Anton Kuh: Von Salzburg bis Leningrad.

Anton Kuh: Von Salzburg bis Leningrad (1928)

Es ist also wieder alles vollzählig da: Max Reinhardts Pensionat der Berühmtheiten, Amerika und Ischl, Alexander Moissi — um­florten Auges dem Anblick des gleichnamigen Tragöden hingegeben, der ihm aus den wieder­erkennenden Blicken der Fremden und Ein­heimischen entgegenschaut —, ich — bis zur Autogrammumworbenheit mit ihm verwech­selt —, der ganze Rundreisekongreß berichterstattender Journalisten von Paul Stefan bis Mr. Lincoln Eyre („New York Times“), die Wiener Oper, das New Yorker Geld und der Salzburger Regen. Überschaut man das ganze Ensemble, so kommt es einem auf den ersten Blick etwas zu gesellig, ich möchte sagen: vereinsmäßig vor; als sei der Betrieb nur von seinen Produzenten beigestellt, nicht von den Konsumenten. Aber das mag von der Altgewohnheit des Bildes kommen. Die Hoteliers und der Landesverband für Fremdenverkehr sehen es rosiger; sie sind überzeugt, daß Salz­burg dank einer Menge vereinter Bestrebungen und neuer Errungenschaften (Gastspiele aus­ländischer Truppen, Unsepariertheit der Geschlechter im Leopoldskroner See, sprachen­kundiger Polizisten, fließendes Wasser) über kurz oder lang in Europa liegen werde…

*

… unter Wahrung der bodenständigen In­teressen, versteht sich.

Aber, Himmel, hier liegt ein schweres, fast unlösbares Problem. Nach allem, was ich in den Paar Tagen erlebte und hörte, haben die kunsteuropäischen Bemühungen des Festspiel­direktoriums etwa mit Stresemanns Stellung in Genf Ähnlichkeit: hinter ihrem Rücken die Schar der Einheimischen (sprich: Eingeborenen), die den zu erlangenden internationalen und repräsentativen Profit nicht mit der Preisgabe der sogenannten heimatlichen Belange bezahlen wollen — vor ihnen die Fremden, die keines­wegs damit zufrieden wären, in Salzburg bloß eine Abart von Bayreuth, Eger, Oberammergau zu erblicken —, zumal sich heute niemand mehr die Schätzung nationaler Eigenart Geld kosten läßt. Die einen empfindlich, schlecht ge­launt, ewig entrüstungsbereit — die andern verwöhnt, skeptisch, snobbisch. Was bleibt dem armen Festspieldiplomaten da zu tun?

Er muß jeden Fußbreit Boden, den er, nach vorn, dem europäischen Kunstrevier abgewinnt, nach rück­wärts als Fremdenattraktion und nationale Unverfänglichkeit rechtfertigen; er muß dem Salzburger Stadtkind Mut zusprechen. Nimm das Geld nur, du wirst nicht daran sterben! Und er muß ihm, zum Schluß, Entschädigun­gen bieten — das sind: Repertoirespenden für den heimischen Charakter. Jedermann von Hofmannsthal genügt da nicht; das dient nur den religiösen Erbauungsbedürfnissen des traveller chek. Hinabgetaucht in die Volkssage und die Landestradition!… Natürlich zahlt der ausgleichsbeflissene Festspieldiplomat ge­rade auf diese Konzessionen drauf. Denn merk­würdig, aber wahr: auch der kernigste Urkern-Salzburger sieht sich die Räuber unter Rein­hardt, ja sieht sich die Iphigenie unter Beer-Hofmann lieber an als das aus bäuerlichen Seelentiefen geschöpfte Perchtenspiel (des übrigens hochbegabten, unverdient zu solchem Beruhigungszweck erkorenen Richard Billinger).

Doch soll hier von einem absonderlichen Fall des „Draufzahlens“ die Rede sein — zugleich dem kuriosesten Abenteuer der Festspiel­diplomatie.

*

Das Direktorium hatte im Frühsommer mit Toscanini und der Mailänder Scala Unterhandlungen angebahnt. Sie verliefen — wunderbarerweise — erfolgverheißend: Toscanini, der, von seiner Amerikafahrt abge­sehen, seinen Fuß noch nicht außer Land gesetzt hat und bisher den unwahrscheinlichsten Geldverlockungen widerstand, schien bereit, nach Salzburg zu kommen. Die „nationalen Verbände“ erfuhren es — und protestierten. Der deutsche Charakter, die Knebelung Süd­tirols, das bodenständige Element— das marschierte alles konzentrisch gegen die Fest­spielgemeinde, und die Sensation, die Salz­burg den zehnfachen Zulauf verschafft hätte, fiel aus. Wo sollte jetzt der zugkräftige inter­nationale Ersatz dafür her? Das Neue, Unabgeleierte, Fremdenanziehende?

Zur richtigen Stunde kam das richtige An­gebot: das Leningrader Opernstudio erbot sich, für wenig Geld (die Spesen waren durch einen Propagandafonds gedeckt) in Salzburg seine Kunst vorzuführen. Nun, dachten die Festspieldiplomaten, haben wir euch Toscanini und die „Scala“ geopfert, so werdet ihr doch wenigstens gegen das Konträre nicht viel einzuwenden haben! Sie stimmten also dem Gastspiel zu. Da aber geschah das Uner­wartete (so etwas wie einem Dolchstoß der Deutschen Volkspartei in Stresemanns Rücken vergleichbar): nicht die Einheimischen — die Wiener liberale Presse, also jene Seite, der doch gerade wieder „Europa“ und „Kosmo­politismus“ konzediert werden sollte, schrie jetzt Zeter und Mordio; sie rief: Salzburg im Zeichen des Sowjetsystems! Totverlegen stand der Festspieldiplomat da: von rechts der Pro­vinzialangriff, von links der Sturm der eige­nen Anhänger — wie kommt man aus dieser Zwickmühle?

Durch neue Heimatskonzessionen. Die strammen Propagandisten aus Leningrad (wer hat etwas gegen die Propaganda der Leistung?) versprachen, mit Mozart den An­fang zu machen; und Numero zwei: ad hoc ein Opernwerk des Salzburger Mozarteum-Dirigenten Paumgartner einzustudieren, um es in neurussischer, Tairoffscher Aufmachung am ersten Abend zu präsentieren.

In diesem Zeichen der Versöhnung von Salzburg und Leningrad erfolgte der Start.

*

Das Haus war nicht übermäßig voll; das „Stadttheater“ spendete aus dem eigenen Be­trieb etliche Schikanen und Sabotagen (Beer-Hofmann hat mir einen Vormittag lang über gleiche Erlebnisse mit der Salzburger Stadt­bühne einen Klagebericht gegeben). Trotzdem wehte von der Bühne der Hauch des Außer­ordentlichen. Das war nicht das alte Opern-Lirumlarum mit gestellten Attitüden und eingeschlafenen Gebärden, sondern wunderbare maskenfrohe Besessenheit. Der treffliche Paum­gartner aus Salzburg erglühte da zu einem Strawinsky.

Und der Lohn? In der Loge neben mir stan­den mitten im Stock ein paar Salzburger Damen auf. Honoratiorengattinnen vermutlich, vom Schlage der gewissen Beethoven-Matronen. Hinter ihnen wallte als Schleppe altpatrizischer Entrüstung der Ausruf: Unverschämtheit!… Ich wollte ihnen auf die Treppe nacheilen, um ihnen zu sagen: Aber, meine Damen, es handelt sich hier doch nicht um Lenin, sondern um Ihren Paumgartner! Rußland effektuierte nur, was Salzburg wollte! — Es hätte mir nicht viel genützt.

Hernach, bei Bastien und Bastienne, wäre bei einem Haar, als der Regisseur ein übriges tat und einen gereimten Epilog aufsagte, schein­bar voll Lobpreisungen der „neuen Zeit“, in Wahrheit aber voll nachträglicher Bücklinge und Entschuldigungen vor dem Ortsnerv, der Sturm losgebrochen. Er erstickte erst und wan­delte sich in Applaus, als daraus das Wort aufflog: „Euer Mozart!“

Der Mozart der Salzburger — ich möchte nicht Wolfgang Amadeus darüber vernehmen, wie es ihm zu Lebzeiten ging.

*

Reinhardt stand in seiner Loge und applaudierte; der Epilog schien ja auch förmlich (als Angriff? als Huldigung? — ich weiß es nicht) zu ihm hinaufdeklamiert. Er stand ruhig, gefaßt, alles überblickend. Der Ober-Diplo­mat, dem hier keiner gewachsen ist.

Ich erfuhr noch am gleichen Abend, was er, in Anlehnung an Weimarer und Jenenser Vorbilder, für die Räuber-Inszenierung vor hat: die Salzburger Studentenschaft wird während der Zwischenakte im gedeckten Orchester Studentenlieder singen. Dadurch verkürzt sich die Zeit des szenischen Umbaues; außerdem ist das etwas für Salzburgs Jung­mannen. Sie reden seit Tagen von nichts anderem, freuen sich kindlich darauf und sind überzeugt, daß nicht Moissis Franz und nicht Hartmanns Karl, sondern ihr Rundgesang das große Ereignis sein wird.

Was keinem Diplomaten gelang — Rein­hardt ist es solcherart gelungen: die Versöhnung zwischen Salzburg und Europa. Der kleine Mann, den man seit langem als obersten Kirchenherrn des deutschen Theaters feiert, thront mit Recht so allgegenwärtig, einsam und erhaben auf seinem Schloß wie der Erzbischof. Er ist ein Schüler der Kirche, der fast schon ihr Lehrer sein könnte.

In: Der Tag, 10.8.1928, S. 3.