Begriff dessen, was auf den Bühnen wirkt, ist völlig ins Schwankende gekommen, das Gute, oberflächlich betrachtet, steh schon im Gegensatz zum Wirkungsvollen, und Stücke sind im voraus auf ihre Wirksamkeit fast nicht mehr einzuschätzen. Unsere Zeit, als die eines Übergangs, läßt künstlerische Dramen immer weiter hinter sich und tendiert zu den natürlichen, in denen die Kunst zwar insgeheim mitwirkend notwendig ist, allein niemals sich auch als solche aussprechen darf. Wo man diese Direktion auch erkennt, hat man doch noch immer nicht das Herz, sich das Ältere, offensichtlich Künstlerische sozusagen aus dem Leib zu schneiden. 

Schulen des Theaters, der Politik, der Religion waren gut für Zeiten von langem Bestand, in denen ältere Erfahrung irgendwie immer noch weiterhin gültig blieb. Heute, in so eminenter Veränderung der Welt, existiert Erfahrung fast nicht mehr. Wer jetzt auf Publikum angewiesen ist, muß in großer Schnelle aus demselben Tag selbst alle jene Kenntnis ziehen, die am selben Abend vor den Leuten wirken soll. 

Es ist damit nicht gesagt, daß die Welt fortwährend in solcher sich überstürzender Veränderung weitergehen würde. Völlig verändert aber, wie sie ist, hat alles, was mit ihr und den Leuten zu tun hat, erst neu erkannt zu werden. So bedeutet auf dem Theater Genialität des Autors und der Schauspieler allein so lange nichts, als sie überhaupt eigentlich nicht wissen, vor wem sie ihre Stücke spielen; den dieses ihr Publikum ist vor dem den Jahres 1900, auf das sie alle noch eingestellt sind, weiter entfernt, als das Schillers von dem des Shakespeare. 

Völlig unvorbereitet freilich, veralteter als alles klassizistische und etwa von solchem Bezug zu wirklichem Schauspiel wie eine Gipsfigur zu einem griechischen Marmor, trat das Theater in die Veränderungen dieser Jetzt-Zeit ein. Es hatte ja schon damals angefangen, so zu sein, wie es bis vor zehn Jahren blieb, als Goethe, das große theatralische Antitalent, die Bühnen von Weimar und Lauchstadt unter seine enorme Persönlichkeit unterwarf und von dort aus überallhin sich auswirkte. Dieser Mann ist dem Theater teuer zu stehen gekommen und als, wegen des Auftretens eines gewissen Pudels, der vielleicht immer noch theatralischer gewirkt haben möchte als der Egmont, er die Intendanz hinwarf, war es schon zu spät. Er hatte ein Publikum von Hofräten herangezüchtet, ein total unnatürliches, und das blieb und blieb und überdauerte das Jahrhundert, verdarb alles und ist immer noch stark genug, alles Natürliche des Neuen zu verwirren und schwankend zu machen, womit allerdings nicht gesagt sein soll, daß das meiste Neue nicht höchst unnatürlich wäre. 

An jenes klassizistische Publikum sind die Theaterleute nun noch so ausschließlich gewöhnt sich zu wenden, daß sie das moderne kaum erst begreifen. Wenn das klassizistische Theater für alles eher als für ein wirkliches Publikum da war, so ist das heutige für nichts eher da. Hier nun hätte die augenblickliche Auffassung anzufangen, das Begreifen, was dieses neue Publikum eigentlich sei und wie es sei. Aber da zeigt es sich, daß der Versuch noch nicht im allgemeinen unternommen worden sei, bestenfalls im besonderen, indem es heißt: „Der kennt seine Leute“, oder: „Jener weiß, was die Stadt, in der sein Theater steht, für Aufführungen verlangt“. Aber man wird sich entschließen müssen, das höchst Schwankende des heutigen Theaters zu befestigen. System ins Umgestürzte und Neue zu bringen, damit das Theater über der ganzen gegenwärtigen Konsternation nicht zugrunde gehe. Es wird darauf ankommen, dort anzufangen, wo alles Theater anfängt: nämlich beim Publikum. Man wird alle behindernde Tradition zurücklassen müssen, alles Didaktische, die ganze Sucht, von der Bühne aus das Publikum zu antiquisieren, was es bis vor kurzem noch war: zu etwas Respektvollem vor dem Klassizismus. Aber es gibt nichts Überlebtes, das ein Theater noch bringen müßte, unbedingt bringen, um ein Theater noch zu sein: die deutschen Klassiker am wenigsten. Ein Theater ist nur das, zu dem die Gegenwart es macht. Ein Theater ist nur das, zu dem die Gegenwart es macht. Alle Einbildung, zu einem Spieljahr seien Klassiker unbedingt notwendig, wird sofort falsch, wenn das Publikum eben keine Klassiker will. Ein Theater ist kein Museum für sogenannte Unsterbliche und, wie das Theater heute ist, stört alle solche verfehlte Tradition, dieses ganze Zurückschauen auf etwas nur künstlich existent Gewesenes, den Theaterleuten den reinen Einblick ins Publikum und die klare Anschauung vom Gegenwärtigen und von dem, was aufzuführen jetzt notwendig ist. Viel weniger noch als Direktionen und Schauspieler versteht freilich die junge Generation der Autoren vom Publikum, die sich in einem fort bloß selbst aussagen will und ohne Rücksicht darauf ist, daß die Leute Stücke sehen wollen, nicht Beichten anhören. Aber man wird bald dazu kommen müssen, das Publikum zu analysieren, es anzuschauen und das Erschaute rasch zu überdenken, damit man es erkenne, denn dazu ist keine Zeit mehr, erst zu warten, bis Erfahrung und Versuche von Jahrzehnten ergeben würden, mit was für Leuten denn man’s eigentlich in dem inzwischen erloschenen Theater zu tun gehabt habe. Schon ist fast alles Interesse zu Revuen, zu Films und zu Kabaretts abgewandert, aber die Leute dort zu beobachten, wie sie auf das Dargestellte reagieren, und dann etwas aufs Theater zu bringen, was sie ebenso angeht, mit einem Wort: das Publikum für das man da ist, erst zu kennen, wird von allem dem, was die Theater zu tun haben werden, das Entscheidendste sein. 

In: Der Tag, 23.6.1926, S. 8