Max Ermers: Monarchische und republikanische Kunstpolitik (1925)

            „Ja, aber was die Kunstpflege und das Kunstverständnis anlangt, da muß wohl auch jeder Republikaner zugeben, daß die Monarchie uns weit voraus war.“ So hört man nicht selten Menschen sprechen, die zwar schon im Herzen vollwertige Republikaner geworden, immer aber noch vom Glanz der höfischen Feste, vom Reichtum der kaiserlichen Sammlungen, von der Pracht der Spanischen Reitschule, von den Galavorstellungen in Oper und Burgtheater, von den reichen Dotierungen durch die kaiserliche Schatulle träumen. Sie sprechen dann vom Mäzenatentum der alten Aristokratie, von den Sammlungen des Fürsten Liechtenstein, von den Galerien Lanckoronski, Czernin, Harrach, Schönborn, von Wleceks Prachtburg Kreuzentein, von der Miniaturensammlung der Bourgoings, von der Albertina und von den mehr oder weniger reichen Sammlungen des Bürgertum, das, wie überall, auch im Aufspeichern von Bildern, Skulpturen, Miniaturen, Waffen, Keramiken mit einem hohen Adel wetteiferte. Gewiß, und das kann niemand leugnen, auch das 19. Jahrhundert und das Zeitalter Kaiser Franz Josefs I., an das die sehnsüchtig zurückblickenden Lobredner zumeist denken, hat seine Kunstgeschichte gehabt, hat seine Talente hervorgebracht. Gewiß, Monarchie und Aristokratie wußten sich ihrer manchmal zu bedienen. Quantitativ vielleicht sogar ausgiebiger, denn irgendwann. Aber die Kunst dieser Zeit, soweit sie in höfische Dienste treten kann, war von jener tiefinnerlichen Funktion, die sie Jahrtausende ausüben durfte, zu einer ganz äußerlichen dekorativen Angelegenheit herabgesunken, gerade gut genug, um der alternden Monarchie und der absterbenden Klasse der Feudalität die Blößen zu decken und den Abstand zum aufsteigenden Bürgertum noch einigermaßen zu wahren.

            In Wirklichkeit aber fehlte den oberen Hundert und Tausend jene Sicherheit des Spürsinns in der Wahl der Künstler, die der Epoche äußeren Glanz verleihen durften, und das unterscheidet sie gründlich von ihren Vorläufern in den vorigen Jahrhunderten. An die Stelle von Versailles und Schönbrunn, die noch voll des echten Glanzes, treten die romantischen Kitschburgen von Neuschwanstein und Laxenburg. An Stelle der Hofmaler Raffael, Holbei, Dürer und Rubens treten die Hof- und Fürstenmaler Anton v. Werner, Winterhalter, Blaas und Angeli, Gerade bei uns in Österreich hat dieser äußere Kunstprunk die größten Verwüstungen angerichtet und es ist interessant, wie sich, auch ohne den Niedergang der Monarchie, d.h., vor ihr und innerhalb ihrer Anhängerschaft, das Urteil über jene Kunstpolitik geändert hat, die noch zu Lebzeiten ihre begeisterten Soldschreiber hatte. Von der Ringstraße, seinerzeit als Glanzstück der franziscojosefinischen Kunstpolitik angesehen, schweigt man gern still. Die Städtebauer wissen, daß sie eine verfehlte Prunk- und Auffahrtstraße war, die Architekten betrachten sie mit Recht als ein kunsthistorisches Raritätenkabinett, in dem sich die vier „Baubarone“, wie jene Zeit bezeichnenderweise Ferstel, Schmidt, Hansen und Hasenauer nennt, griechisch-gotisch-renaissancisch austoben durften. Dabei hat diese Epoche, trotz ungeheurer Geldmittel aus dem Stadterweiterungsfonds, nicht einmal die moralische Kraft gehabt, ihre Projekte auszuführen. Votivplatz, Museumsplatz, Heldenplatz sind als Plätze Torsi geblieben.

An Stelle wirklicher Museen, die die Schätze der Vergangenheit bergen und sichtbar machen konnten, hat man uns Prunkpaläste hingestellt, bei denen die monumentalen Treppenhäuser die Hauptsache waren. Für diese Treppenpracht riß man den Canovaschen Theseus aus dem Tempel, mobilisierte Makart und Munkacsy für Deckenmalereien, die ihnen nicht zur Ehre gereichen. Ob die Museumsräume brauchbar seien, diese Frage stand an dritter Stelle— mit welcher Kon­sequenz. das weiß man. Gerade über dieses Kapitel monarchischer Kunstpolitik sollte man einmal die jüngste Schrift des Grafen Lanckoronski vornehmen, um zu wissen, wie selbst ergebene Anhänger des monarchischen Re­gimes über dessen Kunstpolitik denken. Das Maria- Theresien- Denkmal zwischen den Museen setzte dieser Kunstpflege die Krone auf. Fast noch schlimmer ist dann alles, was im neuen Burgtrakt geleistet wurde, vor dessen Vollendung uns ein glückliches Schicksal bewahrt hat. Aber die Riesensummen des Stadterweiterungsfonds wurden für diesen Riesenkitsch vertan, ohne daß auch nur ein Berufener die Stimme zu erheben gewagt hätte. Den würdigen Schlußstein dieser Bautätigkeit bildete dann das Kriegsministerium. «Nicht anders erging es der Malerei. Von der gestrichenen Pension des Realisten Waldmüller bis. zur von Franz Ferdinand gestrichenen Professur Egger-Lienz („weil nach Anblick solcher Bilder niemand mehr einrücken würde“) führt ein direkter Weg. Nur die Schlachtenmaler hatten ihre gute Zeit.

Und was Franz Josef selbst, dieser ansonsten so liebenswürdige Ausstellungseröffner, von

seinen Bilderjagden heimbrachte, war niemals geeignet, die Kunst zu fordern. Unvergeßlich seine entrüstete Abwendung von Segantinis Bild: Zwei Mütter. Der unglück­liche Maler hatte es gewagt, die Kuh, die gekalbt hatte, und die arme Häuslerin als Mütter nebeneinander zu stellen. Und nun gar erst die Bildhauerei.

Von den großen österreichischen Plastikern wurde keiner herangezogen. Von Metzner bis

Mestrovic— blieben sie ohne Aufträge. An allen Denkmälern darf sich nur die Mittelmäßigkeit und Untermittelmäßigkeit breit machen. Und das Kunstgewerbe? Einmal kam einer an der Jahrhundertwende, der die Gesundung versuchte. Der Hofrat Scala. Ein

Erzherzog hat ihn hinausintrigiert und unser Kunsthandwerk krankt noch heute an seiner

Hinausintrigierung.

Nein und nochmals nein. Es war keine Heldenepoche höfischer Kunstpflege, die Habsburgerzeit des 19. Jahrhunderts. Die großen Sammlungen des Adels, Erbgut aus früherer Zeit, blieben für das große Publikum ohne Zugänglichkeit und ohne Bedeutung, das

Bürgertum kopierte schlecht und recht die Sammelpolitik der Aristokraten, indem es kaufte und verkaufte, im übrigen aber den leeren Prunkwahn der Monarchie nach­zuahmen suchte. Das Wiener Rathaus und der berühmte Makartsche Festzug sind die ungewollte bürgerliche Parodie der großen Vorbilder. Das große Volk ging leer aus. An keinem einzigen Punkte setzte die Monarchie die breiten Massen mit der lebendigen, taufrisch sprudelnden Kunst ihrer Zeit in lebendigen Kontakt. Diese existierte für den Monarchen nicht, er wußte nichts von ihr, und wenn ja, dann war sie für ihn „Rinnsteinkunst“.

Soweit die Kunstpflege oder — wie man eigentlich sagen müßte der Kunstbetrieb und die Kunstausnützung in der Monarchie. Und nun zur Republik.

„Was würden Sie für dis Kunst tun, wenn Sie in Ihrem Lande Minister der schönen Künste wären?“ fragte man einmal Ferruccio Busoni. „Ich würde die Wasserkräfte aus­bauen“ war die lakonische Antwort. Diese Einstellung zum Kunst- und Massenerziehungsproblem ist für eine ganze Reihe von Päda­gogen und Künstlern charakteristisch. Alles, was einer künstlichen Überfütterung des großen Publikums mit billigen Symphoniekonzerten, mit Musteroperettenaufführungen, mit Museumsführungen, Verpflanzung moder­ner Kunstwerke in proletarische Elendswohnungen, kunstgeschichtliche Vorträge und dergleichen ähnlich sieht, erscheint ihnen verfehlt und gefährlich. Die Gesundung des Ge-//

samtzustandes eines Volkes und insbesondre seiner Wirtschaftsverhältnisse erscheint ihnen

als der einzig mögliche Weg, um an Stelle eines künstlerischen Firnisses zu einer wahrhaft künstlerischen Durchdringung der Volks­massen zu kommen. Kein Zweifel, der Weg, der gleichzeitig der Weg zur sozialen Republik ist, ist ein guter, und irgend einmal wird er schon zum Ziele führen. Aber wer hat genügend Geduld, ihn zu gehen? Wer genügend Gemütsruhe, die Häßlichkeiten, die teils als Verfalls­erscheinungen des alternden Europa, teils als Amerikanisierungserscheinungen unseres Kontinents täglich auf uns einströmen, zu ertragen? Schließlich: der.Kunstminister kann nicht alleSorge dem Volkswirtschaftsminister über­lassen.

Gewiß: eine große republikanische Kunst­epoche, die das ganze Leben der Gemeinschaft und der einzelnen bis ins tägliche Leben künst­lerisch verklärt, kann nicht mit Rezepten irgend welcher Art verwirklicht werden. Dazu bedarf es jener großen künstlerischen Individualitäten, die wie in einem Brennpunkt das ganze Leid und die ganze Sehnsucht ihrer Zeit in sich konzentrieren und durch die Fülle hinreißender Werke die Gefolgschaft der Nation erzwingen. Ein Zeitalter Phidias oder Michelangelos kann nicht aus dem Boden gestampft werden.

Was aber geschaffen werden kann, das sind die äußeren Vorbedingungen. Solange die Menschen in schmutzigen Städten, in elender Luft und an trüben Flüssen leben, meinte ein­mal Englands großer Kunstreformator, John Ruskin, solange sind alle Bestrebungen, ihr ästhetisches Niveau zu heben, illusorisch. Er hätte noch weitergehen können in seiner

prophetischen Verkündigung. Solange die Menschen in ihren sonnenlosen, überfüllten,

schlecht gereinigten mit Urvätergerümpel angestopften Wohnungen leben werden, ist jede

Kunsterziehung unmöglich. Solange unsere Kinder in den monotonen Zwangsgefäng­nissen unserer Schulräume ihre disziplinier­ten und bewegungslosen Jahre absitzen müssen,

Arbeitslosigkeit und Daseinssorge um die Familie ihr Gleichgewicht erschüttert, so­lange sie sich einem ungewissen Alter der Ver­armung entgegenschreiten sehen, solange sind

sie für Kunstgenüsse unzugänglich… es sei denn, das Kunstwerk spiegle ihre eigene Not,

ihre Probleme, ihre Leiden, ihre Hoffnungen wider… In diesem Falle stürzen sie dann

meistens von der Skylla in die Charybdis, erleben statt Kunst und Dichtung politische

Karikatur und gereimte Leitartikel.

Wie gering der erzieherische Wert der Kunst ganz allgemein veranschlagt wird, in

Europa und Amerika, das zeigt sich am besten daran, daß eigentlich kein einziges Land, mit

der halben Ausnahme von Rußland, systematische Kunstpolitik treibt, ja an sie kaum denkt.

Kunststellen aller Parteien und Kunstwarte der Gebietskörperschaften tauchen zwar allerorten auf, ober von keinem hat man schon ein systematisches Programm erblickt.

Man verhütet das Allerschlimmste und wurschtelt im Traditionellen fort. Alle Städte

des alten und des neuen Kontinents wachsen mit rasender Schnelligkeit. Aber hat man davon gehört, daß ihr Wachstum durch irgend welche künstlerischen Prinzipien planvoll nach bestimmten kunsterzieherischen Zielen diri­giert werde? Ohne Übertreibung darf man

sagen, daß man das kunsterzieherische Wollen einer Stadt von ihrem Generalregulierungsplan mit seinen Straßenführungen, Platz­gestaltungen, lichten, schmutzlosen Gartenvororten, Grünflächen, Sonnenbädern, Strandbädern, Kindersiedlungen usw. ablesen könne. Aber welche Stadt hat sich schon zu solchem planvollen Zukunftswollen aufgerafft? Wohnreform ist der zweite Pfeiler einer vorbereitenden Kunsterziehung, die heute schon einsetzen kann. Aber welche Stadt, welches Land hat seine Wohnungspolitik auf äußere Schönheit der Architektur, auf innere Schön­heit der Bequemlichkeit, der guten Brauchbarkeit, der Gesundheit, des sinnvollen, erzieheri­schen Mobiliars, der zwangsläufigen Sauberkeit abgestellt? Welche Stadt ergänzt ihre Wohnungspolitik durch schön gebaute, geschmackvolle Erholungsheime und Klubhäuser, die die Kraft-, Zeit- und Geldvergeudung der Wirtsstuben völlig paralysieren? In Letchworth und Welwyn, die aus dem jungfräulichen Ackerboden gestampft wurden, kann man solche Heime finden, aber sonst…? Die sinnvolle Schule ist der dritte Pfeiler der Kunstvorbereitung. Die neue Methode, die die Kinder Hand anlegen läßt an alles, was lern­bar ist, die in Ton und Buntpapier und Pastell arbeiten läßt, ist gewiß ein guter Anfang. Aber so lange nicht die gesamte Jugend durch die gewaltigen Revolutionen der sinnerwecken­ den, aktivierenden Montessori-Schulen und freien Schulgemeinden hindurchgegangen ist, ist sie für künstlerische Erlebnisse nur höchst primitiv vorbereitet. Mit der Jugend muß be­gonnen werden, wenn das Alter schon nicht mehr zu retten ist, diese tiefste Erkenntnis aller Kunsterziehungspolitik müßte an der Spitze jedes Kunsterziehungsprogramms zu lesen sein.

Körperliche Entfaltung— der vierte Grundpfeiler: Hier haben die Franzosen, die Schweizer und Amerikaner schon alles vor­bereitet, was geeignet ist, durch harmonische

Entfaltung zu neuer Werteinschätzung des sich fühlenden menschlichen Körpers zu kommen. Unsere Körper sind durch Schulbank, Bureau und Werkstätte verkümmert und nur

mehr aus Antikensammlung und Gipsmuseum ersehen wir ahnend entschwundene

Möglichkeiten. In der harmonischen Körper­kultur bereitet sich eine neue künstlerische

Revolution der Menschheit vor, die der Malerei, der Plastik, dem Drama, dem Tanz und dem öffentlichen Fest unerhörte Entwicklungen sichert. Wir aber drillen noch an tausend Orten die Weisheiten des Turnvaters Jahn. Für Schulreform und Kinderfreunde eröffnen sich hier außerordentlich« Perspek­tiven der Kunsterziehung, denen wir mit unseren wenigen Arbeiterstrand- und Sonnenbädern nur sparsam vorgetastet haben. Soweit die Vorbereitung unserer Sinne, unserer Körper, unserer Seelen, deren wir heute schon fähig sind.

Und vollends muß man sich darüber ins Klare kommen, daß unsere heutigen Scheidun­gen im Kunstschulwesen völlig veraltet sind. Eine Künstlergeneration wächst auf der Aka­demie heran, die dem Kunstleben unserer Ge­neration völlig entfremdet ist, und Rettung ist

hier nur durch einen Zusammenschluß der niedrigen und hohen Kunstschulen, des Kunst­gewerbes und der reinen Künste in eine ein­heitliche Erziehungsanstalt möglich. Dem

Museumsbetrieb, der gewöhnlich mit Führungen, Umhängungen, Sonderausstellungen ins

Zentrum der Kunsterziehung der Republik ge­stellt wird, gebührt lange nicht diese Aufmerk-

ämkeit. Gewiß, was vorhanden ist, soll konserviert und zugänglich sein, auch erweitert

werden. Ein Museum für Antiken, für Plasti­ken, für Naturvölkerkunst, für die städtischen

Sammlungen und vor allem für die schaffende Gegenwart werden wir auf die Länge der Zeit

nicht entbehren wollen. Aber, immer müssen wir uns vor Augen halten, daß Museumsbetrieb Wissenschaft ist und das musealisierte Kunstobjekt sich niemals an Wirksamkeit mit den Werken vergleichen kann, die an lebendigen Orten zeitgemäßen Seins und Erlebens aus­genommen werden. Hier klaffen Welten.

Wie Dichtung und Theater, Musik und Kino helfen können, das Leben der Massen künst­lerisch zu durchdringen, mögen Berufenere sagen. Das meiste, was auf diesem Gebiete

unternommen wurde, erscheint als tastender Versuch, der fehlschlug. Republikanische Kunstpolitik großen Stils, die diese gewaltigen Kräfte nicht als bloßen dekorativen Aufputz

eines Volkes gelten lassen will, sondern als Mittel der Erhöhung des individuellen und

gemeinschaftlichen Lebens, ja als Mittel, die fehlende innere Gemeinschaft von Mensch zu

Mensch, von Volk zu Volk erst zu schaffen, republikanische Kunstpolitik, wird diesen großen

soziologischen Funktionen ihren rechten Platz anweisen. Alles, was heute auf diesem Gebiete versucht wird, ist gutgemeinter Dilettantismus und Mißverständnis.

Unsere Sehnsucht aber geht dahin, daß es gerade unserer Stadt mit ihrer alten Kultur und ihrem politischen Fortschritt vergönnt sein möge, auch für das neue Verständnis, das

einer republikanischen Kunstpolitik gegenüber überall in Europa wird einsetzen müssen, die

Vorbedingungen zu schaffen.

In: Der Tag, 25.12.1925, S. 28-29.

G.[isela] U.[rban]: Die Erziehung der Frau zur Politik. Ein Nachklang zu den Wahlen. (1919)

Der große Tag ist vorüber, die Würfel sind ge­fallen. Im Flügelschlage eines geschichtlichen Geschehens, dessen Schoß das Zukunftsschicksal der Heimat birgt, haben unsere Frauen zum erstenmale die Feierlichkeit einer Stunde erlebt, in der das Einssein mit dem Ganzen das innerste Wesen eines jeden mit der Ge­meinschaft Fühlenden durchdringen muß. Zum erstenmale haben unsere Frauen den Puls des öffentlichen Lebens unmittelbar beeinflußt, zum erstenmale haben sie — zumeist mit ernster und bewußter Freudigkeit — die Wagschalen für die Verteilung der politischen und gesetzlichen Macht im Staate mit ihren im vollen bürgerlichen Worte erklingenden Stimme erfüllt. Die Ouvertüre zur gewaltigen Sinfonie des neuen staat­lichen Werdens ist verrauscht. Bald müssen die ersten Töne des sehnsüchtig erwarteten Werkes uns umfangen. Werden sie unsere Seelen erheben und stärken oder werden sie uns die Gegenwartslasten des Lebens noch drückender empfinden lassen…

Viele Frauen, die im Fieber der letzten Zeit aus der Gleichgültigkeit, die sie den politischen Angelegenheiten bisher entgegenbrachten, aufgescheucht wurden, glauben, daß sie mit dem Gange ins Wahllokal ihrer staatsbürgerlichen Pflicht Genüge getan haben. In diesen stürmischen Wochen, da alles zum Entscheidungskampfe rüstete und drängte, wurde ihnen die Pflicht des Wählens so eindringlich gepredigt, daß sich in ihnen die Meinung bilden mußte, der Wahlakt bedeute das Um und Auf ihrer politischen Betätigung. Nun, da die Erregung der letzten Tage so stark in uns nachzittert, daß wir das Gleichmaß des Alltagslebens noch nicht wiederfinden konnten, da die Frauen noch unter dem Eindrucke der leidenschaftlichen Werbe- und Weck­arbeit stehen, muß die volle Kraft und die unermüdliche Arbeit der Führenden mit der geistigen Schulung der Frau zur Politik beginnen. In der bildnerischen Schnellpresse der Wahlpropaganda wurde den vorher politisch ungeschulten Frauen das Wissen von der Politik nur im Lichte der Parteianschauungen und Parteiziele vermittelt. Ist es nun, da die praktische Arbeit der neuen Nationalversammlung Form und Inhalt der künftigen Staatspolitik bald erkennbar machen muß, nicht an der Zeit, die Allgemeinheit der Frauen mit dem wahren Wesen der Politik, mit ihrer konkreten Bedeutung für den Aufschwung und Nieder­gang, für Stärke und Schwäche des Staates, für Glück und Unglück der Gesamtheit und des Einzelnen im Staate vertraut zu machen, sie durch eine systematische Erziehung dazu zu führen, daß sie die Gedanken und Taten staats- und weltbewegender Politik in ihrem Inbegriff erfassen?

Wie sehr die Erziehung der Frau zum All­gemeinverständnis der Politik notwendig ist, dafür spricht das folgende kleine Erlebnis. Eine junge Frau mit der sogenannten Bildung der „höheren“ Töchter, also ohne jede Ahnung von den gestaltenden Mächten und den Ausstrahlungen der Politik, besuchte eine der vielen Wählerinnenversammlungen, weil die Referentin ihr persönlich nahestand. Nachhausegekommen erklärte die Frau ihrem Gatten: „Nun bin ich politisch ge­bildet. Ich habe das gehört, was wir Frauen wissen sollen, mehr interessiert mich nicht.“ Ist das nicht ein typisches Schulbeispiel für die oberflächliche Betrachtung des politischen Bildungsganges, für die Verkennung des politischen Wissens seitens der Frauen?

Wenn in einer Wählerversammlung die Forderungen des Augenblicks parteipolitisch gestreift werden, wenn Schlagworte durch die Luft schwirren und die Gemüter gefangen nehmen, dann meinen die Zuhörerinnen — und auch die Zuhörer — daß sie politische Hochschulweisheit aufnehmen, daß sie ihre politische Bildung vollenden. In ihrer ausflammenden Geistesbereitschaft nehmen sie sich zumeist gar nicht die Mühe, an ihre Lebensverhältnisse zu denken, ihrer persönlichen Lebens­auffassung, den Grundelementen und Neigungen des eigenen Wesens nachzuspüren und sich zu fragen, ob die Ergebnisse dieser Erforschung des persönlichen Seins und Werdenwollens, der eigenen Erfahrungen und Wünsche sie in den Strom der Parteipolitik drängen, die ihnen als die allein seligmachende gepriesen wurde. Wie können diese Frauen, die nicht einmal die Vorbedingung eines politischen Elementarunterrichtes zu erkennen vermögen, die Reife für die Einsicht aufbringen, daß politische Bildung nicht in einer Wähler­versammlung allein erworben werden kann? Daß dazu mehr gehört. So der feste Wille, alle Fragen der Gemeinschaft eifrig zu verfolgen, das Bemühen um ein eigenes Urteil, das Streben, aus allen gesetzgeberischen Entscheidungen und sonstigen staatlichen Entschließungen die Rückwirkung auf das eigene Ich und aus die Lebens­lage Anderer empfinden und formulieren zu können, und schließlich die Erkenntnis, daß in dem Ringen um politisches Verstehen das eigene Ich sich als Teil des großen Ganzen den zentralen Ideen des allgemein­menschlichen, wirtschaftlichen, sittlichen und gesellschaft­lichen Fortschrittes unterordnen muß.

Der überwiegende Teil der Frauen muß Politik erst begreifen lernen. Wie kann dies geschehen? Selbst­verständlich werden alle berufenen Organisationen durch Vorträge und Kurse, durch Diskussionen im kleinen Kreis und durch Versammlungen in größerem Stile, durch Wort und Schrift viel Aufklärungsarbeit in die noch ungebildete oder gleichgültige Menge tragen müssen. Der Kern aller dieser Belehrungen muß aber der Anschauungsunterricht sein. Die politische Seite all der Fragen, die die Frau direkt berühren, die sie in ihrem fraulichen und mütterlichen Wirkungskreise verspürt, all der Fragen, die als Frauensphäre gekennzeichnet werden, weil Frauennot und Frauenarbeit sich in ihnen widerspiegelt, muß im Anschauungsunterrichte vorerst beleuchtet und in ihren Wechselbeziehungen zu den all­gemeinen Staatszwecken erörtert werden. Aber nicht die Gedanken einer bloßen egoistischen Interessen- und Rechtsvertretung dürfen den Frauen eingegeben werden. Die Tatsache, daß alle Frauenfragen nicht Grenzgebiete, sondern Probleme der Gesamtheit sind, muß ihr Ver­ständnis für jene polit[i]schen Fragen steigern, die aus der eigenen Sphäre ins Weite hinausstreben, die im Höhenflug der inneren und äußeren Staatskunst die Stellung des Staates in der Welt bestimmen und die Entwicklung der allgemeinen Kultur beeinflussen. Und mit diesem Verständnis muß die Objektivität ihres Urteils wachsen, damit sie Fehler und Mängel, Irrtümer, Einseitigkeiten und Halbheiten richtig einschätzen lernen und zu einer Gesamtbetrachtung der tieferen Forderungen gelangen, die an die Politik gestellt werden müssen, damit sie das heiß ersehnte Königreich wahrer Menschlich­keit errichte und verwirkliche.

Die politische Schulung der Frauen ist eine Notwendigkeit im Sinne des persönlichen Vorwärtsschreitens der Frau und des staatlichen Werdeganges. Die Frauen sollen sich nicht nur als Wählerinnen fühlen, sie dürfen durch eine weitere Abschließung vom politischen Leben nicht zum „Stimmvieh“ werden, dessen Existenzberechtigung nur in Wahlperioden anerkannt wird. Als wahre Bürgerinnen des Staates müssen sie das Wirken der Politik nach neuen, eigenen Maßstäben werten lernen und mit Würde und Besonnenheit dafür sorgen, daß ihre Wertbemessungen kraft ihres Rechtes als Wählerinnen im politischen Leben Geltung erringen.

In: Die Frau, 19.2.1919, S. 2.

Sozialdemokratisches Frauenreichskomittee: Frauen und Mädchen des Proletariats! (1918)

In ernster Stunde sprechen wir zu euch, um euch aufzufordern, die Notwendigkeit der Zeit zu erkennen. Alles Alte wankt und stürzt, Einrichtungen, die im Sinne des Volkes als ewig feststehend, als unab­änderlich galten, versinken, Neues entsteht und wächst heran. Die Wucht des schon über vier Jahre währenden schreckensvollen Krieges, unter der so viele Menschenleben verblutet sind, die Elternfreude und Eheglück begraben hat, die das Wohl von Millionen zerstampft und unermeßliche Werte vernichtet hat, diese Wucht zertrümmert auch Staaten und reißt auseinander, was ewig zusammenzugehören schien.

In dieser Zeit der Neugeburt von Nationen können und dürfen die einzelnen nicht untätig bleiben. Wenn aus Blut und Rauch eine neue Welt entsteht, dann muß es eine bessere Welt werden. Eine bessere Welt für das so lange gepeinigte Proletariat, für die in vielfacher Knechtschaft lebenden Frauen. Die Weltgeschichte kennt schon viele Umwälzungen, aber noch keine hat vermocht, die Frau zu einem gleich­berechtigten Wesen zu machen. Immer ist die Frau eine minderwertige Staatsbürgerin geblieben. Und weil sie als Staatsbürgerin minderwertig war und bis heute ist, ist sie auch als Arbeiterin unterdrückter, ausgebeuteter als der Arbeiter.

Überall, wo immer wir den Blick auf Frauen lenken, sehen wir sie in größerer Unfreiheit, Unterwürfigkeit und Abhängigkeit als den Mann. Das Zeitalter der Fabriken hat zwar der Frau das Recht eingeräumt, ihre Arbeitskraft zu verkaufen und überall tätig zu sein, wo menschliche Arbeitskraft notwendig ist. Aber die Frau ist überall eine schlechter bezahlte Arbeitskraft. Selbst wenn sie die gleiche Arbeit leistet, gibt es Mittel und Wege, ihr den gleichen Lohn vorzuenthalten.

Man hat mit dem System der schlechteren Ent­lohnung die Frauen zu größerer Genügsamkeit, zu größerer Entbehrung, und damit zur Schwächung ihres Körpers, zum früheren Schwinden der Jugendblüte und Gesundheit verurteilt.

Die Frauen sind durch Jahrhunderte zu Märtyrerinnen erzogen worden. Sie nehmen das Dulden und Entbehren als etwas hin, das nicht abzuändern ist. Damit werden aber die Frauen als Arbeiterinnen zu Schädigerinnen der Arbeiterschaft überhaupt. Die geduldigen und billigen Arbeiterinnen sind dem Arbeitgebereine willkommene Gelegenheit, um auch den Lohn der Männer zu drücken.

Arbeiterinnen! Wir stehen vor dem Ende des Krieges. Der Friede kommt endlich, endlich in sichtbare Nähe. Das Kriegselend wird ein Ende nehmen. Sollen wir es nur eintauschen gegen vermehrtes, ebenso drückendes, würgendes Elend im Frieden? Die Menschheit ist erschöpft, die Kraft jedes einzelnen durch die Hungerjahre geschwächt, nicht fähig, noch länger Elend zu ertragen.

Da ist es Pflicht, daß die Arbeiterinnen sich aufraffen, daß alle, die den Reihen der Organisation der sozialdemokratischen Partei noch fernstehen, das Versäumte nachholen. Jede Arbeiterin, die will, daß nach dem Krieg nicht wieder Ausbeutung und Hunger, Not und Elend die Welt beherrschen, muß Mitglied der sozialdemokratischen Frauenorganisation werden!

Jede Frau, die entschlossen ist, der knechtischen Stellung der Frau ein Ende zu machen, muß in den Reihen der sozialdemokratischen Partei für die neue Gesellschaftsordnung, für den Sozialismus kämpfen.

Man hat die Jahre des Krieges die „große Zeit“ genannt. Welch eine Verhöhnung, einen Zustand „groß“ zu nennen, wo Millionen Menschen hingeschlachtet werden und hunderttausende Frauen in den Dienst des Krieges gestellt werden, täglich, ja stündlich, ebenfalls dem Tode entgegensetzend.

Groß ist die Zeit, die jetzt angebrochen ist. Die Zeit der Umwälzungen, die Zeit, wo das Alte stürzt und das Neue geboren wird. Da wollen und müssen sich die Frauen der Aufgaben bewußt sein, die diese Zeit auch ihnen stellt. Wenn neue Staaten gebildet werden, wollen und müssen die Frauen mutig, entschieden und selbstbewußt sich erheben und für die Forderung, eintreten, daß die neue Zeit auch ihnen gibt, was ihnen nach Recht und Billigkeit zukommt. In den demokratischen Staaten, die im Entstehen sind und zu denen sich auch das alte Österreich umbildet, müssen Freiheit und Gleichheit, Bürgerrecht haben. Auch für die Frauen. Wenn gedrückte und geknebelte Völker auferstehen zur Freiheit, dürfen die Frauen dieser Völker nicht in Knechtschaft und Unfreiheit bleiben.

Frauen, wacht auf! Sammelt euch um die Fahne, die euch zur Gleichheit und Freiheit, zur Menschenwürdigkeit führen soll!

Frei und gleich sei das Ziel der Frauen!

Frei und gleich als Staatsbürgerin und Arbeiterin!

Wir laden euch ein, zu uns zu kommen, als unsere Mitglieder und Kampfgenossinnen.

Das sozialdemokratische Frauenreichskomitee

In: Arbeiterinnen-Zeitung, Nr. 21, 22.10.1918.

Max Winter: Die Zukunft Wiens (1918)

Es soll keine Vorhersage sein, kein trübe und keine rosige, nur einige Schlüsse aus dem Heute sollen gezogen werden. Wie wird Wien diesen Wandel der Dinge überstehen? Bisher Reichshaupt- und Residenzstadt, bisher der Mittelpunkt der 28 Millionen Seelen der österreichischen Völker, wirtschaftlich auch die Hauptstadt für die ungarischen Völker, wirtschaftlich der Kopf eines Körpers, den mehr als 50 Millionen Menschen bildeten, und nun die Hauptstadt Deutschösterreichs, heute, in den Tagen der tschecho-slovakischen Besetzungen, ein Staat, der kaum über mehr als sieben Millionen Menschen „gebietet“. Auf einen solchen kleinen Körper einen so riesengroßen Kopf aufzusetzen, den freudigsten Schönsehern muß solches zu denken geben. Gestern 50 zu 2, heute 7 zu 2, nach dem Frieden 10 zu 2. Wie sollen die zwei leben, wenn sie durch ihre Arbeit nun nur mehr für fünf oder höchstens acht alle Behelfe der Arbeit zu liefern haben, nicht mehr für achtundvierzig wie ehedem, und wie sollen die zwei leben, wenn ihnen nicht mehr achtundvierzig wie einst, sondern nur fünf oder höchstens acht den Tisch versorgen? Das ist das Zukunftsproblem Wiens, wie es nun aufgerollt wird.

            Wie sollen wir leben?

            Die Schwarzseher sagen einen Rückgang unserer Industrie und des Handels, der beiden lebenswichtigsten Nerven des Großstadtkörpers, voraus. Macht euch keine Sorge der augenblicklichen Wohnungsnot wegen, ihr werdet morgen Raum genug haben! Die Industrien, die bisher ganz Österreich-Ungarn, den Balkan, Südrußland, Polen versorgt haben, die werden morgen die große Floridsdorfer Fabrik nicht mehr behaupten können. Sie werden eine Fabrik in Prag, eine in oder bei Budapest, eine dritte in Agram oder Belgrad, eine vierte in Krakau oder Warschau errichten und von diesen Tochterfabriken aus ihre Kundschaft versorgen. Die Banken werden ihre Kapitalien in solchen ausländischen Unternehmungen unterzubringen suchen, die Wiener Zentralbüros großer Unternehmungen, die ihren Betrieb im Bereich der neuen Auslandsstaaten haben, wie etwa die Prager Eisenindustrie oder der Oesterreichische Lloyd, die Bahnen, wie etwa die Südbahn, werden ihren Hauptsitz nicht mehr in Wien haben, ja selbst die Staatsbahnen werden, den geänderten Verhältnissen Rechnung tragend, im nord- und südslavischen Reich große Direktionen haben, in Wien nur das Nötige für Deutschösterreich. Der Kaikaufmann, der heute nach Paris oder Nürnberg, nach der Schweiz oder nach Lyon fuhr, um dort für den österreichisch-ungarischen Markt einzukaufen, wird morgen nur noch die bescheidenen Aufträge für ein Fünftel der Kundschaft von gestern geben können und aus Prag, Krakau, Lemberg, Laibach, Agram und Budapest werden auch die Großkaufleute nach dem Ausland fahren, um Seide und Spielwaren, Hüte und Gewebe, Mode und Sportzeug dort zu kaufen, um die einheimische Kundschaft, die nun nicht mehr in Wien den Mittelpunkt des Handels sehen wird, die sich aus nationalen Gründen von Wien abwenden wird, zu befriedigen.

            Dazu die Rohstoffe. Woher die nehmen? Wieder nur aus dem Ausland. Vor allem die Kohle. Dann aber auch so vieles, was wir zum Fertigmachen brauchen, die Baumwolle, die Gewebe, die feinen Hölzer, die Metalle, ja selbst viele Werkzeuge und Arbeitsmaschinen. Wir sind ein armes Volk. Nichts als Holz, Eisenerz, Salz und ein wenig Kohle.

            Nicht einmal ernähren können wir uns selber, sagen weiter die Schwarzseher. Wie unsere Industrie noch vielfach auf niederer Stufe der Entwicklung ist, noch viel mehr gilt dies von der Landwirtschaft. Wir ringen dem Boden Erträge ab, die oft nur die Hälfte gut bewirtschafteter Böden darstellen. Wir brauchen Dünger, moderne Geräte, moderne Menschen vor allem in der Landwirtschaft. Die Erkenntnis, daß sich eines nicht für alle schickt, Körnerbau nicht auch für den Hörndlbauern, der in hohen Lagen haust, und Viehwirtschaft nicht für den Körndlbauern der Ebene, der keine Weiden hat. Jeder ist da Schuster und Schneider in einer Person. Und die Wirkung: Er bringt weder einen gut passenden Rock noch brauchbare Schuhe zusammen, weder ringt er dem Boden genug hohe Erträge ab, noch vermag er als Viehzüchter Tüchtiges zu leisten. Wie soll da Wien leben? Es wird aus dem ungarischen und polnischen Ausland das Schlachtvieh, aus dem serbischen Ausland die Schweine, aus dem polnischen und tschecho-slovakischen Ausland die Kartoffeln und aus Ungarn, Polen, Böhmen, Südrußland, Rumänien die Brotfrucht beziehen müssen.

            Selber wird es aber nichts zu geben haben als seinen Überschuß an Menschen. So reden sie: Nur keine Sorge wegen der Wohnungsnot. Es werden viele Fabriken stillstehen, der Kai wird veröden, die Büros werden entvölkert sein, der Überschuß an öffentlichen Gebäuden, an Amtshäusern aller Art, an Ministerien, an Kasernen, an Palästen der Reichen, die neue Vaterländer suchen, wird da sein – Wien wird bald einen Überschuß an Wohnungen haben, wie keine zweite Großstadt. In dem einzigen Kriegsministerialgebäude können alle Staatsmänner untergebracht werden, deren der neue kleine deutschösterreichische Staat wirklich bedürfen wird. Ihre räumliche Zusammenlegung wäre sogar ein Gewinn für die sparsame Wirtschaft, die uns so not tut. Sie würde Beamte, Papier und Tinte sparen, Kraftwagen und Arbeit der staatlichen Post. Wenn wir richtig wirtschaften, werden wir manche Sorge verringern. So die Schwarzseher.

            Ihnen stehen die anderen gegenüber, die mit dem felsenfesten Vertrauen zu Wien und seiner ihm innewohnenden Urkraft, die, die gern alles rosig sehen. Es wird schon gehen. Über das Wie denken sie nicht viel nach, aber sie sind überzeugt, daß es gehen wird. Wir haben die Donau, sagen sie, sie gilt es zu beleben, wir haben den Wienerwald, ihn gilt es in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen, wir haben zur Not Kohle, aber Deutschösterreich hat nicht Wasserkräfte und wir haben vor allem kunstfertige Menschen, ein glückliches Gemisch – Schneiderinnen, die die schönsten Blusen bauen, Köchinnen, die böhmische Dalken, einen italienischen Risotto oder eine französische Tunke gleich gut treffen, wir bringen Künstler aller Art, Maler und Bildhauer, Schauspieler und Tonsetzer hervor, unsere Gelehrtenschulen genießen Ansehen, Schriftsteller von Rang wachsen auf Wiens Boden – Wien ist die geborene Kunst- und Fremdenstadt und Modestadt dazu. Ausgangspunkt für die Alpenreise, wichtigster Rastpunkt für die Balkanreise, nur nicht verzagen, wir werden bald über den Damm sein und dann wird ein neues Leben beginnen.

            Auch die, die so reden, haben recht, so recht wie die Schwarzseher. Es wird nicht alles gleich verloren sein. Das Beharrungsvermögen wird die Industrie für ihre Burgen kämpfen lehren, für die großen Fabriken, der große eigene Bedarf der Stadt und Deutschösterreichs, den der lange Krieg geschaffen hat, wird zunächst genug Arbeit für den eigenen Gebrauch bringen, die Übergangszeit wird verlängert und indes für Industrie und Handel doch wieder Zeit, abgerissene Fäden von neuem zu knüpfen oder solche, die zu reißen drohen, zu verstärken. Wer Zeit gewinnt, hat viel gewonnen. Was brauchen wir alles? Sehen wir uns heute unsere zerlumpten Eisen- oder Straßenbahnwagen an, die ausgefahrenen Geleise, den Bekleidungszustand der Menschen, ihren Wäschemangel, betrachten wir den Zustand unserer Straßen und allen Fuhrwerks, schauen wir in die Häuser und Wohnungen, in die Schulen, in die Spitäler und denken wir an den Wiederaufbau der eigenen Gesundheit – was gibt es da nicht alles für unendliche Arbeit für ein tüchtiges Volk? Sollen wir warten, bis andere diese Arbeit machen? Diese Arbeit schafft Werte, die Werte, auf die wir unsere Zukunft bauen können.

            Es ist jetzt ähnlich wie zu Beginn des Krieges. Auch damals dachten wir alle an große Arbeitslosigkeit, die lange andauern wird. Dann hat das begonnene und täglich mit neuen Schrecken fortgesetzte Zerstörungswerk alle Kräfte aufgesaugt. Nun gilt es den Wiederaufbau. Wieder Arbeitslosigkeit, wieder von drohend langer Dauer. Und doch ist der Wiederaufbau, wo wir hinsehen, nötig. Wir brauchen mechanische Kräfte. Schaffen wir sie uns, bändigen wir die Wasserkräfte! Wir brauchen Verkehr. Schaffen wir ihn, bauen wir Dampf- und Frachtwagen und Schiffe, walzen wir Schienen, tragen wir Steinbrüche ab und bauen wir Straßen. Wir brauchen Wohnungen. Halten wir Ausschau nach den freiwerdenden Amts- und Kanzlei-, Geschäfts-, Lager- und Kasernenräumen und suchen wir sie in Wohnungen zu wandeln. Nichts brachliegen lassen, alles nützen, sei es auch zunächst nur zur Not. Machen wir Wien zur reinsten Stadt des Weltteils. Lassen wir den Kehricht nicht liegen! Verwerten wir ihn besser als in unseren Lungen. Machen wir aus den Pulverfabriken von gestern heute Kunstdüngerfabriken. Helfen wir selber der Ernährung auf durch Zucht- und Mastanstalten, durch Milchwirtschaft und Feldbau. Beleben wir die Donau und die Teiche, die Alpenflüsse und Alpenbäche! Wo wir einen Schaden sehen, verschieben wir seine Ausbesserung nicht auf morgen und sorgen wir vor allem dafür, daß unsere Jugend durch ein neuaufgebautes Schulwesen, durch Lehrwerkstätten und Kunsthandwerkerschulen Gelegenheit finden zur Ausbildung der reichen natürlichen Gaben, die in dem glücklichen Wiener Gemisch schlummern. Sorgen wir für alles das und noch manches andere und wir werden für Millionen Hände Arbeit geschaffen haben. Wien braucht Arbeit! Lassen wir den Kopf hängen, dann wird es nicht gehen. Wer vorwärts kommen will, darf die Hände nicht im Sack haben oder sie verzweifelnd ringen.

            Zugreifen! Dann wird es gehen!

In: Arbeiter-Zeitung, 25.12.1918, S. 8.

Karl Renner: Das Urteil des Staatskanzlers über den Vertrag. (1919)

                Wenn man das gesamte Vertragsinstrument mit seinen 381 Artikeln durchgelesen hat, ist man erschüttert von der Tragweite der politischen Umwälzung, die durch den Vertrag für das Zentrum Europas bewirkt wird. Schwere Besorgnis erfüllt uns für die deutschen Alpenländer, die eine Schuld büßen müssen, von der ihre Bevölkerung nichts weiß. Freilich spricht, und das muß trotz alledem zum Lob des Vertrags gesagt werden, aus jeder Seite das sorgfältige Bemühen der Konferenz, der österreichischen Sphinx ihre Rätsel abzugewinnen und die verworrenen Verhältnisse halbwegs zu ordnen. Die Konferenz hat viel Fleiß auf den Vertrag verwandt, aber sie konnte, was nicht verwunderlich ist, dennoch die innersten wirtschaftlichen Zusammenhänge nicht vollständig erfassen, noch hat sie in gerechter Weise die Übel und Lasten, die der Krieg zurückgelassen hat, auf die Nachfolgestaaten verteilt.

            Politisch und national sind wir schwer getroffen. Die von der Nationalversammlung unserem Land gegebene Bezeichnung Deutschösterreich entspricht den Tatsachen nicht mehr. Der Gedanke der Novemberrevolution, alle deutschen Siedlungen des alten Österreich auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes zu einem Staat zusammenzufassen, ist vereitelt. Unser Staat ist beschränkt auf die deutschen Alpenländer. Die vierhundertjährige Gemeinbürgerschaft der Alpen- und Sudetenländer ist zerrissen. Auch von den deutschen Siedlungsgebieten in den Alpen sind uns wesentliche Stücke vorenthalten. Der geheiligte Boden, das geschlossene Südland deutscher Zunge Südtirol wird dem italienischen Königreich unterworfen. Das urdeutsche Marburg, dessen deutschen Charakter die Antwortnote selbst hervorhebt, soll in Hinkunft seine Vertreter nach Belgrad schicken. Das kerndeutsche Abstaller Becken ist verloren. Das einzige Radkersburg verbleibt uns. Der Schmerz über diese Verluste kann nicht gemildert werden durch die Freude darüber, daß das Alpenvorland im Leithagebirge, nachdem es vier Jahrhunderte unter Fremdherrschaft stand, uns wieder zurückgegeben wird. Feldsberg bleibt verloren und der Gmündner Bahnhof ebenso. Die Nationalversammlung wird selbst darüber entscheiden müssen, ob trotz dieser Opfer dieser Vertrag unterzeichnet werden kann.

            National bedeutet dieser Vertrag für die Republik das schwerste Opfer. Sie büßt ihre Handlungsfreiheit ein und das mit elementarer Gewalt in den Novembertagen hervorgetretene Anschlußbestreben ist auf den schwierigen Weg von Verhandlungen mit dem Völkerbund verwiesen.

            Die deutschen Alpenländer werden politisch allein stehen. Wie können sie das? Die Entente gibt uns die Antwort: Wir schicken euch die Reparationskommission. Sie wird eure Lasten prüfen und eure Lebensnotwendigkeiten wahrnehmen. Sie wird bestimmen, wieviel Kohle ihr zum Heizen bekommt, wieviel Nahrungsmittel ihr aus dem Ausland zuführen könnt, wie ihr eure Schulden zahlen und wie ihr Kredite bezahlen sollt. Wir erhalten eine politische Souveränität, von der wir kaum Gebrauch machen dürfen, und dazu die vollständige ökonomische Oberhoheit der alliierten Großmächte, die sich in der Reparationskommission verkörpert. Über der Kommission steht dann als höchste Instanz der Völkerbund. Man ist versucht zu sagen: Das wäre wohl zu ertragen, wenn man nur wüßte, ob der Völkerbund bestehen wird und ob er so organisiert sein wird, daß er gerecht zu sein imstande ist. Wenn man nur wüßte, ob und welchen Plan die alliierten Großmächte haben, um unserer handgreiflichen wirtschaftlichen Unzulänglichkeit abzuhelfen.

            Jedenfalls ist für Deutschösterreich der Bestand und das Funktionieren des Völkerbundes ein Essentiale des Vertrages, mit dem auch dieser steht und fällt. Sehr erschwert haben sich die Mächte ihre Aufgabe und uns das Leben dadurch, daß sie uns für alle Sünden des alten Regimes zum Sündenbock gemacht haben und uns ein Übermaß von Kriegsschulden, nichttitulierten Schulden, Auslandsschulden, Valutaschulden und im Ausland befindlichen Banknoten aufgebürdet haben. Sie wollen den Ertrinkenden retten und belasten ihn zuvor mit einem Mühlstein. Offenbar rechnen sie mit dem Lebenswillen und der eigenen Kraft des Schwimmers.

            In der Tat ist unser Volk vor die furchtbarste Prüfung gestellt. Diese Probe wird uns entweder außerordentlich ertüchtigen oder dauernd verelenden. Sie setzt dem Sichgehenlassen, In-den-Tag-Hineinleben, den Herrgott einen guten Mann sein lassen und den sonstigen uns überlieferten „Nationaltugenden“ ein jähes Ende.

            Wir müssen uns zusammennehmen in einem doppelten Sinne, uns einheitlich organisieren, eine wirkliche Gemeinschaft werden im ganzen und alle Kraft einsetzen jeder einzelne. Dann kann es gelingen.

In: Neue Freie Presse, 4.9.1919, S. 1.

Joseph Roth: Das Jahr der Erneuerung (1918)

                Mit Geklirr und Geschepper verzieht sich dieses Jahr in die Annalen der Geschichte: mit seinem Zipfel schleppt es eine Menge metallener Straßentafeln nach. Als das Jahr einzog, gab man ihm eine Erkennungsmarke: das Jahr der Erneuerung. Aus den Tiefen heraus wollte sich der Mensch der Revolution erneuert haben. Er tat sein schwarzgelbes Portepee ab und wickelte um das Bajonett, das er behielt, ein rotweißes. Dann fiel er auf die Knie und sang beim Hochamt der Demobilisierung sein: De Befundis. Der Fortschritt setzte sich in die Automobile der Generalstäbler und in die Equipagen des Hofes. Autos und Equipagen entführten den Fortschritt. Das weibliche Geschlecht rückte aus der Kategorie der „Hilfskraft“ in die Region der Gleichberechtigung empor und durfte durch Versammlungsbesuch und Stimmabgabe bei den Wahlen in die Nationalversammlung seine politische Überzeugungslosigkeit ebenso geltend machen wie der Mann. Der „Umsturz“ hatte sich so vollzogen, als ob er durch einen Erlaß des Chefs für Ersatzwesens fürsorglich vorgeregelt worden wäre. Er stürzte eigentlich gar nichts: der Thron verfiel wie eine morsche Sitzbank in einem vernachlässigten Park; die Monarchie löste sich auf wie ein Zuckerwürfel im Wasserglase. Als kein Kaiser mehr da war, entdeckte man die Republik. Da man nicht mehr loyal sein konnte, wurde man revolutionär.

Dennoch war die Revolution eine Notwendigkeit. Die Geschichte ging schon lange schwanger mit der Revolution. Hinter den Goldtressen des Byzantinismus stank die Verderbtheit. Kulissen aus Phrasen und Lakaien verbargen den Dreck, der sich durch Jahrhunderte im Augiasstall des „Hofes“ aufgehäuft hatte. Die Revolution mußte geboren werden. Aber da stolperte die Geschichte über die Drahthindernisse des Weltkrieges. Durch die Erschütterung geschah die Frühgeburt der Revolution.

Diese, ein frühgeborenes Kind, muß in Wärmestuben und Kliniken mühsam aufgepäppelt werden. Denn wir, wir, das erbärmlichste Geschlecht, haben sie gezeugt. Jedes Geschlecht hat die Revolution, die es verdient. Die unserige, schwach, engbrüstig, kam in die Kinderklinik der Koalition. Und selbst das wäre noch nicht einmal so schlecht. Aber wir haben in jener Klinik keine Ärzte. Und die Revolution stirbt zwar nicht, aber sie lebt auch nicht, sie ist ein gutes österreichisches Kind und „wurschtelt sich fort“.

                                               *

Erneuerung! Erneuerung! Wo, frage ich, seht ihr Erneuerung? Ist das Erneuerung, wenn die Burgmusik um die Mittagsstunde statt zur Burg, zum Staatsamt für Heerwesen zieht? Wenn ein Minister Staatssekretär heißt? Wenn der Briefträger nicht „Diener“ mehr, sondern „Unterbeamter“ ist? Reißt ihm doch die Knechtseligkeit aus seiner armen, gemarterten Brust und er mag heißen wie er will, er wird kein Diener sein! Gebt dem armseligen Hirn des Staatssekretärs Weitsichtigkeit und Vernunft und laßt ihn nur Minister heißen! Laßt ab vom öden Geschepper der militärischen Tschinellen, laßt Beethoven spielen und verwendet eure Janitscharenkapelle zu Türstehern in Kunsttempfeln! Aber die Kesselpauke ist mächtiger als der Fiedelbogen. Im Lärm und Gepolter der Gosse, der ihr dient, geht die Stimme der Kultur verloren, der ihr zu dienen vorgebet!

Erneuerung! Ist der Befundmensch in Euch schon verloren gegangen? Ihr habt keine Furcht mehr vor dem General? Ihr steht nicht mehr beim Rapport? Ihr seid die Befreier vom Militarismus? Ihr prediget Menschenrechte?

Oh, der Streit um die Auslieferung von Kun und Levien, Fremdenrazzien und Abreisendmachungen, sind das die Erfolge Eurer Predigten über Menschenrechte? Militarismus der Geister, ist er nicht schändlicher, als der der Leiber? Habt Ihr keine Angst vor dem Arbeiterrat? Steht Ihr nicht täglich beim Rapport vor der Partei?

                                                           *

Es ist keine Erneuerung, so lange nicht Einkehr ist! Wir müssen uns befreien vom Schwert des Militarismus, das über uns hängt. Die Waffe hat Gewalt gewonnen über die Faust. Werfen wir sie weg, die Waffe. Der Polizist hat seinen Helm abgelegt, aber Polizei ist noch da. Den Bösen sind wir los, die Bösen sind geblieben. Der Zweck heiligt nicht die Mittel! Die Mittel profanieren den Zweck!

So ist es denn kein Jahr der Erneuerung gewesen. Höchstens ein Jahr der Neuerungen. Gerngroß hat seine weiße Woche. Der Kramladen der Geschichte hat zuweilen sein Jahr der Novitäten.

In: Der neue Tag, 12. 11.1919, S. 3.

N.N.: Die Organisation der Volkswehr (1918)

                Von morgen Montag angefangen werden in allen Wiener Kasernen Werbekanzleien eröffnet, um die Anmeldungen zum freiwilligen Eintritt in die Volkswehr entgegenzunehmen.

            Wer seinen Eintritt anmeldet, ist aller anderen Verpflichtungen innerhalb seines bisherigen Truppenkörpers entbunden und rückt sofort in die ihm von der Werbekanzlei bezeichnete Dislokationen ein.

            Die Angehörigen der freiwillig Eintretenden bleiben in Bezug ihrer Unterstützungen; auch ihre eigenen durch den Besitz von Tapferkeitsmedaillen erworbenen Rechte und Bezüge bleiben gesichert.

            Nach vollzogener Demobilisierung kann jeder freiwillig in die Volkswehr eingetretene Soldat wieder aus der Körperschaft austreten. Solange die Demobilisierung nicht vollzogen ist, gilt die eingegangene Verpflichtung für die Dauer von drei Monaten und kann dann wieder erneuert werden.

            Für die Aufnahme können nur körperlich rüstige Männer in Betracht kommen. Die in der Volkswehr tätigen Bürgersoldaten erhalten ohne Unterschied des Chargengrades sechs Kronen tägliche Löhnung und auskömmliche Menage, bestehend aus Frühstück, Mittagsmahl und Nachtmahl. Chargen, die als Schwarmführer oder Zugsführer Unteroffiziersdienst leisten, erhalten eine Zulage von einer Krone.

            Die Volkswehr wird sich in Bataillone zu je drei Zügen gliedern. Die Dienstführung bei den Unterabteilungen wird von den Soldatenräten überwacht und gegen jede Willkür gesichert werden. Dienstlichen Befehlen muß natürlich unbedingter Gehorsam geleistet werden. Befehle aber, die Vorgesetzte augenscheinlich in ihrem privaten Interesse erteilen, sollen dem Soldatenrat als Beschwerde gemeldet werden. Es wird dafür gesorgt, daß die ganze Dienstordnung bei der freiwilligen Volkswehr auf eine demokratische Grundlage gestellt wird, die jede Ausschreitung und Willkür der Befehlsgewalt ausschaltet, aber andererseits gute Disziplin verbürgt, die sich vor allem auf das Solidaritäts- und Pflichtgefühl aller freiwilligen Volkswehrmänner zu gründen haben wird.

Die Präsidenten des Deutschösterreichischen Staatsrates

                        Dinghofer                              Hauser                                                Seitz

In: Arbeiter-Zeitung, 3.11.1918, S. 1.

In: Neue Freie Presse, 3.11.1918, S. 5.

In: Deutsches Volksblatt, 3.11.1918, S. 6.

Karl Tschuppik: Das republikanische Wien (1918)

Wien, 13. November 1918.

Wien hat rasch wieder sein altes Gesicht bekommen. Von dem Sturm des gestrigen Tages ist heute morgens nichts mehr zu merken. Die Menschen gehen ihrer Arbeit nach, der Verkehr wickelt sich ruhig ab, die Bürger spazieren in der Sonne. Man sieht es ihnen nicht an, daß sie über Nacht Republikaner geworden sind. Sie scheinen überrascht und froh zu sein, daß alles noch auf seinem alten Platze steht. Unpolitisch wie das Wiener Bürgertum ist, hat es gestern an die wildesten Gerüchte geglaubt und einen regelrechten Weltuntergang erwartet. Heute konnte es sich überzeugen, daß die Phantasien des gestrigen Abends zerstört sind. Eine helle Herbstsonne hat die grauen Nebel verjagt und scheint mild und freundlich auf das republikanische Wien. Die Wiener Revolution wäre die unblutigste, sanfteste Erhebung der Geschichte geworden, wenn nicht die Wichtigtuerei unklarer Köpfe und ein Mißverständnis die Schießerei beim Parlament veranlaßt hätten. Heute, bei Licht besehen, stellte es sich heraus, daß die Urheber der Panik ein paar aufgeregte Jünglinge sind, die sich Kommunisten nennen, aber eigentlich nichts anderes wollen, als sich von der großen Welle emportragen zu lassen. Die meisten von ihnen haben während der ganzen Kriegszeit die Kourage sorgfältig versteckt und an Alles eher gedacht als an Sozialismus und Kommunismus. So mancher dieser jungen Leute war Patriot, Kriegsberichterstatter, Feuilletonist für altösterreichische Angelegenheiten. Die Angst, den Anschluß zu versäumen, hat ihnen große Worte und revolutionäre Phrasen in den Mund gegeben. Der alberne Einfall, den Staatsrat gefangen zu nehmen und das Parlament zu besetzen, war typische Wichtigtuerei literarischer Gehirne. Die Stürmer und Dränger wußten ganz gut, daß es nichts niederzuringen gab, da das alte Österreich kampflos abgetreten war. Sie wußten auch, daß im Staatsrat die Sozialisten die Führung haben. Sie mußten auch wissen, daß die organisierten Arbeiter mit einem solchen Dilettantismus nichts zu tun haben wollten. Aber es kam ihnen nicht auf das Wesen der Revolution, sondern auf die Revolutionsspielerei, auf den äußeren Knalleffekt, an. Darum stürmten und schossen sie. Das eitle, frevle Spiel hat zwei Menschenleben und das Auge eines braven Menschen, des Pressechefs im Staatsrat Ludwig Brügel, gekostet. Den übrigen Schaden trägt Hansens Parlamentsgebäude.

Den ganzen Tag über standen heute hunderte Menschen auf dem Franzensring, um das beschädigte Parlamentshaus zu betrachten. Die Kugeln der Roten Garde, die kopflos hin- und herschoß, haben die Façade recht arg hergenommen. Viele Fenster sind zertrümmert, die hohen Säulen beschädigt, das große Tor zeigt hunderte Löcher. Schaden litt auch die schöne Giebelfüllung des Hauses, das große Halbrelief mit dem alten Kaiser in der Mitte. Franz Josef verlor gestern die rechte Hand. Die Schießerei hatte übrigens auch ein kleines komisches Nachspiel zur Folge. Als das Parlament gestern unter Feuer genommen wurde, lief das Küchenpersonal des Hauses, Köchinnen, Köche, Kellner, Waschfrauen und Buffettdamen angstvoll zusammen und suchte sich durch einen Seitenausgang zu retten. Sie stießen dabei auf Rote Gardisten, die im Scherz riefen, ein Entweichen sei unmöglich, Mitgefangen, mitgehangen, alle müßten sterben. Darauf verkrochen sich Köchinnen und Dienstmädchen in den Keller, wo sie spät nachts halb tot vor Angst aufgefunden wurden. Sie alle haben heute ihre Büchel verlangt und waren nicht zu halten. Das republikanische Parlament ist also ohne Küche.

Die wirklichen Träger der Revolution, die Wiener Arbeiter, haben den gestrigen Putsch sehr unsanft beurteilt. In den großen Massenversammlungen am Abend wurde die Spielerei der kommunistischen Knaben auf das schärfste verurteilt und die Auflösung der Roten Garde gefordert. Das Kriegsministerium wird diesem Wunsche wahrscheinlich entsprechen müssen und es täte sehr gut daran, da diese seltsame Truppe keine Existenzberechtigung hat. Nachdem der tüchtige Feldmarschall Boog, der Kommandant der Wiener Division, den Aufbau der nationalen Armee in die Hand genommen hat, ist es wirklich nicht notwendig, eine bewaffnete Schar zu dulden, die undisziplinierter, unkontrollierbar wie Schillers Libertiner, haust. Auch unter ihnen sind Idealisten und brave Burschen, und ihr Hauptmann, Egon Erwin Kisch aus Prag, hat es sicherlich gut gemeint. Aber die Mariahilferstraße gehört vorläufig noch nicht zu den böhmischen Wäldern. Es geht daher nicht gut an, Privatautos anzuhalten und andere Requisitionen zu unternehmen, auch dann nicht, wenn im Auto zufällig der Baron Rothschild sitzt.

Man muß sich übrigens wundern, daß nach dem beispiellosen Zusammenbruch der Armee die Unordnung sich auf diese kleine Episode beschränkt. Der neuen Regierung ist es gelungen, die Tausende zurückflutender Soldaten in ordnungsmäßige Bahnen zu lenken und man muß gestehen, daß die Mannschaft dabei mehr Disziplin bewahrt hat als so mancher Offizier. Er wird noch einmal darüber zu sprechen sein, wie namentlich viele höhere Offiziere die Front verlassen und dabei ganz an den Unterschied von Mein und Dein vergessen haben. Die Wachsoldaten am Hütteldorfer Bahnhof und auf den Straßen des Wiener Waldes haben wirklich ernstlich zu tun, um etwas von dem gestohlenen Staatsgut zu retten. Ein größerer Teil des Inhalts der Regiments- und Bataillonskassen belebt jetzt die Wiener Nachtlokale. Da fließt Champagner und Wein, Mädchen und Musiker werden beschenkt, und wenn nicht die Sperrstunde wäre, die der neue Staat genau so einhält wie der alte, gäbe es hier lustige Nächte bis zum Morgen. An diesem Wien ist die Weltgeschichte spurlos vorübergegangen; es scheint entschlossen, auch im republikanischen Kleid dasselbe zu bleiben.

In: Prager Tagblatt, 14.11.1918, S. 1.

N.N.: [O. Bauer]: Rätediktatur oder Demokratie.

(Teil 4) Der Weg der Demokratie.

            Die Revolution hat der deutschösterreichischen Arbeiterschaft die demokratische Republik, die Selbstregierung des Volkes im Staate, im Lande und in der Gemeinde gebracht und damit ihre Macht wesentlich erweitert. Aber der große politische Sieg konnte das wirtschaftliche Elend nicht bannen. Unsere Lebensmittelvorräte sind erschöpft; wir leben nur von den allzu kargen Zuschüben der Entente. Die Zufuhr der ausländischen Kohle, auf die wir angewiesen sind, stockt; daher ist unser Eisenbahnverkehr gedrosselt, unsere Fabriken können infolge des Mangels ausländischer Rohstoffe und Kohlen nicht arbeiten; Hunderttausende sind arbeitslos. Die Kriegskosten sind mit Milliarden Banknoten, die in den Umlauf gepreßt wurden, gezahlt worden; dadurch sind unsere Geldzeichen entwertet, die Preise steigen ins Unerhörte, die leeren Staatskassen und die Krise der Industrie machen es unmöglich, Löhne und Gehalte in gleichem Ausmaß zu erhöhen. Die Entente verweigert uns immer noch den Frieden, die Rückkehr unserer Gefangenen, die freie Einfuhr von Rohstoffen und Lebensmitteln. An all dem kann keine Regierung etwas ändern, Aber die Massen, die hungern und leiden wie nie zuvor, sind verzweifelt und erbittert. Die Leidenschaft, durch die Not entfesselt, droht über besonnene Erwägung zu obsiegen. Das Vorbild Rußlands und Ungarns lockt Tausende. Die Bourgeoisie sieht, daß die Versuchung zu neuer Revolution, zur Proklamierung der Rätediktatur die Massen lockt, Die Bourgeoisie zittert davor, daß die Massen der Versuchung erliegt, So klammert sich die Bourgeoisie jetzt selbst an die Demokratie, gegen die sie sich vor wenigen Monaten noch mit Händen und Füßen gewehrt, die sie nur unter unwiderstehlichem Zwange hingenommen hat. Die Bourgeoisie sucht die Demokratie zu retten, indem sie den arbeitenden Volksmassen ihre Fruchtbarkeit beweist. So ist die Bourgeoisie unter dem Drucke der Furcht vor der Rätediktatur zu weit größeren Zugeständnissen bereit, als sie sonst bei gleichen Machtverhältnissen bereit wäre. Ist die Macht des Proletariats zunächst vergrößert worden durch den Sieg der Demokratie, so wird sie jetzt neuerlich vergrößert dadurch, daß die Bourgeoisie die Demokratie bedroht sieht durch die Werbekraft des Gedankens der Rätediktatur.

            So können wir heute im Rahmen der demokratischen Republik ohne neuen gewaltsamen Umsturz sehr viel durchsetzen. Wir können die alten monarchischen, feudalen und militaristischen Institutionen von der Wurzel aus ausrotten. Wir können durch eine Reihe mutiger Reformen das Unterrichtswesen neu gestalten, um für die Erziehung einer selbstbewußten, denkenden, mutigen Generation die Grundlagen zu schaffen. Wir können das Arbeiterrecht und die Arbeiterversicherung unvergleichlich schneller und unvergleichlich großzügiger, als es jemals zuvor möglich war, ausbauen. Wir können die ersten Schritte auf dem Wege zur Sozialisierung der Industrie und des Bergbaues, der Forstwirtschaft und des Handels zurücklegen. Wir können durch eine energische Vermögensbesteuerung das Volk von dem Tribut an die Staatsgläubiger befreien. All das ist heute möglich auf der Grundlage der Demokratie. Und all das ist im Zuge, im Werden. Die Demokratie wird diese Aufgaben erfüllen, wenn ihr nur Zeit zur Erfüllung dieser Aufgaben gelassen wird.

            Aber freilich, all das genügt den breiten Massen des Proletariats nicht mehr. Aufgewühlt durch das furchtbare Erlebnis des Krieges, aufgerüttelt durch die Stürme der Revolution in Rußland, in Deutschland, in Ungarn, fordert das Proletariat die volle Macht, die Alleinherrschaft. Sie kann es freilich in // der deutschösterreichischen Nationalversammlung nicht erlangen, denn in ihr halten die Kräfte der klerikalen Bauernschaft und der sozialistischen Arbeiterschaft einander das Gleichgewicht. Aber müssen wir darum die Demokratie aufgeben? Gibt es nicht auch auf demokratischer Grundlage einen Weg zur Macht?

            Im Staate ist die Macht der Arbeiter begrenzt durch die Macht der Bauern. Anders in lokalen Selbstverwaltungskörpern. In der Nationalversammlung haben wir nicht die Mehrheit; aber in der Gemeindevertretung von Wien, im Landtag von Niederösterreich, in den zu schaffenden Kreisvertretungen des Viertels unter dem Wienerwald oder des obersteirischen Kreises kann die Arbeiterschaft unschwer die Mehrheit erringen. Und wenn nun all diesen Selbstverwaltungskörpern eine breite Autonomie zugewiesen, wenn ihnen insbesondere auch das Recht zur Enteignung und Sozialisierung dazu geeigneter Betriebe zugestanden wird, dann kann die Herrschaft über die lokalen Selbstverwaltungskörper zur gewaltigsten Machtquelle des Proletariats werden. Im Staate sind die Bauern zu zahlreich, als daß die Arbeiterschaft allein herrschen könnte; in den Großstädten und Industriebezirken aber ist die Arbeiterschaft die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, da kann sie auf demokratische Weise, durch den Stimmzettel, die Herrschaft in den lokalen Vertretungskörpern erringen und die Autonomie der Gemeinden und Kreise kann so zu einem wichtigen Herrschaftsmittel des Proletariats werden. Darum brauchen wir vor allem eine demokratische Lokalverwaltung mit breiten Kompetenzen.

            Andererseits aber brauchen wir den Anschluß an das Deutsche Reich. Denn wie immer sich die Klassenkämpfe des reichsdeutschen Proletariats vorübergehend gestalten, schließlich sind in der großen deutschen Republik die Voraussetzungen für die Herrschaft des Proletariats doch unvergleichlich günstiger als in unserem kleinen, industriell viel weniger entwickelten Deutschösterreich. Dort bildet die Arbeiterklasse einen viel größeren, die Bauernschaft einen viel kleineren Teil der Bevölkerung als hier. In Deutschland wird das Proletariat die Herrschaft erobern; also wird auch Deutschösterreich unter proletarischer Herrschaft stehen, sobald es ein Teil des Deutschen Reiches wird.

            Unser deutschösterreichischer Staat ist ein Notgebilde, zu vorübergehender Leistung bestimmt. Wenn es erst in dem großen Deutschland aufgegangen sein wird, dann werden unserer Nationalversammlung keine wichtigen Aufgaben mehr bleiben. Das Schwergewicht der Gesetzgebung und der Verwaltung wird dann fallen einerseits an das Reich, andererseits an die lokalen Selbstverwaltungskörper, an Gemeinden, Kreise und Länder. Im Reiche aber kann die Arbeiterschaft auf demokratischem Wege die Herrschaft erlangen und in den Stadtgemeinden und industriellen Kreisen wird sie mit demokratischen Mitteln die Herrschaft erobern. So können wir ohne Rätediktatur, mit den Mitteln der Demokratie die Macht gewinnen.

            Die Rätediktatur würde in Deutschösterreich keineswegs die Diktatur des Proletariats bedeuten; denn die Arbeiterräte müßten mit den Bauernräten die Macht teilen. Die Rätediktatur würde aber bei den heutigen Verhältnissen neuen Krieg gegen die Entente, die Gefahr einer Besetzung unseres Landes durch fremde Heere, die vollständige Einstellung der Lebensmittel- und Kohlenzufuhr, die ungeheuerlichste Steigerung des Massenelends bedeuten und in einer Hungerkatastrophe enden, aus der es keinen anderen Ausweg mehr gäbe als die Konterrevolution. Es gibt einen anderen, sichereren und schmerzloseren Weg zur Macht. Das ist der Weg der Demokratie. Wenn wir uns einerseits dem großen roten Deutschland eingliedern und andererseits in Gemeinden und Kreisen starke Burgen roter Herrschaft schaffen, führen wir das Proletariat auf sichererem Weg zur Macht.

In: Arbeiter-Zeitung, 28.3.1919, S. 1-2.

Deutschösterreichs Grenzen. Zwei Noten Renners (1919)

Die allgemeine Gebietsnote.

Saint-Germain-en-Laye, 16. Juni. Staatskanzler Dr. Renner hat heute dem französischen Ministerpräsidenten Clemenceau folgende die territorialen Fragen betreffende Note überreichen lassen:

Euer Exzellenz! In meiner am 10. Juni überreichten Note habe ich den Gesamteindruck des uns bis nun vorliegenden Teiles der Friedensbedingungen dahin zusammengefaßt, daß sie im allgemeinen Deutschösterreich zu einem lebensunfähigen Gebilde machen. Die folgende Note vom Gestrigen hat gezeigt, daß vor allem die Trennung der Sudetendeutschen von den Alpendeutschen, die seit dem Jahre 1526 politisch und wirtschaftlich vereinigt gewesen sind, die Wirkung erzielen muß, die Sudetendeutschen national zu vergewaltigen und politisch zu entrechten und die Alpendeutschen wirtschaftlich und kulturell zu verkümmern. In der angeschlossenen Denkschrift erbringt nunmehr die deutschösterreichische Friedensdelegation der hohen Konferenz den Beweis, daß der vorliegende Friedensentwurf für den Fall, daß Deutschösterreich auf die Alpengebiete beschränkt und geographisch als

eine ostalpinische Republik

eingerichtet wird, dieses Staatsgebiet so abgrenzt, daß die Grenzen im einzelnen national durchaus ungerecht, geographisch völlig unrichtig und wirtschaftlich ganz, unhaltbar sind. Zugleich beweist die Denkschrift, daß die geplante Abgrenzung nicht nur unsere besonderen Ansprüche verkürzt, sondern auch den Bedürfnissen der Nachbarsratten nicht gerecht wird und die allgemeinen europäischen Interessen verletzt, Die hohe Kommission wolle nicht unterlassen, die Einzelheiten dieser Denkschrift und ihrerAnlagen eingehend zu würdigen. Hier seien zusammenfassend nur folgende Momente hervorgehoben: Die uns vorgeschlagene

Nordgrenze,

die Deutschösterreich von der tschecho-slovakischen Republik trennen soll, folgt nicht den Grenzen der Sprache und der Rasse, sonst müßte sie genau dieselbe Linie einhalten, die Deutschösterreich auf Grund alter Abgrenzungsvorlagen gezogen hat und es müßte der deutsche Böhmerwaldgau, Deutsch-Südböhmen und Deutsch-Südmähren uns zufallen. Die vorgeschlagene Grenze gibt vor, den historischen Grenzen zu folgen, und auf den  Rechtsgrundsatz der historischen Grenzen beruft sich das tschechische Volk. Aber dieses selbe Volk verletzt zugleich den einzigen Rechtsstand, den es für die imperialistische Unterjochung von vielen Hunderttausenden Deutschen im Süden seiner Wohnstize vorschützt, indem es da und dort von dem geschichtlichen Gebiet Niederösterreichs wichtige Stücke beansprucht. Für diesen Anspruch

gibt es keinen Rechtstitel als die Gewalt.

Ihr halten wir das lebendige Recht eines von unverschuldetem Unglück gebeugten Volkes entgegen, dessen Selbstbestimmungsrecht niemals verjähren wird, auch wenn es zurzeit mit Füßen getreten wird, und fordern darum für den Fall, daß nicht alle Sudetendeutschen ihren frei geäußerten Entschluß, unserem Staate anzugehören, durchsetzen können, wenigstens die Gebiete des deutschen Böhmerwaldes, Deutsch- Südböhmens und Deutsch-Südmährens. Wenn es beschlossene und unabänderliche Sache sein sollte, daß auf das nationale Selbstbestimmungsrecht unserem Volke kein Anrecht gewährt werden solle, so berufen wir uns auf die Notwendigkeiten und Zweckmäßigkeiten des Wirtschaftslebens. Die von uns beanspruchten Gebiete gravitieren seit jeher nach den Märkten von Wien und Linz. Sie haben fest jeher als Deutsche für Deutsche arbeitend und mit ihnen seit vier Jahrhunderten in einem gemeinschaftlichen Leben die Erzeugnisse ihrer Steinbrüche und Forste, ihr Getreide, Vieh, ihre Milch und ihre sonstigen tierischen Produkte nach Wien und Linz geliefert, sie liegen diesen Städten weit näher als Prag und haben zu ihnen bessere Verkehrswege.

Im Osten

soll Deutschösterreich durch die March an die Tschecho-Slovakei und durch die Leitha an Ungarn grenzen. An der March wählt der Entwurf in erstaunlicher Abweichung von allem, was nach dem Völkerrecht üblich ist, nicht die Mitte des Flußlaufes, sondern das westliche Ufer als Grenze. Diese seltsame Willkür erklärt sich einzig und allein durch das Bestreben, Deutschösterreich von der Benützung dieser künftigen Wasserstraße auszuschließen. Welch auffälliger Vorgang angesichts der sonstigen Bestrebungen der Ententemächte, Verkehrswege zu internationalisieren oder wenigstens mehreren Völkern zugleich zugänglich zu machen, um den Weltverkehr zu erleichtern! Hier soll ein Verkehrsweg gegen die geschichtliche Rechtslage, gegen die wirtschaftliche Vernunft, gegen das nationale Interesse, gegen alle völkerrechtliche Praxis so gestaltet werden, daß er Staaten und Völker vom Verkehr absichtlich ausschließt.

Die Leitha

war allerdings seit langem die Grenze zwischen Ungarn und Österreich. Aber durch die Verfassung der Monarchie war die Leitha zu einer bloßen administrativen Scheidelinie geworden. Politisch, militärisch und wirtschaftlich war diese Grenze seit Jahrhunderten kaum mehr fühlbar. Nun soll sie Auslandsgrenze werden! Aber sie verläuft nur 48 Kilometer, also eine starke Kanonenschußweite von Wien, nur eine Flintenschußweite von Wiener-Neustadt, nur einen Tagesmarsch weit von Graz entfernt. Bruck an der Leitha war ein gemeinsamer Waffenplatz für Österreich und Ungarn, die Arbeiterschaft der großen Unternehmungen Wiener-Neustadts ergänzte sich zu einem hohen Bruchteil aus Ungarn. Das Gebiet von Oedenburg war seit jeher der Gemüsegarten von Wien. Die Gebiete von Oedenburg, Eisenstadt und Wieselburg versorgten Wien zum größeren Teile mit Mich und frischem Fleische. Die Stadt Graz, am Fuße der Alpen gelegen, ernährte sich samt ihrem alpinen Hinterland zum großen Teile aus Westungarn. Indem der Entwurf diese Gebiete durch eine Staats- und Zollgrenze zum Ausland macht, stellt er eine ungefähr zur Zeit der Entdeckung Amerikas überwunden Verkehrsschranke wieder her und schneidet die drei wichtigsten Industrieplätze von ihrem Gemüsegarten, von ihrer Milchwirtschaft und von ihrem Ackerboden ab. Er rückt so die empfindlichsten Punkte unseres Staates gleichsam vor die Geschützmündungen unserer Nachbarn, ein Zustand, der schon in diesen Tagen seine Bedenken offenbart. Man denke sich nur einen Augenblick, daß die Landesgrenze Frankreichs von Chantilly über Meaux nach Melun oder die Grenze Englands an Canterbury vorbeiführe, und frage sich dabei, ob Paris oder London unter solchen Umständen leben und sich sicher fühlen könnten! Geographie, Geschichte und wirtschaftliches Leben haben auch hier selbst den Weg gewesen:

jene westungarischen Gebiete

sind noch beherrscht von den Ausläufern der Ostalpen. sie sind seit dem tiefsten Mittelalter ganz überwiegend von Deutschen besiedelt, sie stehen seit jeher mit jenen nahen Städten in unmittelbarstem Verkehr. Budapest aber ist weit entfernt, spricht eine andere Sprache und das, was diese Gebiete einbringen, bezieht Budapest reichlicher und bester aus der nahen Tiefebene. Deutschösterreich hat geographischen, nationalen und wirtschaftlichen Anspruch auf diese Gebiete: trotzdem lehnt Deutschösterreich jede willkürliche Annexion ab, weil es wie im ganzen so hier im einzelnen seine Sache ausschließlich auf das nationale Selbstbestimmungsrecht stellt. Und darum fordern wir, daß diese Gebiete das Recht erhalten, sich durch freie Volksabstimmung selbst zu entscheiden, ob sie zum Staate Deutschösterreich kommen wollen.

                                                            Im Süden

grenzt Deutschösterreich an das jugoslavische Königreich und an das Königreich Italien. Auch im Süden hat die deutsch-österreichische Republik auch nicht ein einziges Dorf auf Grund eines geschichtlichen Vorwandes oder mit dem Mittel der Gewalt in Anspruch genommen. Da die Sprachgrenze überaus verwirrt und die Rassen unentwirrbar vermischt sind, hat Deutschösterreich dort das überwiegend deutsche Gebiet als sein eigenes

erklärt und dabei folgende Tatsache in Rechnung gestellt: Im italienischen Trentino, in Krain und im Küstenland liegen zahlreiche Städte und Märkte mit überwiegend deutscher Bevölkerung; dort leben zahlreiche deutsche Minderheiten, dort liegt das ganze deutsche Herzogtum Gottschee. Wenn Deutschösterreich diese nationalen Minderheiten, die nach Hunderttausenden zählen, dem italienischen und dem jugoslavischen Staate freiwillig unterstellt hat, so halten wir es nicht für unbillig,  wenn im Interesse einer natürlichen geographischen Abgrenzung und im Interesse der Aufrechterhaltung großer Verkehrslinien im ganzen geringe Minderheiten der Nachbarvölker, darunter nicht eine einzige Stadt von mehr als 5000 Einwohnern zu Deutschösterreich kommen, zumal da sich diese ladinischen und jugoslavischen Landesminderheiten unzweideutig zu Deutschösterreich bekannt haben. Die erwähnten deutschen Städte und Märkte im ferneren Süden wiegen an Kulturbedeutung und an Reichtum diese Landgemeinden gewiß auf. Schon dieser Umstand allein rechtfertigt ein Plebiszit, das die Mehrheiten nicht nach Gemeinden sondern nach geographischen Gebietseinheiten zur Geltung bringt.

Das geographische und Verkehrsinteresse im Süden

unseres Staates aber ist das folgende: Nach dem Entwurf der Entente würde Deutschösterreich zum Ostalpenstaat. Die Ostalpen zeichnen sich durch ihre westöstliche Längentäler aus. Vom Reschenscheideck, den obersten Lauf der Etsch abwärts bis zur Einmündung des Eisack, die Rienz aufwärts über das Toblacher Feld und das Längental der Drau abwärts bis nahe der ungarischen Grenze ist ein solches Längental, ist eine geographische und Verkehrseinheit. Es ist durch die Pustertallinie der Südbahn durchzogen und ist im ganzen genommen mindestens von neunzehnteln von Deutschösterreichern bewohnt. Durch den Ausbau der Bahn über den Ofenpaß wird diese Längenlinie, eine der wichtigsten europäischen Verkehrsadern, weil sie die Schweiz und durch diese Westeuropa mit her Tiefebene der mittleren Donau und dem europäischen Südosten verbindet, vor  allem mit Ungarn, das als die Kornkammer aller kornarmen Gebiete der Alpen angesehen werden kann. Diese Linie // wird durch den Friedensvertrag zerstückelt. Sie fällt zuerst in den italienischen, dann durch eine kurze Strecke wieder in den deutschösterreichischen, dann wieder in den jugoslavischen Herrschaftsbereich. Alle größeren Städte dieser Route, Mals, Meran, Bozen, Brixen, Klagenfurt, Marburg, alle mit ganz oder überwiegend deutscher Bevölkerung, werden den südlichen Nachbarn zugeteilt. Die ganze Talfurche, die zu neun Zehnteln deutsch ist, wird zu zwei Dritteln den Nachbarn zuerkannt. Eine rationelle Bahnverwaltung ist durch diese Aufteilung der Route einfach unmöglich gemacht. Das Interesse Italiens, der Schweiz und Frankreichs im Westen, Ungarns und Rumäniens im Osten, ja das In­teresse Europas würde unbedingt erfordern, daß diese Talfurche einschließlich ihrer südlichen Bergkämme, also bis zum Grat der Karawanken und des Bachergebirges als eine Einheit aufgefaßt und unter die Verwaltung des Ostalpenstaates Deutschösterreich gestellt werde. Trotz dieses klaren Zusammenhanges und trotz unseres nationalen Rechtes, das unzweifelhaft ist, sobald man nur die ganze Talfurche als Einheit auffaßt, hat Deutschösterreich diese Gebiete nicht ganz in Anspruch genommen und erwartet auch hier, daß der Wille des Volkes selbst, wenn es nur frei und in zusammenhängenden Gebieten abstimmt, der Vernunft und der Zweckmäßigkeit zum Sieg verhelfen wird.

Überblicken wir nun das Ganze der geplanten Regelung: Von Krumau im Norden über Znaim, Feldsberg, Wieselburg, Eisenstadt, Oedenburg, St. Gotthard, Marburg und Klagenfurt bis nach Brixen, Bozen, Meran und Mals im äußersten Südwesten würde, wenn der Entwurf in Rechtskraft erwüchse, unser Land eingesäumt von alten deutschen Städten, die von fremdsprachigen Eroberern beherrscht sind. Rings um die kaum sechs Millionen Einwohner im Lande würden

mehrere Millionen desselben Stammes,

derselben Sprache und zum Teil derselben Familien in Nachbarstaaten wohnen und feindseligen Völkern hörig werden. Welche immerwährende Reizung, welches nie zu vergessende Unrecht, wieviel unvermeidlicher Haß! Der Weltkrieg sollte der Welt den Frieden bringen— hier aber wird Haß gesät und also muß Unfriede geerntet werden. Auch der Sieger trägt sein Maß von Verantwortung in der Geschichte. Eine solche Regelung, wie sie in diesem Friedensentwurf vorgesehen wird, kann vor der Geschichte niemand verantworten! Und darum erwartet die deutschösterreichische Friedensdelegation, daß der Friedenskongreß den in der Denk­schrift ausgeführten Anregungen Folge gebe.

Die deutschen Sudetenländer.

Saint-Germain, 15. Juni.Die Note, mit welcher die von den Delegierten der deutschen Sudetenländer ausgearbeitete Denkschrift an die Entente vorgelegt und einbegleitet wird, hat folgenden Wortlaut:

Euer Exzellenz! In der Anlage beehre ich mich, Euer Exzellenz eine an den Friedenskongreß gerichtete Denkschrift zu unterbreiten, welche von den Vertretern der deutschen Gebiete von Böhmen, Mähren und Schlesien ausgearbeitet worden ist, um das Unrecht darzutun, das durch die vorgeschlagenen Friedensbedingungen

31/2  Millionen Deutschösterreichern droht.

Dieser Denkschrift schließe ich einen von den gewichtigsten Interessenten des österreichisch-schlesischen Kohlenreviers ausgearbeiteten gedruckten Vorschlag über die staatliche Neuordnung dieses Reviers an, der angesichts der dort herrschenden Wirren die höchste Beachtung verdient.

Was das künftige Los der Deutschen im Gebiete der Sudeten betrifft, gebe ich mir die Ehre, den Eindruck, den die Friedensbedingungen auf ganz Deutschösterreich gemacht haben, dessen berufener Interpret die deutschösterreichische Friedensdelegation ist, dahin zusammenzufassen: Die alliierten und assoziierten Mächte begehen an dem deutschen Volke dieser Gebiete wie an dem Deutschösterreichs überhaupt

schweres Unrecht und stürzen das tschecho-slovakische Volk in ein verhängnisvolles Abenteuer.

Der Zusammenbrach der österreichisch- ungarischen Monarchie macht es möglich, den allen unseligen Streit zwischen dem deutschösterreichischen und dem tschecho-slovakischen Volke zu beenden, allerdings nur dann, wenn man jedem der beiden Völker das Recht gibt, auf seinem Siedlungsgebiet sein selbständiges staatliches Leben zu führen. Die tschecho-slovakische Republik hätte, auf das tatsächlich von Tschechen und Slovaken bewohnte Gebiet beschränkt, alle Möglichkeiten einer zufriedenstellenden wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Im Besitz der hochentwickelten Landwirtschaft des böhmischen und mährischen Flachlandes und der reichen Waldbestände des böhmisch-mährischen Mittelgebirges und der Slovakei, der Kohlenlager von Kladno und Pilsen und der noch ungehobenen slovakischen Bodenschätze, der großen Maschinenindustrien von Prag, Pilsen und Königgrätz, der Textilindustrie des tschechisch sprechenden Mähren und Ostböhmen, der über das ganze Land verbreiteten Zucker-, Bier- und Spiritusindustrie wäre die tschechoslovakische Republik, indem sie sich mit dem Siedlungsgebiet des tschecho-slovakischen Volkes begnügt,

eines der reichsten Länder in Europa.

Wenn man ihr jedoch Deutschböhmen und das Sudetenland zuweist, wenn man diese deutschen Landstriche gegen den Willen ihrer Bewohner mit den tschecho-slovakischen Gebieten vereinigt, dann ersetzt man, wenigstens was die Deutschen und die Tschechen betrifft, den früher höchst problematischen, aber immerhin wirtschaftlich noch erträglichen Staat Österreich durch zwei zur unaufhörlichen gegenseitigen Feindseligkeit verurteilte Kleinstaaten und schafft damit im Herzen des europäischen Kontinents einen Kriegsherd, der für die Welt und für ihre soziale Erneuerung vielleicht noch verhängnisvoller werden kann als der Kriegsherd des Balkans. Dieses Urteil ist hart, aber es ruht auf der unerschütterlichen Überzeugung der ganzen Bevölkerung von Deutschösterreich. Und diese Überzeugung vor allem hat dieser Bevölkerung die Parole am meisten nahegebracht: Heraus aus diesem brennenden Hause und Anschluß an das Mutterland! Das Unrecht an den Deutschen Böhmens springt in die Augen: Das Gebiet und Volk, um das es sich handelt, ist

mehr als zweimal so groß als Elsaß-Lothringen.

Die Entente will 1870 und 1871 wieder gutmachen und geht daran, ein mehr als doppeltes Elsaß zu schaffen. Sie spricht in demselben Atemzug, mit dem sie das Selbstbestimmungsrecht der Völker verkündete, über ein Volk, das zahlreicher ist als das norwegische oder dänische, das politische Todesurteil aus. Elsaß-Lothringen wurde durch einen Krieg annektiert, durch eine Methode, die zwar heute vom moralischen Bewußtsein der Welt mit Recht verworfen wird, aber durch Jahrtausende von uns als Erwerbstitel des Völkerrechtes anerkannt war. Diese Deutschen Böhmens sind annektiert worden, ohne daß die Deutschen gegen die Tschechen im Lande im Kriege standen, zu einer Zeit, wo sich die Deutschen Österreichs durch den bereits  abgeschlossenen Waffenstillstand sicher glaubten und sich daher im Zustand der Wehrlosigkeit vergewaltigt fühlen müßten. Wie soll dieser ungeheuerliche Vorgang jemals vergessen werden? Elsaß-Lothringen ging aus der Herrschaft einer alten Kulturnation in jene einer anderen Großmacht über und dieser Uebergang wurde dennoch als unerträglich empfunden. Deutschböhmen gelangt als Teil einer großen und alten Nation in die Gewalt eines kleinen, weitaus jüngeren Volkes und eines kleinen Staates.

31/2 Millionen Deutsche sollen unter die Souveränität  von 61/2 Millionen Tschechen

gestellt werden — niemals wird die hörige Nation diese Herrschaft ertragen, niemals die herrschende das ihr gestellte Problem überwältigen; beide sind zu einer unseligen Kampfgemeinschaft verurteilt, unseliger als das alte Österreich, wo wenigstens zwischen acht verschiedenen Nationen zumeist ein Zustand schwebenden Gleichgewichtes vorherrschte. Die Bilanz dieser Versuche ist, daß nach dem fürchterlichsten Blutbad, das

die Weltgeschichte kennt, der neue Stand der Dinge weitaus schlechter und für den Frieden bedrohlicher ist als vorher! Die schmerzlichste Enttäuschung der Sudetendeutschen ist aus folgenden Gründen so gewaltig. Beinahe in demselben Moment, wo sie in begeisterter Hingabe, an die von der Entente verkündeten siegreichen Ideale der Demokratie und der nationalen Selbstbestimmung daran gingen, sich selbst zu befreien und sich im freien Entschluß mit den Alpendeutschen zur Republik Deutschösterreich zu vereinigen,

haben sie ihre Freiheit wieder eingebüßt.

eingebüßt infolge militärischer Besetzung durch die Tschechen. Der Friedensentwurf heißt diesen Gewaltakt hinterher gut, aber die deutsche Bewohnerschaft dieser Gebiete wird es niemals fassen, niemals verstehen und niemals verwinden können, daß angesichts der Grundsätze der Entente ein Prager Parlament, in dem kein einziger Deutscher sitzt, über deutsches Land verfügt, die frei gewählte Vertretung aber dieser Länder selbst durch Polizeimaßnahmen mundtot gemacht wird. Sie wird es nie verstehen, daß ihr Land und Volk unbefragt von Freunden an Freunde vergeben wird. Weit weniger als der Frankfurter Friede für Elsaß würde jemals ein auf den vorliegenden Grundlagen ruhender Friedens­schluß für die Beteiligten dauerndes Recht bilden. Das ergibt sich zwingend aus den Umständen, unter denen der tschecho-slovakische Staat geworden ist.

Dasselbe Vorgehen, das die Sudetendeutschen vergewaltigt hat. ist es gewesen, das die Alpendeutschen in den Zustand solcher Hilflosigkeit und Lebensunfähigkeit versetzt hat. Denn jene deutschen Gebiete sind der Sitz unserer wichtigsten Industrien und der Ursprung unserer wichtigsten Naturprodukte gewesen. Dasselbe Vorgehen hat

die Hunger- und Kälteblockade Wiens

hervorgerufen, die erst durch die einsichtsvolle Intervention der Großmächte halbwegs gemildert werden konnte. Abgesehen davon, daß die Blockade, wo jedermann eine Versöhnung der Völker erwarten konnte, die Kluft des Hasses noch vergrößert hat, hat sie Deutschösterreich ad ocuIos demonstriert, daß es allein nicht leben und in der früheren Völkergemeinschaft kein Gedeihen mehr erwarten könne.

Die gesamte Friedensdelegation ist mit den Verfassern der Denkschrift durchaus eines Sinnes, wenn sie die Wiederbefreiung der deutschen Gebiete in den Sudetenländern fordert und verlangt, daß

je ein konstituierender Landtag für Deutschböhmen und für das Sudetenland

nach Abzug der tschecho-slovakischen Truppen frei gewählt werde und über das Schicksal dieser Länder souverän entscheide. Nur im Besitz dieser seiner ihm rechtmäßig gehörenden Gebiete kann Deutschösterreich hoffen, sich politisch und wirtschaftlich selbst zu behaupten und den dauernden Frieden mit den Nachbarvölkern aufrecht zu erhalten. Und darum erwartet die deutschösterreichische Delegation, der Friedenskongreß werde die deutschböhmische Frage, die für Deutschösterreich die Schicksalsfrage ist, wieder zur Verhandlung stellen. Was das früher

österreichische Kohlenbecken von Mährisch-Ostrau

betrifft, so stellt dieses der Friedenskonferenz ein besonderes Problem. In diesem Becken siedeln drei Nationen. Deutsche, Tschechen und Polen, in unentwirrbarer Mischung durcheinander. Dieses von Natur aus reich bedachte Gebiet liefert seine Schätze seit jeher den Deutschösterreichern im Süden, den Tschechen im Westen, den Polen im Osten und zum Teil auch den Deutschen im Norden, es stellt also einen Punkt der Erdoberfläche dar, auf den vier, wenn man von Oberschlesien absteht, drei Volksstämme sowohl kraft des wirtschaftlichen Bedürfnisses wie kraft der Besiedlung den gleichen Anspruch haben. Wenn irgendwo, so empfiehlt sich an diesem Punkt die selbständige Konstituierung und die Internationalisierung des Landes unter verhältnis­mäßiger Mitverwaltung der beteiligten Stämme und unter Oberaufsicht des Rates der Völker. Ein Projekt dieser Art ent­hält die inliegende Denkschrift. Die deutschösterreichische Friedensdelegation empfiehlt sie darum dem Friedenskongreß zur sorg­fältigen Prüfung. Von der Überzeugung ausgehend, daß die Friedenskonferenz die Aufgabe hat, auf dem Boden der ehemaligen Monarchie „alle genau umschriebenen nationalen Ansprüche zu befriedigen, ohne neue oder fortdauernd» alte Elemente der Zwietracht und der Gegensätze einzuführen, welche geeignet wären, den Frieden zu stören“, stellt die Denkschrift feierlich fest, daß der vorliegende Vertragsentwurf dem souveränen Willen der Sudetendeutschen absolut widerspricht und von ihnen als schwerstes Unrecht emp­funden wird, und beantragt, die staatliche Zugehörigkeit der deutschen Sudetengebiete durch eine Volksabstimmnng zu entscheiden.

Der Denkschrift sind Sonderbeilagen angeschlossen, von denen je eine Südtirol, Kärnten, Steiermark und Westungarn betrifft.

In: Arbeiter-Zeitung, 17.6.1919, S. 2-3.