Anton Kuh: Von Salzburg bis Leningrad.
Anton Kuh: Von Salzburg bis Leningrad (1928)
Es ist also wieder alles vollzählig da: Max Reinhardts Pensionat der Berühmtheiten, Amerika und Ischl, Alexander Moissi — umflorten Auges dem Anblick des gleichnamigen Tragöden hingegeben, der ihm aus den wiedererkennenden Blicken der Fremden und Einheimischen entgegenschaut —, ich — bis zur Autogrammumworbenheit mit ihm verwechselt —, der ganze Rundreisekongreß berichterstattender Journalisten von Paul Stefaneigentl.: Paul Stefan Grünfeld/Gruenfeld (bis 1906), geb. am 25.11.1879 in Brünn/Brno – gest. am 2.11.1943 in New ... bis Mr. Lincoln Eyre („New York Times“), die Wiener Oper, das New Yorker Geld und der Salzburger Regen. Überschaut man das ganze Ensemble, so kommt es einem auf den ersten Blick etwas zu gesellig, ich möchte sagen: vereinsmäßig vor; als sei der Betrieb nur von seinen Produzenten beigestellt, nicht von den Konsumenten. Aber das mag von der Altgewohnheit des Bildes kommen. Die Hoteliers und der Landesverband für Fremdenverkehr sehen es rosiger; sie sind überzeugt, daß Salzburg dank einer Menge vereinter Bestrebungen und neuer Errungenschaften (Gastspiele ausländischer Truppen, Unsepariertheit der Geschlechter im Leopoldskroner See, sprachenkundiger Polizisten, fließendes Wasser) über kurz oder lang in Europa liegen werde…
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… unter Wahrung der bodenständigen Interessen, versteht sich.
Aber, Himmel, hier liegt ein schweres, fast unlösbares Problem. Nach allem, was ich in den Paar Tagen erlebte und hörte, haben die kunsteuropäischen Bemühungen des Festspieldirektoriums etwa mit Stresemanns Stellung in Genf Ähnlichkeit: hinter ihrem Rücken die Schar der Einheimischen (sprich: Eingeborenen), die den zu erlangenden internationalen und repräsentativen Profit nicht mit der Preisgabe der sogenannten heimatlichen Belange bezahlen wollen — vor ihnen die Fremden, die keineswegs damit zufrieden wären, in Salzburg bloß eine Abart von Bayreuth, Eger, Oberammergau zu erblicken —, zumal sich heute niemand mehr die Schätzung nationaler Eigenart Geld kosten läßt. Die einen empfindlich, schlecht gelaunt, ewig entrüstungsbereit — die andern verwöhnt, skeptisch, snobbisch. Was bleibt dem armen Festspieldiplomaten da zu tun?
Er muß jeden Fußbreit Boden, den er, nach vorn, dem europäischen Kunstrevier abgewinnt, nach rückwärts als Fremdenattraktion und nationale Unverfänglichkeit rechtfertigen; er muß dem Salzburger Stadtkind Mut zusprechen. Nimm das Geld nur, du wirst nicht daran sterben! Und er muß ihm, zum Schluß, Entschädigungen bieten — das sind: Repertoirespenden für den heimischen Charakter. Jedermann von Hofmannsthal genügt da nicht; das dient nur den religiösen Erbauungsbedürfnissen des traveller chek. Hinabgetaucht in die Volkssage und die Landestradition!… Natürlich zahlt der ausgleichsbeflissene Festspieldiplomat gerade auf diese Konzessionen drauf. Denn merkwürdig, aber wahr: auch der kernigste Urkern-Salzburger sieht sich die Räuber unter Reinhardt, ja sieht sich die Iphigenie unter Beer-Hofmann lieber an als das aus bäuerlichen Seelentiefen geschöpfte Perchtenspiel (des übrigens hochbegabten, unverdient zu solchem Beruhigungszweck erkorenen Richard Billingergeb. am 20.7.1890 in Marienkirchen/Schärding - gest. am 7.6.1965 in Linz; Lyriker, Dramatiker, Drehbuchautor B. wurde ...).
Doch soll hier von einem absonderlichen Fall des „Draufzahlens“ die Rede sein — zugleich dem kuriosesten Abenteuer der Festspieldiplomatie.
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Das Direktorium hatte im Frühsommer mit Toscanini und der Mailänder Scala Unterhandlungen angebahnt. Sie verliefen — wunderbarerweise — erfolgverheißend: Toscanini, der, von seiner Amerikafahrt abgesehen, seinen Fuß noch nicht außer Land gesetzt hat und bisher den unwahrscheinlichsten Geldverlockungen widerstand, schien bereit, nach Salzburg zu kommen. Die „nationalen Verbände“ erfuhren es — und protestierten. Der deutsche Charakter, die Knebelung Südtirols, das bodenständige Element— das marschierte alles konzentrisch gegen die Festspielgemeinde, und die Sensation, die Salzburg den zehnfachen Zulauf verschafft hätte, fiel aus. Wo sollte jetzt der zugkräftige internationale Ersatz dafür her? Das Neue, Unabgeleierte, Fremdenanziehende?
Zur richtigen Stunde kam das richtige Angebot: das Leningrader Opernstudio erbot sich, für wenig Geld (die Spesen waren durch einen Propagandafonds gedeckt) in Salzburg seine Kunst vorzuführen. Nun, dachten die Festspieldiplomaten, haben wir euch Toscanini und die „Scala“ geopfert, so werdet ihr doch wenigstens gegen das Konträre nicht viel einzuwenden haben! Sie stimmten also dem Gastspiel zu. Da aber geschah das Unerwartete (so etwas wie einem Dolchstoß der Deutschen Volkspartei in Stresemanns Rücken vergleichbar): nicht die Einheimischen — die Wiener liberale Presse, also jene Seite, der doch gerade wieder „Europa“ und „Kosmopolitismus“ konzediert werden sollte, schrie jetzt Zeter und Mordio; sie rief: Salzburg im Zeichen des Sowjetsystems! Totverlegen stand der Festspieldiplomat da: von rechts der Provinzialangriff, von links der Sturm der eigenen Anhänger — wie kommt man aus dieser Zwickmühle?
Durch neue Heimatskonzessionen. Die strammen Propagandisten aus Leningrad (wer hat etwas gegen die Propaganda der Leistung?) versprachen, mit Mozart den Anfang zu machen; und Numero zwei: ad hoc ein Opernwerk des Salzburger Mozarteum-Dirigenten Paumgartner einzustudieren, um es in neurussischer, Tairoffscher Aufmachung am ersten Abend zu präsentieren.
In diesem Zeichen der Versöhnung von Salzburg und Leningrad erfolgte der Start.
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Das Haus war nicht übermäßig voll; das „Stadttheater“ spendete aus dem eigenen Betrieb etliche Schikanen und Sabotagen (Beer-Hofmann hat mir einen Vormittag lang über gleiche Erlebnisse mit der Salzburger Stadtbühne einen Klagebericht gegeben). Trotzdem wehte von der Bühne der Hauch des Außerordentlichen. Das war nicht das alte Opern-Lirumlarum mit gestellten Attitüden und eingeschlafenen Gebärden, sondern wunderbare maskenfrohe Besessenheit. Der treffliche Paumgartner aus Salzburg erglühte da zu einem Strawinsky.
Und der Lohn? In der Loge neben mir standen mitten im Stock ein paar Salzburger Damen auf. Honoratiorengattinnen vermutlich, vom Schlage der gewissen Beethoven-Matronen. Hinter ihnen wallte als Schleppe altpatrizischer Entrüstung der Ausruf: Unverschämtheit!… Ich wollte ihnen auf die Treppe nacheilen, um ihnen zu sagen: Aber, meine Damen, es handelt sich hier doch nicht um Lenin, sondern um Ihren Paumgartner! Rußland effektuierte nur, was Salzburg wollte! — Es hätte mir nicht viel genützt.
Hernach, bei Bastien und Bastienne, wäre bei einem Haar, als der Regisseur ein übriges tat und einen gereimten Epilog aufsagte, scheinbar voll Lobpreisungen der „neuen Zeit“, in Wahrheit aber voll nachträglicher Bücklinge und Entschuldigungen vor dem Ortsnerv, der Sturm losgebrochen. Er erstickte erst und wandelte sich in Applaus, als daraus das Wort aufflog: „Euer Mozart!“
Der Mozart der Salzburger — ich möchte nicht Wolfgang Amadeus darüber vernehmen, wie es ihm zu Lebzeiten ging.
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Reinhardt stand in seiner Loge und applaudierte; der Epilog schien ja auch förmlich (als Angriff? als Huldigung? — ich weiß es nicht) zu ihm hinaufdeklamiert. Er stand ruhig, gefaßt, alles überblickend. Der Ober-Diplomat, dem hier keiner gewachsen ist.
Ich erfuhr noch am gleichen Abend, was er, in Anlehnung an Weimarer und Jenenser Vorbilder, für die Räuber-Inszenierung vor hat: die Salzburger Studentenschaft wird während der Zwischenakte im gedeckten Orchester Studentenlieder singen. Dadurch verkürzt sich die Zeit des szenischen Umbaues; außerdem ist das etwas für Salzburgs Jungmannen. Sie reden seit Tagen von nichts anderem, freuen sich kindlich darauf und sind überzeugt, daß nicht Moissis Franz und nicht Hartmanns Karl, sondern ihr Rundgesang das große Ereignis sein wird.
Was keinem Diplomaten gelang — Reinhardt ist es solcherart gelungen: die Versöhnung zwischen Salzburg und Europa. Der kleine Mann, den man seit langem als obersten Kirchenherrn des deutschen Theaters feiert, thront mit Recht so allgegenwärtig, einsam und erhaben auf seinem Schloß wie der Erzbischof. Er ist ein Schüler der Kirche, der fast schon ihr Lehrer sein könnte.