Karl Renner: Das Urteil des Staatskanzlers über den Vertrag

Karl Renner: Das Urteil des Staatskanzlers über den Vertrag. (1919)

                Wenn man das gesamte Vertragsinstrument mit seinen 381 Artikeln durchgelesen hat, ist man erschüttert von der Tragweite der politischen Umwälzung, die durch den Vertrag für das Zentrum Europas bewirkt wird. Schwere Besorgnis erfüllt uns für die deutschen Alpenländer, die eine Schuld büßen müssen, von der ihre Bevölkerung nichts weiß. Freilich spricht, und das muß trotz alledem zum Lob des Vertrags gesagt werden, aus jeder Seite das sorgfältige Bemühen der Konferenz, der österreichischen Sphinx ihre Rätsel abzugewinnen und die verworrenen Verhältnisse halbwegs zu ordnen. Die Konferenz hat viel Fleiß auf den Vertrag verwandt, aber sie konnte, was nicht verwunderlich ist, dennoch die innersten wirtschaftlichen Zusammenhänge nicht vollständig erfassen, noch hat sie in gerechter Weise die Übel und Lasten, die der Krieg zurückgelassen hat, auf die Nachfolgestaaten verteilt.

            Politisch und national sind wir schwer getroffen. Die von der Nationalversammlung unserem Land gegebene Bezeichnung Deutschösterreich entspricht den Tatsachen nicht mehr. Der Gedanke der Novemberrevolution, alle deutschen Siedlungen des alten Österreich auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes zu einem Staat zusammenzufassen, ist vereitelt. Unser Staat ist beschränkt auf die deutschen Alpenländer. Die vierhundertjährige Gemeinbürgerschaft der Alpen- und Sudetenländer ist zerrissen. Auch von den deutschen Siedlungsgebieten in den Alpen sind uns wesentliche Stücke vorenthalten. Der geheiligte Boden, das geschlossene Südland deutscher Zunge Südtirol wird dem italienischen Königreich unterworfen. Das urdeutsche Marburg, dessen deutschen Charakter die Antwortnote selbst hervorhebt, soll in Hinkunft seine Vertreter nach Belgrad schicken. Das kerndeutsche Abstaller Becken ist verloren. Das einzige Radkersburg verbleibt uns. Der Schmerz über diese Verluste kann nicht gemildert werden durch die Freude darüber, daß das Alpenvorland im Leithagebirge, nachdem es vier Jahrhunderte unter Fremdherrschaft stand, uns wieder zurückgegeben wird. Feldsberg bleibt verloren und der Gmündner Bahnhof ebenso. Die Nationalversammlung wird selbst darüber entscheiden müssen, ob trotz dieser Opfer dieser Vertrag unterzeichnet werden kann.

            National bedeutet dieser Vertrag für die Republik das schwerste Opfer. Sie büßt ihre Handlungsfreiheit ein und das mit elementarer Gewalt in den Novembertagen hervorgetretene Anschlußbestreben ist auf den schwierigen Weg von Verhandlungen mit dem Völkerbund verwiesen.

            Die deutschen Alpenländer werden politisch allein stehen. Wie können sie das? Die Entente gibt uns die Antwort: Wir schicken euch die Reparationskommission. Sie wird eure Lasten prüfen und eure Lebensnotwendigkeiten wahrnehmen. Sie wird bestimmen, wieviel Kohle ihr zum Heizen bekommt, wieviel Nahrungsmittel ihr aus dem Ausland zuführen könnt, wie ihr eure Schulden zahlen und wie ihr Kredite bezahlen sollt. Wir erhalten eine politische Souveränität, von der wir kaum Gebrauch machen dürfen, und dazu die vollständige ökonomische Oberhoheit der alliierten Großmächte, die sich in der Reparationskommission verkörpert. Über der Kommission steht dann als höchste Instanz der Völkerbund. Man ist versucht zu sagen: Das wäre wohl zu ertragen, wenn man nur wüßte, ob der Völkerbund bestehen wird und ob er so organisiert sein wird, daß er gerecht zu sein imstande ist. Wenn man nur wüßte, ob und welchen Plan die alliierten Großmächte haben, um unserer handgreiflichen wirtschaftlichen Unzulänglichkeit abzuhelfen.

            Jedenfalls ist für Deutschösterreich der Bestand und das Funktionieren des Völkerbundes ein Essentiale des Vertrages, mit dem auch dieser steht und fällt. Sehr erschwert haben sich die Mächte ihre Aufgabe und uns das Leben dadurch, daß sie uns für alle Sünden des alten Regimes zum Sündenbock gemacht haben und uns ein Übermaß von Kriegsschulden, nichttitulierten Schulden, Auslandsschulden, Valutaschulden und im Ausland befindlichen Banknoten aufgebürdet haben. Sie wollen den Ertrinkenden retten und belasten ihn zuvor mit einem Mühlstein. Offenbar rechnen sie mit dem Lebenswillen und der eigenen Kraft des Schwimmers.

            In der Tat ist unser Volk vor die furchtbarste Prüfung gestellt. Diese Probe wird uns entweder außerordentlich ertüchtigen oder dauernd verelenden. Sie setzt dem Sichgehenlassen, In-den-Tag-Hineinleben, den Herrgott einen guten Mann sein lassen und den sonstigen uns überlieferten „Nationaltugenden“ ein jähes Ende.

            Wir müssen uns zusammennehmen in einem doppelten Sinne, uns einheitlich organisieren, eine wirkliche Gemeinschaft werden im ganzen und alle Kraft einsetzen jeder einzelne. Dann kann es gelingen.

In: Neue Freie Presse, 4.9.1919, S. 1.