Stefan Grossmann: Bertolt Brecht II. (1922)

Nach Arnolt kam Bertolt; Brecht nach Bronnen. Die beiden trafen in schöner Eintracht aus dem Süden ein, Bronnen mit ver­düstertem Knabengesicht, Brecht mit listig-lustigem Altbauernkopf. Bronnen einsilbig, tragisch betont, Brecht gesprächsfreudig, heiter maskiert, undurchsichtiger. Eines Tages wurde Bronnen in Berlin berühmt und rief: „Kennen Sie Bert Brecht?“ Inderen Tags wurde Brecht in München berühmt und rief: „Ich muß nach Berlin, Bron­nens neues Stück zu inszenieren.“ Schöne Eintracht, schon über sechs Monate dauernd, nicht gestört durch Erfolge des anderen, eine Freundschaft nicht für die Galerie, nicht bloß durch die Allite­ration der Namen hervorgerufen, sondern offenbar aus einem Kon­trast verwandter Naturen erwachsen. Talente treten selten isoliert auf, eher in Rudeln. Diese zwei Stärksten der jungen Generation sind schon ein Rudel.

                                                                                   III.

Bronnen und Brecht gemeinsam ist der Kleinbürgerboden, dem beide entsprossen. Der Korbwarenerzeuger Balicke könnte mit dem Amtsschreiber und Gemeinderatskandidaten aus dem „Vatermord“ verschwägert sein. Bronnens Sohn, der zu den Prüfungen geprügelt wird, ist ein Vetter von Brechts Anna, die vom Bräutigam mißbraucht wird. Kleinbürgerluft, durch die ein revolutionärer Luft­strom stößt. Aber Bronnen ist Monologist und tragisch gestimmt, Brecht ist Balladendichter und zum Cynismus entschlossen.

Diese dramatische Ballade heißt Trommeln in der Nacht. Ein schöner lyrischer Titel. Aber wenn die Komödie nicht im Deutschen Theater vor allzu feinen Leuten, sondern im Osten vor dem Volk gespielt würde, dann müßte sie einen herzhafteren und passenderen Titel kriegen: Anna mit den beiden Bräutigams oder Heimkehr aus Afrika oder das letzte Wort des Stücks: Jetzt sind es vier Jahre.

Ein einfach gezimmertes Werk. Erster Akt: Der gefangene Andreas Kragler platzt ins Elternhaus seiner ihm eben weggeschnappten Braut. Bester Volksstückstil. Vielleicht ein bißchen zu viel Hohn gegen die Alten. Im Deutschen Theater wurde diese Verhöhnung der Kleinbürger noch unterstrichen. Ich begreife den Brecht’schen Hohn, mit fünfundzwanzig Jahren ist man gegen die heimatliche Klasse unerbittlich, aber der Regisseur hat doch gegen die Familie Balicke so wenig einzuwenden wie gegen die Familie des Großhändlers Werte? Warum so Th-Th-Heinisch? Hier waren nicht „Szenen aus dem deutschen Familienleben“, sondern ein Volksstück vorzuführen.

Zweiter Akt: Ännchens Verlobung wird in der Piccadillybar ge-// feiert. Das Gespenst, der Kriegsgefangene, der erste Bräutigam taucht wieder auf. Er wird pöbelhaft behandelt. Zu pöbelhaft für mein Gefühl. Warum den Kleinbürger noch verleumden? Legte sich der edel gestimmte Journalist nicht dazwischen, der Wieder­erstandene würde sofort hinausgeschmissen. So steht er stammelnd da — sein Stammeln, seine Unfähigkeit, vier Jahre in Worte zu pressen, ist sprachlich-dichterisch überzeugend — er erfährt, daß seine Braut schwanger ist und läuft in die Novembernacht hinaus. Dort dröhnen Trommeln. Im Zeitungsviertel wird Revolution ge­macht.

Der dritte Akt heißt, literarisch gebildet: Walkürenritt. Eine Nacht lang wird an dem Bestand der Welt gerüttelt. Trommeln, Schüsse, roter Himmel. Die Braut mit Gefolge sucht ihren Andreas. Dramatischer Stillstand. Ein Akt, den man auslassen kann und soll. (Weil man kann.)

Vierter Alt: In der Destille. Revolutionsstimmung. Huren, ano­nyme Menschen, Schnapswirte, alles in Revolte. Andreas erscheint und führt das große Wort. (Sehr schön seine Soldatensprache. Im Kriege waren wir hart daran, uns vom Zeitungsdeutsch zu befreien. Die Schützengrabensprache war saftig, knapp, bildhaft, das Papier war verdrängt. Diese fest geschnitzte Volkssprache ersteht hier wieder.) Andreas, der die Braut verloren, trommelt zur Re­bellion.

Letzter Akt: Auf dem Weg zur Barrikade findet der Soldat seine Braut wieder. Er läßt die Revolution im Stich und zieht seinem frierenden Mädchen die wärmende Jacke an. „Jeder Mann ist der beste Mann in seiner Haut.“ Vergebens alle Zurufe, Vorwürfe, Auf­rufe. Er pfeift auf die Weltgeschichte, ihm winkt ein weites, weißes Brautbett.

III.

Hier steht ein Volksstückdichter vor uns. Einer, der nicht vor das Tiergartenparkett gehört, sondern vor schlichte Leute. Wenn die Volksbühne nicht ganz taub und verbabt, sondern lebendig wäre, dann hätten die Trommeln in der Nacht auf dem Bülowplatz ge­rührt werden müssen. Volkstümlich der schlichte Stoff, volkstüm­lich die feste Sprache (von Rohheiten leicht zu reinigen), volks­tümlich die Neigung zum Bänkel im Drama, volkstümlich die un­heroische Nüchternheit des Schlusses: Das Beste ist bei seinem Mädchen schlafen…. Dies ist das erste Drama, das aus der Zeit ist und doch nicht in Rhetorik fällt. Es hat schon Distanz zur Re­volution. (Um Brecht herum gewinnt vielleicht jedes Thema Distanz, die Probleme kommen ihm nicht zu nahe.) Ein Revolutions­drama? Nein. Ein etwas höhnisches Volksstück über die deutsche Revolutionshysterie.

In: Das Tagebuch, H. 52/1922, S. 1794-1795.

Hanns Margulies: „Auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege“ (1927)

Täglich erscheinen in den Zeitungen Inserate, in denen Menschen einander suchen. Da es die behördliche Sittlichkeit so will, suchen sie alle „ehrbar“, auch wenn ihnen gar nicht danach zumute ist. Aber es läßt sich ja durch dieses „ehrbar“ auch niemand abschrecken, wenn ihm der sonstige Inhalt des Inserats zusagt. Wer aber sind die Mädchen und Frauen, die jungen und älteren Damen, die „auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege“ Bekanntschaften suchen und Beziehungen an­knüpfen? Nach der Fülle der Rufenden zu schließen, muß die Zahl der Antwortenden nicht gering sein.

Ein Wiener Journalist, Dr. Leo Perry, ist nun auf den glänzenden Einfall gekommen, Lockinserate in verschiedenen Wiener Tages­zeitungen erscheinen zu lassen, um so einen Einblick in dieses Gebiet zu gewinnen. Seine Inserate waren geschickt und berechnet abgefaßt, so daß sie das ganz große Gebiet vom noch harmlosen Flirt über die ernsten Heiratsabsichten bis zur perversen Lustbefriedigung einfingen. Auf dreiundzwanzig Inserate liefen rund zweihundert Zu­schriften ein, die er wortgetreu, mit allen orthographischen und grammatikalischen Feh­lern – an denen es auch dann selten man­gelt, wenn der Briefschreiber behauptet, aka­demische Bildung zu besitzen – und nur mit Eliminierung ausgesprochen pornographischer Stellen in einem Buch vereinigt hat, das jetzt im „Verlag für Kulturforschung“ (Wien-Leipzig) erschienen ist.

Ein Jahrmarkt der Eitelkeiten, der Scham­losigkeit und der Berechnung! Auch wenn man auf vieles gefaßt ist, man wird immer noch überrascht von dein, was hier zusammengekommen ist. Wie jeder sich anpreist, sich in den schillerndsten Farben malt, wie jeder ein Ausnahmemensch sein will, sich bemüht, ori­ginell zu wirken! Wie ehrlich jeder zu sein vorgibt! Vorgibt, denn einige von ihnen ant­worten mit fast den gleichen Worten auf verschiedene, ja, sogar gegensätzliche Inserate.

Da ist zum Beispiel ein „Trovatore“:

Herr in den besten Jahren,

in dessen Erziehung manches ver­säumt wurde, sucht Anschluß an Welt­dame von stolzer Erscheinung.

Er bekam von einer Dame, die den Sinn des Inserats richtig begriff, diese Antwort:

„Wenn ich Ihre Annonce richtig aufgefaßt habe, brauchen Sie eine ernste, elegante first Class Dame, die Ihnen die fehlende Kinder­stube nach und nach, selbst durch strenge, radikale Unterweisung und Erziehung bei­bringt …— Ist es nicht so? An mir wer­den Sie, geehrter Herr, die qualificierte ent­sprechende Dame der besten Gesellschaft, sprachenkundig, musikalisch, vielseitig gebildet, imposante, elegante Figur, romanischer Typus, befähigt Ihnen die besten Manieren, feinste Lebensart beizubringen finden. – Ich ersuche Sie höfl. mir Postlagernd zu schreiben, wann und wo wir uns zwischen 5–7 abends treffen könnten, um Näheres zu besprechen und zu sehen, ob wir uns verstehen und konvenieren und ob Sie in der Lage sind, der­artige Stunden entsprechend zu honorieren, dieser Punkt ist sehr wichtig: eine Conditio sine qua non. – – –“

Das ist deutlich, nicht wahr?

Die gleiche, verständnisvolle Dame aber ist auch „Juno“, denn sie antwortet auch auf dieses Inserat:

Ernster Herr,
in den besten Jahren, sehr zurück-
gezogen lebend, finanziell erstklassig,
sucht die ehrbare Bekanntschaft einer
Dame von imposanter Figur. Bubi­kopf
und Modepuppe verbeten.

Ihm schrieb sie:

„Euer Hoch wohlgeboren! Ihre gesch. Annonce, die mir ein Zufall heute in die Hände spielt, erregt meine Auf­merksamkeit, weil wir anscheinend passen. Auch ich bin ernst, lebe sehr zurückgezogen seit langer Zeit, möchte aber jetzt, bevor es zuspät wird, einen passenden Anschluß finden. – Ich bin kath. geschieden, habe eine lebenslängliche Rente, mein Mann zahlt mir Alimente, ich bin vollkommen unabhängig, lebe im Hotel das ganze Jahr; spreche mehrere Sprachen, perfect französisch, spiele sehr gut Klavier, kenne fast ganz Europa, bin sehr belesen. Ich bin groß, ziemlich stark, habe eine regelmäßige, schöne Figur, brünett, schönes glänzendes Haar, romanischer Typus. Mein Mann ist hochgestellter Officier, ich stamme aus einer vornehmen Familie. Si Ie coeur vous en dit, schreiben Sie mir nicht anonym, wie Sie sich diese Bekanntschaft vorstellen und Näheres über Ihre Verhältnisse, vor Indiskretio­nen sind Sie sicher…“

Ehrbar, nicht wahr? Möchte man glauben, daß diese Dame Honorare für sadistische Be­handlung beansprucht?

Temperamentvolle Dame,
sehr elegant, entre deux ages, würde
sich gern an netten, jüngeren Herrn
attachieren. Guter Tänzer bevorzugt.
Gefl. Anträge unter „Rosenkavalier“.

Eine Antwort:

„Meine Hochverehrte Dame! In Ihrem Inserat suchen Sie einen Rosenkavalier als Freund. Ich möchte es gerne sein, ich weiß aber nicht, ob Sie mich dafür gelten lassen. Kavalier bin ich vom Scheitel bis zur Sohle, ein guter Tänzer bin ich auch. Sonst elegan­tes und angenehmes Äußeres. Jung bin ich auch noch, wenn nicht gerade sehr jung, 32 Jahre, sehe aber viel jünger aus. Dafür bin ich erfahren und rasenierter in der Liebe und äußerst temperamentvoll. Wenn ich in angenehmer Gesellschaft bin, kann ich sehr lustig sein. Es kann sein, daß ich noch mehr Vorzüge besitze, diese zu suchen überlasse ich gerne meiner Partnerin. Ich bin Reichs­deutscher, erst kurze Zeit in Wien…“

Aber dieser Reichsdeutsche hat noch eine andere Seite, die er unter dem Stichwort „Gesicherte Existenz“ bekanntgibt, denn er antwortet auch auf dieses Inserat:

Fräulein aus gutem Haus,
mit eigenem gutgehenden Geschäft,
27 Jahre alt, hübsche, sympathische
Erscheinung, mit dreijährigem herzi­gen
Mäderl, wünscht seriösen Herrn
zwecks Ehe kennenzulernen.

Ihr schreibt er:

„Sehr geehrtes gnädiges Fräulein!

Mich interessierte Ihr wertes Inserat, worin Sie einen Herrn zwecks Ehe suchen. Ich glaube, es wird Ihnen schwer fallen, den rich­tigen Herrn, der ja gleichzeitig auch ein richti­ger Vater sein muß, zu finden. Und da Sie ja bereits Enttäuschungen und Schicksalsschläge ertragen mußten, wollen Sie sich für weitere hüten. Auch ich habe ein besonderes Schicksal. Fast heimatlos irre ich nun schon cca. 14 Jahre in der Welt herum und suche irgendwo eine Heimat und konnte sie noch nirgend finden…

Als ich nun heute durch Zufall Ihr Inse­rat entdeckte, da ich sonst nie diesen Teil der Blätter beachte, kam mir gleich der Gedanke, das ist vielleicht etwas für dich. Sie werden darüber natürlichen lachen, aber wissen Sie, ich bin mit Menschen, die auf irgend einer Weise ein Schicksalsschlag erlitten haben, mit meinem Schicksal verbunden. Mein Prinzip ist auch nur, eine solche Frau zu heiraten. Da ich aber sehr kinderlieb bin, ja man sagt mir sogar ich sei ein Kindernarr, würde ich Ihr kleines Mädchen ans Händen tragen. Wie oft habe ich es schon bedauert, wenn Eltern mit ihren Kindern recht glücklich sind, daß ich es nicht sein kann…“

Also nicht nur „raseniert“ in der Liebe, son­dern auch bei dem Versuch, die „gesicherte“ Existenz zu erheiraten.

Sehr interessant ist, daß ein Japaner nur drei Zuschriften erhielt und ein Mulatte, ein Jazzbandspieler, bloß einen einzigen Brief bekam.

Den Rekord konnte aber nachstehendes In­serat erzielen:

Fratz,
aus sehr gutem Haus, der sich
grenzenlos langweilt, sucht anregende
Korrespondenz. Wer Lust hat, schreibt
mir unter „Naschkatzerl“.

Das Naschkatzerl hat es den jungen und alten Männern angetan. Jeder möchte mitnaschen. Von zarter Anzüglichkeit bis zur ein­deutigen Ferkelei ist in den vielen Zuschriften alles vertreten.

Sehr bezeichnend ist auch, daß auf Drei­eckverhältnis zielende Wünsche prompt erfüllt werden und daß sich auch genügend Ehepaare finden, die unter der Chiffre „Vierblättriger Klee“ antworten.

Das Buch von Dr. Leo Perry ist wirklich ein Beitrag zur Sittengeschichte von heute. Es ist amüsant, es ist aufschlußreich und es ist unsäglich traurig. Denn: Das ist der Mitmensch, der Nebenmensch. Unverhüllt, aber verlogen, egoistisch, heuchlerisch. Gerade in dieser Verlogenheit aber enthüllt er sich.

Dem Buch zu wünschen, daß es von vielen gelesen werde, ist überflüssig, denn die Neugierde, dem Nebenmenschen einmal ins unaufgeräumte, ungelüftete Schlafzimmer gucken zu können, ist bei allen groß.

In: Der Tag, 27.5.1927, S. 4.

N.N.: Der Verrat des deutschen Geistes. (1933)

Die Feigheit der deutschen Intellektuellen. – Drei Beispiele: Der Vortrag eines mutigen Revolutionärs, ein Kriegshetzerfilm, ein Haßgesang.

Hoffnungslos ist die Nacht der Barbarei, die über Deutschland liegt. Die blutige Reaktion hat den Geist er­schlagen, und wie einst im Kriege sind die meisten sogenannten Geistigen im bürgerlichen Lager mit wehenden Fahnen über­gegangen, um Sicherheit und Einkommen nicht zu gefährden. Der deutsche Geist ist verraten. Drei Beispiele bringt der Tag — da gab es gestern den mutigen Vortrag eines deutschen Schriftstellers gegen die bürgerlichen Intellektuellen, da gab es gestern die Aufführung eines nationalistischen Kriegshetzerfilmes, da brachte der Zufall ein „Deutsches Gedicht“.

Diese drei Ereignisse, sie zeigen das Deutschland von heute auf, sie zeigen den Geist, der verneint — an diesem neuen deutschen Wesen muß die Welt verwesen!

Leo Lania richtet die deutsche bürgerliche Intelligenz

„Die Verlotterung der Geistigen in Deutschland, die Verlumpung der Begriffe, sie vor allem sind — neben der furchtbaren Not und der Wirtschaftskrise schuld— an dem Ausbruch der Barbarei in Deutschland. So konnte Hitler viel schneller als Mussolini alles Sozialistische in seinem Programm sinken lassen und den brutalsten Terror wal­ten, alles Demokratische und Sozialistische niederknüppeln  lassen. Wie folgerichtig barbarisch und gewalttätig Hakenkreuzlertum in Deutschland vorgeht, gehe daraus hervor,

daß in Deutschland tausende Menschen in den Kerkern
sitzen, daß aber kein Mensch weiß, wo die Verhafteten
sind,
daß es niemand gelingt, zum Beispiel mit Ossietzky sprechen zu können.

Kein Mensch weiß, ob da nicht, wie bei Liebknecht und Rosa Luxemburg, ein Fluchtversuch konstruiert wor­den ist, bei dem das Opfer umgekommen ist.

Die Massen in Deutschland, die seit einem Jahrzehnt in politischer Hochspannung leben, sind politisch geschult. Hitler ist es nicht gelungen, die Proletarier von ihren Parteien abzusplittern. Aber es ist ihm gelungen, die Träger des Geistigen in Deutschland, die Publizisten, die Intellektuellen einzuschüchtern, so daß sich niemand gefunden hat, der auch nur ein Wort des Widerspruches gegen die Behandlung eines Mannes wie Thomas Mann erhoben hätte.

Ich konzendiere den Intellektuellen nicht das Recht auf Feigheit
aus Furcht vor dem Tantiemenentgang!
An den Pranger mit den bürgerlichen intellektuellen Schichten,
die die deutsche Demokratie verraten haben!“

So hat Leo Lania, der Schriftsteller und Publizist, gestern Abrechnung gehalten mit der deutschbürgerlichen Intelligenz. Aber noch strenger war das Gericht, das er über

die österreichische bürgerliche Presse  

abhielt. „Wenn in Deutschland Blätter der bürgerlichen Linken sich dazu hergeben, gegen die ganze Tradition der Intelligenz zu schreiben, wenn das Berliner Tageblatt“, das Kritik bis zum letzten Augenblick geübt hat, nun schweigen muß, so ist die Haltung der bürgerlichen Presse in Österreich das Unerhörteste, das sich denken läßt.

Den Rekord hält in dieser Hinsicht die Neue Freie Presse. Das ist nicht mehr politische Haltung, das ist Ueberläufertum, das ist nicht mehr gesunder Menschenver­stand — in welchem die Times dieser Presse zum Muster dienen kann – das ist der Verrat alles Geistigen. Oder soll man diese Herren als Nationalsozialisten ansprechen? Die Herren werden sich auch irren, wenn sie nicht bloß aus Angst, sondern auch mit der Hoffnung ins nationalsozialistische Lager abschwenken, vor dem Hakenkreuzlertum auf dem Bauch liegen, etwa leckere Geschäfte zu machen. Diese Spekulation wird mißglücken, sie werden kein Leumunds­zeugnis ihrer „Bravheit“ erhalten, sie werden nichtsdesto­weniger vom Nationalsozialismus „gekillt“ werden!

Was jetzt? Was haben die geistigen Menschen zu tun? Die Massen, soweit sie denken — und das sind in Deutschland dreizehn Millionen — sind gegen die hakenkreuzlerische Barbarei. Aber die Maste hat selbst keinen Mut. Sie braucht das beispielgebende Tun der Einzelnen, um mutig zu werden, sie braucht die mutigen geistigen Führer.

Hier erwächst den Intellektuellen ihre Sendung, sie gegen die pseudorevolutionäre und pseudosozialistische reaktionäre Gewalt des Hakenkreuzlertums zu führen, sonst versinkt Deutschland im Mittelalter. Darum: Sozialisten, Bürger, Republikaner! Werdet hart!“

                                                                       I.

Zwei Verhaftungen

Im Zusammenhang mit dem Störungsversuch, den Nationalsozialisten während des gestrigen Vortrages des Berliner Schriftstellers Leo Lania unternahmen, wur­den von der Polizei zwei Stänkerer verhaftet. Die Verhafteten wurden zur Polizei gebracht, wo mit ihnen ein ausführliches Protokoll ausgenommen wurde. Dann wurden sie wieder auf freien Fuß gesetzt.

                                                                       II.

Kriegshetzfilm „Morgenrot“

Diese Geschichte von den Kämpfen eines deutschen U-Bootes hat nichts mit einem Film zu tun, sie ist nationalistische Kriegspropaganda, die sich eben auch des Filmes bedient. Gestern wurde dieses Machwerk der Ufa zum ersten Male, im Beisein von Regierungsvertretern, in Wien aufgeführt. Der ehemalige Unterseebootoffizier von Spiegel fand es notwendig, als Ver­fasser dieser Bildreihe, eine Rede zu halten. Der Mann ist schon einmal in Wien, in der Urania aufgetreten, wo er die Zuhörer mit dem Faschistengruß empfing. Gestern sprach er von deutscher Aufrüstung, Deutschland müsse wieder seinen Platz an der U-Boot-Sonne haben und von ähnlichen Dingen. Dann folgte die Ufa-Wochenschau, die Aufnahmen aus dem verbrannten Reichskanzlerpalais brachte, Titel: „Kommunistische Brandstifter haben…“ Allerdings war dieser Teil der Wochenschau stumm, die Nazibegleitrede in einem Wiener Kino zu bringen, das hat man sich doch nicht getraut.

Und nun zum „Morgenrot“. Man hat schon eine ganze Reihe von Kriegsfilmen gesehen, aber so etwas war noch nicht da! Selbstverständlich ist der Feind ein elender Schuft, und nur die deutschen U-Boot-Helden, die be­kanntlich nie ein Handelsschiff torpediert haben, nur sie sind Kavaliere. In der Heimat aber schreien die — damals noch nicht marxistisch verseuchten — Leute unentwegt „Hurrah!“, Labedamen futtern die Soldaten, die egal singen: „Wir fahren gegen England…“ und überhaupt ist deut­sches Mannessterben im Kriege der schönste Tod. Der U-Boot-Kommandant aber hält ununterbrochen patrio­tische Reden: „Wir Deutschen verstehen zwar nicht zu leben, aber wir verstehen zu sterben…“, „…es tut den Deutschen gut, wenn nach langer Nacht ein scharfer Wind um ihre Ohren bläst…“ und so. Und die deutschen Matrosen, sie hören es gerne und sterben mit Begeisterung, für Vater­land und Kriegsverdiener, für Kaiser und Etappenschweine. Stolz weht die Fahne Schwarzweißrot und das Luther-Lied ertönt.

Den Film „Im Westen nichts Neues“ durfte man in Österreich nicht ausführen, weil die öffentliche Ruhe und Sicherheit, infolge der Nazikrawalle gefährdet war. Ob etwas ähnliches bei diesem Kriegshetzerfilm geschehen wird? Denn es ist sehr zu bezweifeln, daß man diese Provokation so ruhig hinnehmen, daß sich die Wiener Arbeiterschaft diese aus Deutschland ein­geschleppte gefährliche Kinopest widerstandslos gefallen lassen wird.

„Morgenrot“ — ein deutscher Film? Nein, Zelluloiddreck, made in germany.

Haßgesang gegen Polen

Wie einst im Mai des großen Stahlbades: Deutsche Konjunkturdichterlinge stehen auf und machen ihr patrio­tisches Geschäft. — In den oberschlesischen Naziblättern erscheint jetzt ein Gedicht Haßgesang gegen Polen. Die Polen haben dieses Brechmittel in ihren Blättern abgedruckt und selbstverständlich mit entsprechenden Kommentaren ver­sehen. Ein neuer Krieg wird vorbereitet, dank eines deut­schen Geistes, der den Himmel und die Erde und die Mensch­heit verneint, eines deutschen Geistes, der die Welt wieder in den Abgrund des Krieges stürzen will.

„Gott, hilf der deutschen Sache, der gerechten,
Laß deutsche Männer nicht von Polen knechten!
Gib uns die Kraft, der Polen Macht zu brechen,
Mit Blut und Feuer grausig uns zu rächen.
Schick Krankheit. Seuchen, laß ihr Land verpesten,
Laß giftige Früchte wachsen an den Aesten!
Die Teufelsbrut, die schmutzig dreckigen Polen,
Euch soll die Hölle, soll der Teufel holen!
Wird Schlesien polnisch, Gott, dann laß krepieren
Im Mutterleib die Kinder gleich den Tieren!
Dann lahme Gott der Polen Füße, Hände,
Laß sie verkrüppeln, ihre Augen blende!
„Ein deutsches Herz, das läßt sich nicht erweichen,
Nicht Friede: Haß sei zwischen beiden Reichen!
Und wenn ich einst zum Todeskampf mich rüste,
Ruf sterbend ich: Polen, Herr, zur Wüste!“

In: Der Abend, 4.3.1933, S. 3.

N.N.: Die Flucht des geistigen Deutschland nach Wien (1933)

Namen als Anklagen gegen das „Dritte Reich“

2 Uhr früh. In den grellen Lichtschein eines Kaffeehauses nächst dem Stephans­platz, in dem sich um diese Zeit die Nacht­schwärmer zu treffen pflegen, treten zwei Gestalten, zerlumpt, zerschunden, abgehetzt, mit irren, suchenden Augen. Bald erfährt man, wer sie sind: Flücht­linge aus Deutschland, deren Na­men in politisch informierten Kreisen be­kannt sind. Als der braune Terror in Berlin einsetzte, die S. A.-Banden in den Privatwohnungen politischer Gegner einbrachen, ergriffen die beiden im letzten Augenblick die Flucht. Ohne in die Wohnung zurückzu­kehren, förmlich von der Straße weg, setzten sie sich in den Zug und überschritten nach aller­lei Abenteuern die österreichische Grenze. Nun sind sie hier, mittellos, werden von Freunden unterstützt, näch­tigen bald da, bald dort.

„Um Gotteswillen, nur nicht unsere Namen in der Zeitung nennen, nur nicht schreiben, was wir über Berlin erzählt haben“.

Einmal, über kurz oder lang, so hoffen sie, muß sich doch die furchtbare Haßwelle, die augenblicklich über Deutschland geht, legen, über kurz oder lang muß es doch wieder möglich sein, nach Berlin zurückzukehren …

*

Diese Hoffnung haben sie alle, die in den letzten Tagen nach Wien flüchteten. Es sind viele unter ihnen, wie jener junge Journalist etwa, der heute nicht weiß, wo er in der Nacht schlafen, wovon er morgen essen wird, die zur „Konjunkturzeit“ nach Berlin fuhren, von denen es hieß, daß sie draußen Karriere gemacht hätten. Nun sind sie wieder da, in demselben Literatur-Café, von dem sie ge­startet waren, um es mit dem „Romanischen“ zu vertauschen, nun sind sie wieder da, elender denn je.

*

Jeden Tag sieht man neue — be­kannte — Gesichter auftauchen, jeden Tag werden neue Namen von Flüchtigen kolportiert. Viele sind noch da, die kurz nach dem Umsturz der Verhältnisse in Berlin nach Wien gekommen waren und erklärt hatten, sie führen in den nächsten Tagen nach Berlin zurück. Die Greuel­nachrichten, die aus Deutschland kommen, lassen jeden Versuch, dort persönlichen Heldenmut zu beweisen, als Irrsinn, als selbstmörderische Dummheit erscheinen. So trifft man

Anton Kuh

noch immer in irgend einem Schanklokal der Inneren Stadt bei einem Schnitt Pilsner sitzend an, so sieht man Leo Lania noch immer im Kaffeehaus er­scheinen. Auch Rudolf Olden, den langjährigen politischen Leitartikler des Berliner Tageblatt, begegnet man in diesen Tagen.

Theodor Tagger (Ferdinand Bruckner)

, der zur Premiere seiner „Marquise von O“ nach Wien gekommen war, ist gleichfalls noch hier, und

die Wien-Reise Max Reinhardts

sieht bedenklich einer Flucht ähnlich.

Leopold Schwarzschild ist auch schon da“

, wird einem bedeutungsvoll zugerufen, Schwarzschild, der Herausgeber und Chef­redakteur des Tagebuch. Er war von Berlin nach München gefahren, und als sich jetzt auch dort die Verhältnisse geändert haben, verlängerte er seine Reise bis nach Wien.

Und dort in der Kaffeehausloge sieht man schon seit einigen Tagen

Bert Brecht

, während der expressionistisch-nervöse Dich­ter Stefan Ehrenzweig die Nächte durch von Lokal zu Lokal wandert.

„Heute oder morgen soll Alfred Polgar hier eintreffen“, sagt einer.

*

Und in der Tschechoslowakei, so heißt es, soll es noch ganz anders zugehen als in Wien. In Karlsbad und in Marienbad soll man nicht einmal eine Sommerwohnung mehr zu mieten bekom­men. Im Prager Café Passage soll ein „Betrieb“ herrschen, wie man ihn seit Jahren nicht erlebt hat.

Wo sich

Egon Erwin Kisch

augenblicklich aushält, wird geheim ge­halten, aber Fritz Grünbaum, Felix Bressart, Siegfried Arno sind schon eingetroffen. Auch von

Theodor Wolff,

dem Chefredakteur des Berliner Tage­blatt, heißt es, daß er nach Prag ge­fahren sei.

Der Chef des S. Fischer- Ver­lages soll auf der Rückfahrt von seinem Erholungsurlaub in Paris „stecken ge­blieben“ sein, und der Operettenkomponist Paul Abraham dürfte auch bald Berlin verlassen, da man die Verfilmung einer seiner Operetten plötzlich abgebrochen hat.

Die Liste derjenigen, die vor dem Dritten Reich flüchten, ließe sich noch be­trächtlich erweitern. Und es erweitert sie jeder neue Tag — — —

In: Wiener Allgemeine Zeitung, 14.3.1933, S. 2.

Fritz Rosenfeld: Die Stadt wartet. Tanzdrama von Gertrud Kraus. (1933)

UA im Volksbildungshaus.

In den Märchen der Wirklichkeit von Maxim Gorkij steht die Skizze „Musik der Großstadt“, die Märchenvision einer Stadt, die „vom quälenden Wunsch beseelt ist, zur Sonne emporgehoben zu werden“. Die Stadt träumt, und „alle ihr vielgestaltigen Wünsche schreien nach Glück“. Ein Knabe schreitet auf die war­tende Stadt zu. Sie empfängt ihn als den Er­löser. Wird er sie erlösen? Das Märchen endet mit einem Fragezeichen: „Was erwartet ihn dort?“ Bei Maxim Gorkij will ein junger Musiker die brennende Sehnsucht dieser Stadt in Tönen ausdrücken. Marcel Rubin hat die Idee Gorkijs aufgegriffen und zu einem Tanzdrama gestaltet, das unter der Leitung von Gertrud Kraus Sonntag im Volksbildungshaus zum erstenmal aufgeführt wurde.

In der Tanzdichtung von Gertrud Kraus ersteht eine geträumte Stadt, eine Stadt, die nicht körperhaft ist, eine Vision aus Rhythmus und Gebärde. Die Menschen, die diese Stadt be­wohnen, die die Seele dieser Stadt bilden, sind voll Sehnsucht, voll Glücksverlangen, voll Frei­heitshunger; es ist eine Stadt gequälter, in die Tretmühle des Alltags gespannter Arbeitsmenschen, die ihren Erlöser erwartet. Der Knabe schreitet durch die Häuser, durch die Menschen der wartenden Stadt. Er vermag sie nicht zu erlösen; er vermag nur ihre Sehnsucht zu steigern, den Glanz ihres Glückstraums zu er­höhen. Der Schluß des Tanzdramas ist nicht Erfüllung, sondern wieder Erwartung: aus ihrer eigenen Kraft werden die Menschen der wartenden Stadt sich erlösen.

Marcel Rubins Musik strebt mit einfachen Mitteln wuchtige Wirkungen an. Gertrud Kraus hat das Tanzdrama mit einfachsten Mitteln wuchtig inszeniert. Sie schweißt ihre Tanzgruppe und einen Bewegungschor zu einem einzigen großen Tanzkörper zusammen, den sie mit ihrem gestalterischen Willen souverän beherrscht. Ein paar Gesten, ein paar Schritte, deren Rhythmus sich aus der Musik von selbst ergibt, drücken Trauer, Sehnsucht, Freude, Verzweif­lung, Erwartung der Menschen in dieser geträumten Stadt aus. Am reifsten durch­komponiert ist die Szene im Tanzlokal: der Rhythmus eleganter Tänzerpaare überträgt sich auf einen blinden Bettler, der Rhythmus eines Lebens, an dem der Bettler nicht teil hat, ergreift ihn, wie der Wellenschlag des Ozeans eine ferne Küste erreicht. Die hochgestreckten Hände der Menschen bilden die Um­risse gotischer Fenster; gotisch überhöht sind die Gebärden in diesem Tanzspiel, es gibt keine Schnörkel, keine Pirouetten; ein paar Be­wegungen deuten das mechanische Einerlei des Alltags, ein paar Gesten den Rhythmus eines Schwungrades an. Die Grundmotive der Tanz­dichtung sind nicht dramatisch, sondern lyrisch; auch das Märchen von Gorkij hat keine Hand­lung, es ist ein seelisches Zustandsgemälde. Als Gesamtleistung reißt die Tanzvision der wartenden Stadt menschlicher Sehnsucht trotz einiger Längen unwiderstehlich mit; sie ist die Frucht ernster und strenger künstlerischer Ar­beit, sie beweist nicht nur das große Können, sondern auch den hohen Ehrgeiz und die Energie der Regisseurin. Gertrud Kraus, die selbst den Knaben tanzte, ihre Schülerinnen, der Komponist und der Dirigent Kassowitz wurden vom Publikum bejubelt.

Vorher zeigte Gerti Tenger eine Tanz­suite nach der „Kleinen Dreigroschenoper­ Musik“ von Kurt Weill. Es war keine sehr glückliche Idee, nach dieser modernen Musik eine Pantomime alten Stils zu tanzen, die den falschen Eindruck erwecken könnte, daß die Dreigroschenoper ein Bordellstück ist. Immerhin waren die Kuppelmutter Gisa Geerts und die Dirne Maru Kosjeras lebensvoll-drastische Gestalten. Den Abschluß des Abends bildete die bereits bekannte Tanzgroteske Changez les têtes oder Haltet den Dieb von Gisa Geert. Das witzige, schmissige Tanzspiel, das den Geist der Rene-Clair-Filme auf die Bühne überträgt, gefiel wieder sehr gut und fand reichen Beifall.

In: Arbeiter-Zeitung, 10.3.1933, S. 10.

Leo Perry [ ]: Zauberberg Wien (1932)

Ein gewisser Thomas Mann, von dem die glänzend informierte „Dötz“ kürzlich gelegentlich eines scharfen Angriffes behaup­tete, er wäre ein Namensvetter von Heinrich Mann, den jedoch die übrige Mitwelt als den Dichter der Buddenbrooks, des Zauberbergs und der herrlichen Novelle Der Tod in Venedig verehrt, weilte dieser Tage in Wien.

Wie es bei Besuchern von Rang und Namen üblich ist, wurde auch Thomas Mann von der Wiener Fremdenverkehrs-Kommission ersucht, sich über die in Wien erhaltenen Eindrücke zu äußern und gewisser­maßen ein Attest über Wien abzugeben. Thomas Mann erfüllte diesen Wunsch, aber er erfüllte ihn in einer Form, die ihm bei den Parteigängern des Dritten Reiches kaum nützen wird. Er war unvorsichtig genug, Wien nicht als die Stadt der Lieder zu preisen und allerlei Flachheiten über die Stadt Schuberts, Mozarts und Beethovens zu äußern, sondern das Hauptgewicht auf die sozialen Institutionen des neuen Wien zu legen. Er hat freilich eine Entschuldigung dafür. Er ist der Dichter des Zauberbergs, jenes Romans, der Davos schildert, und so war es naheliegend, daß er Parallelen zwi­schen Davos und Wien zog.

Thomas Mann hatte Gelegenheit, die von der Gemeinde Wien geschaffenen Nachkriegseinrichtungen auf sozialem Gebiet ken­nen zu lernen, und so sagt er wörtlich:

„Namentlich das Tuberkulosenheim mit sei­nen nach den neuesten Errungenschaften der Wissenschaft geschaffenen Einrichtungen er­weckte meine Begeisterung, da ich Davos kenne, wo ich meine Studien für den Zauberberg machte und das mir vielfach zu Vergleichen Anlaß gab“. Was Thomas Mann weiter sagt, ist für Wien außer­ordentlich schmeichelhaft und bedeutet ein derartig ernstes und von rein menschlichen Gesichtspunkten diktiertes Lob, daß ihm ge­genüber ein für allemal das leichtfertig zu demagogischen Zwecken geprägte Wort von der „Fürsorge-Inflation“ verstummen muß. Thomas Mann erklärt nämlich: „Es ist er­staunlich und im höchsten Maße bewundernswert, was hier vom hygienischen, ästhetischen und sozialen Standpunkt an Vorbildlichem geschaffen wurde und von keiner Stadt der Welt übertroffen wird. Was dem sozialfühlenden Menschen so viel Befriedigung verschafft, ist die Tatsache, daß für Menschen der armen Volksklasse an mustergültigen Einrichtungen bereitgestellt wird, was sich in gleicher Weise in Davos und anderwärts nur die reichen Bevölkerungskreise verschaffen können. Es ist so­ziale Gerechtigkeit, wie man sie hier am vollendetsten und vorbildlich finden kann.“

Keinen schöneren, keinen edleren, keinen reineren Gruß an Wien hätte der Dichter hinterlassen können als diesen. Er bestätigt uns, daß in Wien die vornehmste Menschenpflicht, jene der sozialen Gerechtigkeit, in mustergültiger Weise erfüllt wird, indem nicht der Besitz von Geldmitteln das Anrecht auf Heilung und Gesundung verleiht, son­dern dieses Anrecht aus Gründen brüder­licher Menschenliebe sozial und gerecht jedermann zugemessen wird.

Wien dankt dem Dichter für seine hohe Gesinnung und es dankt ihm für den durch sie bewiesenen Mut. Denn leider gehört be­reits allerpersönlichster Mut dazu, sich als Mensch und als Menschenbruder zu beken­nen. Thomas Mann, ein Halsstarriger sei­ner Überzeugung und deshalb von der Un­geistigkeit der fascistischen Reaktion gehaßt und häufig angespuckt, hat es reichlich erfahren müssen.

In: Wiener Allgemeine Zeitung, 27.10.1932, S. 3.

Alpheus [= Carl Colbert]: Die „Maschinenstürmer“. (1923)

Wir müssen kämpfen, weil wir Menschen sind. Schweigen wir, so sind wir Tiere, die sich stumm ins Joch beugen.

In späteren Zeiten, wenn Geschichte nicht länger im Dienste der Mächtigen, sondern ehrlich geschrieben werden wird – sie kommen, diese Zeiten! –  wird sie berichten, daß die Deutschen einen ihrer ganz großen Dichter, unter den jungen sicherlich den größten, in einem bayrischen Ge­fängnis sitzen ließen. Dort, so wird es heißen, schrieb er das Werk, das neben Gerhart Hauptmanns Die Weber die weithin klingende Sturmglocke künftiger besserer Zeiten, Kampfruf und zugleich Kunstwerk war; und nachdem er es sich von der Seele und seinen Volksgenossen auf die Seele geschrieben hatte, nahm man ihm Papier und Feder weg und zwang den Dichter, die Kerkerjahre mit stummer Seele zu tragen. Man wird diesen Bericht nicht verstehen. Einst hieß es das Volk der Dichter und Denker. In Bayern schlugen sie den Denker Landauer körperlich tot und den Dichter Ernst Toller im Geiste. Als die Franzosen erkannt hatten, daß einem sehr unbedeutenden Offizier grauenhaftes Unrecht geschehen war, ergriff eine Bewegung ohnegleichen das ganze Volk; der größte Dichter der Zeit, Zola, opferte Beliebtheit, Behagen, Ruhm und was sonst das Leben erfreulich macht, lebte als Flüchtling in London, versteckt vor dem Hasse der Finsterlinge, bis Dreyfus sein Recht geworden war. Die führenden deutschen Geister gaben sich die Mühe, ihre Namen unter einen papierenen Widerspruch zu schreiben. Toller blieb auf der bayrischen Teufelsinsel.

Als das Stück, das im Gefängnis Niederschönenfeld gedichtet, in Berlin ausgeführt wurde, sollen Grauhaarige geweint und die Tränen mit den zornig geballten Fäusten aus den Augen gewischt haben. Bei uns wird das nicht ge­schehen. Unsere Theaterleiter sind vorsichtig. Sie spielen oft Bewährtes, in Ernst und Scherz neue Abhandlungen von Ihm, Ihr und dem muskelstarken Dritten. Auf Ver­suche mit Genies lassen sie sich nicht ein. Der junge Mensch, der Die Räuber einreichte, hätte jetzt wenig Glück damit. Aufregung haben die Stammgäste auf der Börse genug, im Theater wollen sie anders aufgeregt werden. Wir werden Tollers großes sozialistisches Stück lesen müssen; spielen wird man es uns kaum. Nicht als ob sie an dem Erfolge zweifelten. Dazu sind sie zu sehr, was der Kunstbetrieb mit einem ganz widerlichen Work den gewiegten Fachmann nennt, mit allen Salben gewichst! Aber der Erfolg dieses Stückes, in dem rot­glühendes Morgenrot lodert, dürfte den Veranstaltern der Nachtspiele bedenklich scheinen. Sie werden die Kund­schaft nicht vor den Kopf, oder richtiger: vor den Bauch stoßen wollen.

Es beweist die ungeheure Lebenskraft der Weber, daß sie, durch die Rückschrittsgendarmen Preußens und Deutschlands von der Bühne verjagt, gelesen so ungeheuer lebensstark wirkten. So leben auch Tollers Maschinen­stürmer. Ich hasse es, Kunstwerke gegeneinander abzu­wiegen. Wo wäre die Wage? Kein Werturteil will ich ab­ geben, wenn ich darauf hinweise, daß Tollers Werk zwei Tragödien von erschütternder Größe enthält: der armen, ausgebeuteten, hoffnungslos gegen das Schicksal kämpfenden Arbeiter, ihrer Weiber, die sich dem Aufseher verkaufen müssen, um den Kindern Brot kaufen zu können, und die doch nicht verhüten, da diese Kinder von der Maschine zu Lohndrückern ihrer Väter gemacht werden. Der Kampf gegen die Anfänge der Spinnmaschine in Nottingham, der sinnlose und so begreifliche, ist die eine Tragöde. Die

andere, die ergreifendere, ist die des Dichters selbst, der, im Gefängnis verlassen – auch vergessen, riefe er sich nicht so gewaltig in Erinnerung – an denen zweifeln muß, für die er sich opferte. Es gibt wenig so ergreifend Gütiges,wie die Sätze, womit der Dichter auf die zornglühenden Worte des Streikführers:

„Wir müssen die Streikbrecher in der Fabrik über­fallen und die davonkommen wie Hasen heimwärts jagen!“ seinen Jimmy Cobbet, sich selbst, sagen läßt:

„Warum die Leute überfallen, da Überzeugen uns zum Ziele führt? Es sind Arbeiter, unwissende, irrege­führte Arbeiter.“

Und derselbe Liebende muß sein gemartertes Herz verzweifelnd verzichtend aufschreien lassen:

„Sie werden jedes Gauklers Beute, der ihren gierigen Wünschen Wortpracht leiht! Sie werden Landsknechte, Söldner, Freiwild jedes Generals, der ihnen Beute ver­heißt.“

Ich sehe ihn, den Dichter, der durch die Hölle der Menschenkenntnis wandeln mußte, wie er nach diesen Sätzen das Haupt auf die roh gehobelte Platte des Kerker­tisches legt und Tränen weint, wie sie der geweint haben mag, dem das Volk den Raubmörder Barrabas vorzog…

Unübertroffen ist die gestaltende Kraft der Dichtung, von dem Vorspiel angefangen, das in Meisterzügen die Verhandlung im Oberhause widergibt, den fruchtlosen Kampf Lord Byrons gegen ein Gesetz, das die Verzweif­lung der brotlosen Handweber gegen die Maschine durch Todesurteile beruhigen will. Es ist fast wörtlich die wirklich im Jahrs 1812 gehaltene Rede, wie sie in der Geschichte des englischen Sozialismus von Beer abgedruckt ist. Nur ein Paar leise verändernde Striche und sie wurde zu wunder­vollen, alles Alltäglichen entkleideten Ewigkeitswerten. Was dann folgt ist wie ein Abschnitt aus Engels Geschichte der arbeitenden Klasse in England, zum prächtigen Denk­mal, aus dem Marmor der vollendetsten Sprache gemeißelt.

Wir in Wien können nichts tun, um Toller zu befreien. Wir wissen nicht einmal, ob seine Henker den be­scheidenen Ausdruck unserer bewundernden Dankbarkeit zu ihm gelangen lassen. Wir können nur eines: sein Werk lesen, um uns an dem, was er schreibt und leidet, für den kommenden Entscheidungskampf zu stählen, damit das Wort Tat werde, das er den Arbeiter Lud an der Leiche des erschlagenen Jimmy Cobbet erkennend sagen laßt:

Wir wissen, was wir taten!
Und wollen sühnen, daß wir den erschlagen.
Andere werden kommen…
Wissender, gläubiger, mutiger als wir!
Und werden kämpfen gegen den wahren Feind!
Und werden ihn bezwingen!
Es wankt schon euer Reich, ihr Herrn der Welt!

In: Der Abend, 8.3.1923, S. 3.

Richard Schmitz: Der Katholikentag und die soziale Frage (1925)

Der dritte Katholikentag des Wiener Erzbistums ist unter das Zeichen der sozialen Frage gestellt. Kaum eine andere Tagung ist würdiger und geeigneter, die Probleme der Gesellschaftsreform zu erörtern; denn wer sollte und könnte mit mehr Recht als eine Tagung gläubiger Katholiken die moderne Gesellschaft an ihre Pflichten gegenüber dem „kleinen Mann“, dem „Proletarier“, oder wie immer das politische Schlagwort die Opfer der sozialen Not bezeichnen mag, erinnern? Aus den Katho­likentagen des alten Deutschland und des neuen Deutschen Reiches, ebenso wie auf den Katholikentagen Österreichs hat die Behandlung sozialer Fragen stets einen großen Raum eingenommen und höchste Aufmerksamkeit gefunden. Das geschah schon in einer Zeit, in der das soziale Gewissen der Mehrheit der deutschen Nation schlummerte, da der Geist des manchesterlichen Liberalismus weithin, wenn auch nicht immer die Worte, so doch die Taten der in Wirtschaft und Politik führenden Kreise bestimmte. Ohne das Verdienst anderer, so vor allem der Geehrten im Vereine für Sozialpolitik zu schmälern, kann mit stolzer Genugtuung festgestellt werden, daß es Katholiken waren, die der Sozialreform im deutschen Volke ohne Unterschied der Staatszugehörigkeit Bahn gebrochen, Wege gezeigt und Ziele gesteckt haben. Nicht als Widerschein klassenkämpferischer Denkweise, sondern aus den Impulsen, die die katholische Religion ihren wahrhaft gläubigen Kindern schenkt, kam die soziale Frage auf die Tagesordnung der großen deutschen Katholikentage und seit den siebziger Jahren ist es so geblieben. Man gedenke der ehrwürdigen Gestalt des edlen Fürsten Löwenstein, der im Habit des Dominikaners starb, um eine Fülle von Erinnerungen wach werden zu lassen. Gerade Fürst Löwenstein war das Bindeglied zwischen den Katholikentagen und der sie tragenden mächtigen Volksbewegung der deutschen Katholiken einerseits und den „Freien Vereinigungen“ anderseits, in denen Seelsorger und Politiker, Gelehrte und Männer der sozialen Praxis sich immer wieder zusammenfanden, mir vom katholischen Standpunkte aus die sozialen Probleme ihrer Zeit zu durchdenken und Lösungen zu erwägen. An dieser sozialen Arbeit der Katholikentage wie der „Freien Vereinigungen“ hat Österreich seinen vollen Anteil. Ja man darf sagen, daß gerade auf dem österreichischen Boden Reformideen heranreiften und Persön­lichkeiten wirkten, die andere Länder befruchteten und so mitwirkten, die Umwelt zu schaffen für das gewaltige Rundschreiben Leos XIII. über die Arbeiterfrage. Vor allem muß hier des II. Allgemeinen österreichischen Katholikentages gedacht werden, der ein umfangreiches Programm sozialer Reformaufgaben für alle bedrängten Stände zum Beschlusse erhob und damit der Welt Zeugnis gab von der Tiefe der sozialen Erkenntnis und der Kraft des sozialen Wollens der österreichischen Katholiken der achtziger Jahre, denen ja das Hauptverdienst an der unschätzbaren sozialpolitischen Gesetzgebung jener schweren Zeit gebührt.

Warum aber wählt man jetzt neuerdings das soziale Leitmotiv für den Wiener Katholikentag?

Auf dem letzten Kongreß unserer christlichen Gewerk­schaften verwies ich darauf, daß wir jetzt noch eine sozialpolitische Reaktionsperiode durch­zumachen haben. Der soziale Reformeifer wirkt sich erfahrungsgemäß ähnlich einer bizarren Kurve aus, die bald jäh ansteigt, bald ebenso jäh herabsinkt. Gesteigerte Reformtätigkeit ist sodann zumeist in Zeiten drückender Not zu beobachten. Beide Umstände wirkten in jener schrecklichen Zeit nach dem verlorenen Kriege zusammen, um einen Rekord sozialer Gesetzgebung in verhältnismäßig sehr kurzer Zeit zustande zu bringen, von dem ein einwandfreier Zeuge, der frühere Leiter der sozialpolitischen Sektion im Ministerium für soziale Verwaltung, Sektionschef Dr. Lederer, kürzlich schrieb, daß er treibhausähnlich gewesen sei. Jedem Siege folgt die Ermattung, jeder wichtigen Gesetzgebung der Gegenstoß der Kritik. Hier hatte sie es manchesmal leicht: die „treibhausähnliche“ Hast revolutionärer Gesetzgebung hatte ja nicht immer eine sorgfältige und objektive Formulierung der einzelnen Bestimmungen zugelassen. Dazu kam der große Katzenjammer nach dem Inflationsrausch. Alles das verschärfte mitunter die antisoziale Stimmung einflußreicher Kreise, denen zumeist auch die öffentliche Meinung unseres Landes gehorcht, so sehr, daß man Grund haben konnte, um die Bewahrung wahrhaft wertvoller sozialer Errungenschaften der Nachkriegszeit zu bangen. Gleichwohl ist auch diese gefahrdrohende Reaktionsperiode bisher ohne wesentliche Verluste in Österreich vorübergegangen, während im Deutschen Reich breite Durchbrüche erfolgten.

*

Unsere reichgegliederte soziale Gesetzgebung ist im wesentlichen unangetastet. Kann man aber deshalb sagen, daß die soziale Not aufgehört habe oder daß der soziale Friede besser gesichert sei als in früheren Zeiten? Nein! Gärende Unzufriedenheit fiebert in Herz und Hirn weiter Schichten unseres Volkes. Die Massen erleben, daß Rückschläge in der Weltwirtschaft oder in der heimischen Wirtschaft immer wieder an den Besitzlosen mit voller Wucht sich auswirken, während die Opfer der Besitzenden in solchen Zeiten immerhin noch erträglich genannt werden müssen, ver­gleicht man sie etwa mit proletarischen Schicksalen oder mit der Vernichtung des alten Rentnerstandes. Diese Ungleichheit im Unglück hat etwas revolutionierendes. Sozialistisch-bolschewikische Agitation sorgt dafür, daß die Leidenschaft sich nicht beruhigt und so sehen wir in allen Staaten Europas deutliche Symptome eines sozialrevolutionären Prozesses, dessen Umfang schwer abzuschätzen ist, dessen Tatsächlichkeit jedoch nicht geleugnet werden kann. Den stärksten Antrieb bekommt es aus der ungeheuren Massennot gerade unserer Tage. Diese wirtschaftliche Not und das Umsichgreifen sozialrevolutionärer Stimmungen und Agitationen wird immerhin wiederum planmäßig in antireligiösem Sinne ausgewertet, indem man die jetzige Gesellschaftsordnung mit allen ihren Fehlern einfachhin als eine christliche bezeichnet, die Irrtümer einzelner als Versagen des Katholizismus hinstellt und so breite Massen des Volkes Kirche und Religion immer mehr entfremdet, gegen sie stellt und schließlich von ihnen loslöst. Die innere Loslösung vom Christentum bedeutet aber zugleich die Beseitigung der stärksten Hemmungen, die den sozialrevolutionären Tendenzen entgegenwirken.

Dürfte überhaupt ein Katholikentag, der in solcher Zeit zusammentritt, an der sozialen Not, ihren Problemen und ihrem Verhältnis zu Religion und Kirche achtlos vorübergehen? Ein solcher Katholikentag würde kein Ver­ständnis in den Volksmassen finden. Ein solcher Katholikentag hätte auch nicht dem derzeitigen Stande des Geisteslebens im österreichischen Katholizismus ent­sprochen. Stärker als in der Zeit unmittelbar vor dem Kriege ringen seit dem schreck­lichen Weltbrande in der katholischen Be­wegung sozialreformerische Prinzipien miteinander. Mag auch vieles wieder versunken sein, die große Welle religiösen Erneuerungswillens, die man am Anfang des Krieges erwartungsvoll erlebte, scheint noch heute in einem Teil der jungen katholischen Intelligenz nachzuwirken. Rege Geister suchen, aus den Werten der Vergangenheit und den Erkenntnissen der Moderne alte und doch wieder neue Systeme zu bauen. Mögen unsere Gegner diese Bestrebungen mit dem Schlagworte romantischer Utopien abtun, im katholischen Lager hat man Grund, mit dem verheißungsvollen geistigen Schaffen, mit dem reinen und edlen Wollen der jungen akademischen Generation in liebevoller Aufmerksamkeit sich auseinanderzusetzen. In einem hat dieser Kreis unbestreitbar recht: in seiner bitteren Anklage gegen die Gleichgültigkeit und Oberflächlichkeit, mit der weithin die katholische Be­völkerung den prinzipiellen Fragen der jetzigen Wirt-// schaftsweise, ihrer sozialen Folgeerscheinungen und der Haltung der Katholiken dazu entgegenbringt, indes viele tausende Proletarier nicht nur dem Vertrauen auf die auf die Möglichkeit einer Reform der Gesellschaft, sondern — infolge des Zusammenwirkens der sozialistischen Arbeiterbewegung mit dem Freidenkertum — dem Glauben an Gott und seine Gebote verloren gehen.

Aus solchen Gedankengängen heraus hat der Diözesanverband beschlossen, dem dritten Wiener Katholikentage die soziale Not der Gegenwart und die Pflichten der Katholiken ihr gegenüber zum Leitmotive zu geben. Möge auch diesem Katholikentage der Erfolg beschieden sein, der so manchen seiner Vorgänger krönte! Möge von diesem Wiener Katholikentage der Marchfeldbauer und der Industriearbeiter im Steinfeld, der Bürger der Großstadt und der Knecht im Bergdorfe an der Südgrenze unseres Bistums, mögen sie alle mit­einander heimkehren mit der ernsten Erkenntnis und dem festen Willen zur bewußten und opferfrohen Mitarbeit an der Besserung unerträglich gewordener Zustände, an der Durchführung der großen Ideen der christlichen Sozialreform!

In: Reichspost, 28.6.1925, S. 2-3.

Maximilian Schreier: Uns allen gehört die Republik und deshalb…! (1927)

Die Republik begeht heute ihren neunten Geburtstag. Nicht mit großen Festen, Glocken­geläute, Chorälen, wie dies bei so feierlichen Anlässen sonst üblich ist. Der Feiertag ist vom Staat diktiert, aber die heilige Friedens- und Feststimmung ist noch nicht in die Herzen aller gedrungen. Die Republik ist da, der Ge­danke der republikanischen Staatsform be­ginnt sich wohl zu vertiefen, aber noch sind die Reihen der wahrhaften Republikaner nicht fest geschlossen. Der große Aufmarsch der Arbeiter am Staatsfeiertag hat auch nicht den Charakter eines jubilierenden Festzuges, son­dern tritt als eine gewaltige Demonstration der Arbeiterschaft in Erscheinung, eine De­monstration, durch die sie teils ihre Zugehörigkeit als Republikaner zu diesem Staat mani­festieren wollen, teils, um der Welt den Beweis zu erbringen, daß eben die organisierte Arbeiterschaft in ernster und würdiger Weise auch auf der Straße ihre politische Meinung zu dokumentieren vermag.

Es gibt verschiedene Ansichten darüber, ob es klug war, die hunderttausende Menschen zu einer großen Demonstration zu bewegen, denn seit dem ominösen fürchterlichen Sommertag besteht wohl allgemein der Wunsch, die Aus­tragung politischer Gegensätze an anderen Orten und in anderen Formen durchzuführen, als durch Bewegungen auf der Straße.

Aber die Kundgebung, zu der für heute auf­gerufen wird, soll nicht durch die Signatur des Kampfes, sondern durch die Größe des Friedenswillens ihre imponierende Bedeutung gewinnen. Noch sind wir weit entfernt von Demonstrationen unter der Parole „Nie wieder innerpolitischer Krieg“, aber die Kund­gebung, zu der sich heute Hunderttausende von Menschen vereinigen werden, trägt in sich den Gedanken nach Verständigung, politischen Waffenstillstand, kurz nach all dem, was heute die Sehnsucht der gesamten Bevölkerung ist, — nach innerem Frieden!

Daß diese Idee, die seit dem sozialdemokra­tischen Parteitag die Öffentlichkeit beherrscht, am Festtag der Republik gerade von den echten, hundertprozentigen Republikanern als weithin sichtbares Manifest auf die Straße ge­tragen wird, gibt dem Tag, der sonst mit den offiziellen Veranstaltungen nicht über die Eigenart eines Geburtstagsrummels hinaus­gehen würde, eine höhere Weihe im Sinne einer wirklich politischen Tat. Die Republik gehört uns allen, Hoch und Nieder, wie das allgemeine Wort heißt, den Bürgern, den Arbeitern, den Bauern. Alle die, die sich zur Republik bekennen, haben darum ein Anrecht, am republikanischen Schaffen des Staates aktiv teilzunehmen. Das eigensinnige Festhalten an der Auffassung, daß nur Parteien, die über die Majorität verfügen, ein Anrecht haben, den Staat zu verwalten, hat in den letzten Jahren viel Unheil angerichtet und statt einer Aufwärtsbewegung unseres Staatswesens eher ein Niedergleiten im An­sehen zur Folge gehabt, worüber sich aller­dings diejenigen, die durch dieses System einen Gewinn für die eigene Partei erhofften, leicht hinwegtrösten. Wohin das völlige Ignorieren des Vorhandenseins mächtiger Gruppen Andersgesinnter führt, haben jene traurigen Julitage gezeigt, bei deren Erinnerung wir noch alle schaudernd erzitternd uns immer wieder die Frage stellen, wieso dies denn bei uns möglich war. Gelehrten forschender Massenpsychologie bleibt es vorbehalten, ein­mal die Erklärung für diese fürchterliche Entgleisung zu finden. Uns aber genügt die traurige Tatsache, daß derartiges geschehen konnte, und wir müssen als ernste Menschen eben aus dieser Tatsache die einzig richtige Lehre ziehen: daß das, was einmal möglich war, sich nach dem Spruch des weisen Ben Akiba immer wiederholen könne: — wenn man nicht rechtzeitig mit dem besten Heilmittel die schwere Krankheit, von der der Gesamtorga­nismus befallen wurde, bekämpft. Ohne Vorwurf, nur zur Feststellung des Geschehens, muß konstatiert werden, daß das seit so vielen Jahren bei uns herrschende System nicht zum Frieden, sondern zum erbittertsten Kampf ge­führt hat, zu einem Kampf, der bei Fort­dauer der jahrelangen Methode der absoluten Parteiherrschaft die Gefahr eines Bürger­krieges in beängstigende Nähe rückt.

Die Staatsweisheit von ehedem, in der man die höchste Auswirkung demokratischer Auffassung in der Verherrlichung des Majoritäts- und Minoritätsprinzips sah, diese Doktrin hatte nur in einem Staatswesen Berechtigung, in dem neben der konstitutionel­len Gewalt noch die absolute Autorität des Herrschers sich auswirken konnte, diese Dok­trin hatte einen Schein von Berechtigung in einem Staate, wo die Staatsangehörigen nichts für den Staat übrig hatten. Diese Re­publik aber, die uns allen gehört, muß nach ganz anderen Grundsätzen verwaltet und re­giert werden, es darf nicht Staatsangehörige erster und zweiter Kategorie geben, die Mino­rität darf nicht den Eindruck gewinnen, daß sie unter der Diktatur einer augenblicklichen Majorität steht, denn dadurch müßte über kurz oder lang das eintreten, was das Erb­übel der Monarchie war, eine Abkehr vom Staate, eine ausgesprochene Staatsverdrossenheit. Das ist eben der gewaltige Unterschied zwischen Republik und Monarchie, daß in der Staatsform der Monarchie, trotz aller möglichen fortgeschrittenen Gesetze und Ver­ankerung konstitutioneller Rechte, der Bürger nicht das Gefühl besitzt, daß der Staat ihm und er zum Staate gehört, während, wenn die Erziehung der Massen zu Republikanern voll­zogen ist, jeder einzelne von ihnen die Re­publik als sein heiligstes, unantastbares Gut in sein Herz einschließt. Kommen aber Poli­tiker, die sich sogar Staatsmänner nennen, und weisen mit strenger Geste fast die Hälfte der Bevölkerung von den Stellen weg, wo die Arbeit am Staate geleistet wird, dann ent­steht in letzter Auswirkung das, was sicherlich nicht zu entschuldigen, aber durch ein verfehltes System erklärt werden kann — eben das, was wir an den blutigen Sommertagen miterlebt haben.

Die Republik gehört uns allen und des­ halb…! Es klingt wie eine bittere Ironie, daß gerade jene Hunderttausende von Men­schen, die heute allerorten demonstrativ den republikanischen Staatsfeiertag begehen wer­den, daß gerade diese Massen ausgeschaltet bleiben von der Mitverwaltung und vom Mitregieren der Republik. Verheißungsvolle Anzeichen für die Zukunft werden sichtbar. Schon beginnt es da und dort zu dämmern, schon er­ hält die Friedensaktion deutliche Formen, und wenn die Erkenntnis, daß alle die, die sich zur Republik bekennen, auch ein Anrecht haben, an der Entwicklung des Vaterlandes mitzuwirken, noch weiter um sich greift, so wird der neunte Geburtstag unseres Staates, den wir heute begehen, der letzte sein, an dem die Gegensätze sich so schroff äußern, der letzte sein, der die Masten der Angestellten und Arbeiter in der Aschenbrödelrolle sieht, ausgeschaltet von der aktiven Mitwirkung an der Republik; dann wird der nächste Geburtstag die Repu­blik nicht mehr unter dem Absolutismus einer Parteiherrschaft sehen, sondern er wird ge­feiert werden unter dem Zeichen, daß die Re­publik uns allen gehört!

In: Der Tag, 12.11.1927, S. 2.

Kurt Sonnenfeld: Ein Gruß an Friedrich Adler (1918)

                Die Revolution ist in vollem Gange. Ein fluchwürdiges, verrottetes System stürzt krachend zusammen und man kann nur inbrünstig hoffen, daß nicht auch Unschuldige unter seinen Trümmern begraben werden mögen. Eine beispiellose Gewaltherrschaft hochgeborener Nullen, die ihre politische und militärische Unfähigkeit durch Brutalität zu verdecken suchten, hat das mißhandelte und getretene Volk aufs äußerste verbittert, und es wäre zwar tieftraurig, aber kein Wunder, wenn jetzt, da der Zwang endlich gebrochen ist, über alle Erwägungen der Vernunft die blinde Rachsucht die Oberhand gewänne. Aber der Terror ist der ärgste Feind einer jeden Revolution. Wenn wir heute beten, daß diese Umwälzung unblutig verlaufen möge, so geschieht dies nicht aus unangebrachtem Mitleid mit den verbrecherischen Machthabern, die so viel unschuldiges Blut auf dem Gewissen haben und deren unermeßliche Schuld überhaupt nicht genügend gesühnt werden kann, sondern es geschieht aus Liebe zum Volke, das sich ja durch blinde Gewaltakte ins eigene Fleisch schneiden würde. Die Revolution braucht intellektuelle Führer, deren geistige Überlegenheit das Chaos gestaltend bewältigt, den Leidenschaften der Masse Ziele weist und dem Geiste zum Siege über die Gewalt verhilft. Radikalismus hat mit Verhetzung nichts zu tun. Niemand aber vermöchte bei all seinem unbeugsamen Radikalismus die leidenschaftlich erregten // so gut von sinnlosen Gewalttätigkeiten abzuhalten wie Friedrich Adler.

            Er hat in diesen Tagen, in denen die früheren Autoritäten mit wohlverdienten Fußtritten davongejagt werden, die größte Autorität über das Volk – obwohl er nicht unter ihm weilt. Wo sein Name genannt wird, rauscht die Begeisterung auf und sein Bild erstrahlt in Märtyrerglorie. Sein Name ist heute ein Symbol, eine Fahne, eine Marseillaise.

            Die Gunst der Straße bedeutet nicht viel. Sie wird auch Schwindlern und Nullen, Demagogen und Komödianten zuteil. Aber Fritz Adler verdient die Liebe und Verehrung, die mit gefalteten Händen nach ihm ruft.

            Ist es nicht ein Widerspruch, daß gerade er, der Stürgkh getötet hat, die Menge von Ausschreitungen und Blutvergießen zurückzuhalten vermöchte? Es ist kein Widerspruch, denn Friedrich Adler, der sich zu einem mit Tolstoi und dem Urchristentum verwandten Sozialismus bekennt, lehnt die Gewalt als politisches Kampfmittel ab. Daß er trotzdem Stürgkh niederschoß, geschah gleichsam in der Notwehr, Denn Stürgkh war ein gemeingefährlicher Volksfeind, der in parlamentsloser Willkürherrschaft alle staatsbürgerlichen Rechte mit Füßen trat und den Massenhinrichtungen einer feilen und streberischen Militärjustiz mit verschränkten Armen zusah. Gewiß wäre es besser gewesen, wenn Stürgkh nicht erschossen worden wäre, sondern seinen Verfassungsbruch vor dem Staatsgerichtshof zu verantworten gehabt hätte. Aber wo war damals der Staatsgerichtshof!

            Als ich die Aufbahrung der Leiche Stürgkhs sah und mich das Mitleidmit dem Toten übermannen wollte, dessen Kopfwunde von geronnenem Blut verklebt war, da brauchte ich  nur an die verwesenden Leichen in den Drahtverhauen und an die unschuldig Gehenkten denken, – und alles Mitleid war dahin. Trotzdem gäbe Friedrich Adler vielleicht sein Leben darum, wenn er seinem Grundsatz der Gewaltlosigkeit damals hätte treu bleiben können.

            Nach jenem Schusse, der den Grafen Stürgkh niederstreckte und dessen Widerhall weit hinaus über die Schützengräber dröhnte und wie ein Hilferuf aus dem Kerker klang, hätten die Alldeutschen und Klerikalen Friedrich Adler am liebsten gerädert, gehenkt und geköpft gesehen. // Als aber ein Lump von Leutnant einen Dragoner erstach und vor Gericht mit einer winzigen Strafe davonkam, die dem Mordbuben in seiner militärischen Laufbahn kam geschadet haben dürfte, da schwiegen sie fein still. Offiziere, die sich die schauerlichsten Soldatenmißhandlungen hatten zuschulden kommen lassen, waren pflichttreue und energische Vaterlandsverteidiger. Friedrich Adler aber war ein gemeiner Mörder.

            Heute hat Friedrich Adler unzählige Freunde, aber vor zwei Jahren stand er allein. Seine Tat war beinahe ein Selbstmord und er hätte sie ja auch fast an Ort und Stelle mit dem Leben gebüßt, da ihn nach dem Schusse Offiziere mit dem Säbel bedrohten. Dann kamen die sechs Monate der Untersuchungshaft, in denen er mit der Vorbereitung für seinen Prozeß und mit wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigt war. In einem ergreifenden Briefe teilte er seinen Eltern eine wichtige Entdeckung mit. Um dieses einen Augenblickes willen verlohnte sich ihm das Leben.

            Er hätte vielleicht für unzurechnungsfähig erklärt werden können; aber er verschmähte dieses Mittel, da er seine Tat nicht verkleinern und entwerten wollte, und nahm die volle Verantwortung auf sich. Seine Rede vor Gericht stimmt auch heute noch, obwohl wir seither so manches freies Wort sprechen und vernehmen durften, feierlich bis zur Andacht.

            „Nicht alle sind tot, die begraben sind; denn sie töten den Geist nicht, ihr Brüder!“ Diese Worte der Osterbotschaft waren die letzten Worte, die er vor der Verkündigung des Todesurteils im Gerichtssaale sprach. Er stand vor den Richtern, die nach der Verfassung gar nicht berechtigt waren, über seine Tat zu richten. Dann schritt er zwischen Justizsoldaten hochaufgerichtet aus dem Saale. Die Frauen weinten und die Männer ballten die Faust.

            Wir junge Menschen waren damals wie im Fieber. Ich schrieb ein Gedicht, das begann: „Der Glorienschein flammt dir ums Haupt…“

            Bange Wochen mußten wir um sein Leben zittern, bis er endlich zu einer langen Kerkerstrafe begnadigt wurde. Er, der sein Recht wollte, wurde mit – Gnade abgespeist…

            Die Götzenbilder, vor denen man in diesem Kriege zitterte und kroch, liegen zerschmettert. Der Cäsarenwahn, der noch vor wenigen Wochen in prahlerischen Gottes- // gnadentum schwelgte, ist besiegt. Hindenburg und Ludendorff, die der geängstigten Menschheit mit gepanzerter Faust drohten, sind heute geschlagene Feldherren. Friedrich Adlers Gestalt aber wächst und wächst.

            Heute, da sich die Ideale erfüllen, für die er so viel gelitten hat, können wir nur inbrünstig hoffen, daß die lange Haft seinen Heldengeist nicht zu brechen vermochte. Ich wiederhole es: wir sitzen in einem Schnellzuge, der in jagender Fahrt einem Abgrunde zurast. Nur Friedrich Adler vermag zu bremsen. Das Volk liebt ihn und vertraut ihm. Er vermöchte die Revolution vor dem Terror zu bewahren. Die Menschen, die ihm folgen, bleiben rein von Blut.

            Friedrich Adler, du Held des Volkes, in feierlichster Stunde geloben wir dir, daß wir uns deines Opfers nicht unwert erweisen werden. Sei gegrüßt! Sei in der Freiheit hochwillkommen!

In: Ver! Hg. von Karl F. Kocmata, Wien November 1918, S. 357-360