Marie Deutsch-Kramer: Die Befreiung der Frau durch den Sport. (1929)

Der große Aufmarsch der Frauen auf der Ringstraße am 14. April und die vielen großen Frauentagsfeiern in der Provinz haben wieder einmal recht gezeigt, wie stark die Frauenbewegung in der österreichischen Sozialdemokratie ist. Es ist eine wirkliche Freude, diesen raschen Aufstieg der Frauenorganisationen mitzuerleben.

             Der Umsturz hat den Frauen ihre

politische Befreiung

gebracht. Der Republik und der sozialdemokratischen Partei in erster Linie verdanken sie das Wahlrecht, dessen zehnjähriger Bestand jetzt überall gefeiert wird. Politisch sind die Frauen den Männern gleichgestellt. Ihre

wirtschaftliche Befreiung

müssen sie sich noch erkämpfen.

                           Die geistige Befreiung

der Frauen ist eine ungeheuer wichtige Sache für jedes Volk und jedes Land, ja für die Entwicklung der ganzen Menschheit. Die Frauen sind die Trägerinnen dieser Menschheit, sie sind Mütter und die berufensten Erzieherinnen der Kinder. Von ihrer geistigen Einstellung hängt die Entwicklung der Kinder ab und damit die Zukunft des ganzen Volkes.

             Aber mit der geistigen muß Hand in Hand

                           die körperliche Befreiung

gehen. Ein wirklich harmonischer Mensch soll nicht nur entwickelte geistige Fähigkeiten, sondern auch einen gepflegten, gesunden Körper haben. Es ist sicherlich kein Zufall, daß gerade in den letzten zehn Jahren

die Frauenmode

eine so große Veränderung erfahren hat. Die Mode ist, abgesehen von lächerlichen Auswüchsen, die es immer gegeben hat, sehr oft ein Abbild des Zeitgeistes. In der Zeit, da die Frau ihre geistige Befreiung er-// lebte, mußten auch jene äußeren Merkmale fallen, die die Frau zur körperlichen Sklavin machten. Das Mieder, die langen Haare, die Schleppe und die unförmigen Hüte mit den Spießen von Hutnadeln verschwanden, weggeweht von dem erfrischenden Sturme der Revolution.

             Unmöglich wäre heute im Straßenbild eine derart angezogene Frau, gefährlich wäre die Mode der langen Röcke im Hinblick auf die jetzigen Verkehrsmittel, unmöglich diese Hüte in der Straßenbahn und im Auto, unpraktisch und zeitraubend die langen Haare der Frau bei ihrer so mannigfachen Arbeit.

             Zugleich aber mit diesen Veränderungen im Frauenleben kam noch eine.

                           Der Frauensport

wuchs in den letzten Jahren zu ungeahnter Größe. Während früher der Sport fast nur eine Angelegenheit der Männer und da wieder bis in die letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts eine bürgerliche Angelegenheit gewesen ist, hat sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts der Arbeitersport und seit dem Umsturz der Sport der arbeitenden Frauen in ganz ungeahnter Weise entwickelt.

             Wir zählen heute in Österreich schon 35.000 Sportlerinnen, und immer neue Scharen strömen zu. Der jährliche Zuwachs der Frauen übertrifft den der Männer in einzelnen Sportzweigen, besonders im Turnen, oft um das Zehnfache.

             Man sieht daraus deutlich, wie rasch die Frauen erkannt haben, daß der Sport gerade für sie von der größten Bedeutung ist.

Der Wert des Frauensports

liegt darin, daß er den Körper stark macht, aber auch schön erhält. Eine Frau, die viel Sport betreibt, wird sich noch in den Jahren, in denen sie früher schon zu den alten Frauen gehört hätte, noch immer ein jugendliches Aussehen bewahren. Diese Art Schönheitspflege hat nichts zu tun mit der bürgerlichen Unart, die den Lippenstift und die Puderquaste als das Um und Auf der weiblichen Schönheit betrachtet. Als die wahre Ursache, daß bürgerliche Frauen sich ihre Anmut viel länger erhalten können als Proletarierfrauen, muß man vielmehr die Tatsache bezeichnen, daß sie ihren Körper viel mehr pflegen konnten als die arbeitende Frau.

             Die übermäßige Arbeit und der gänzliche Mangel an jeglicher Körperpflege ist schuld an der so rasch schwindenden Schönheit der Proletarierin.

             Dem abzuhelfen ist eine der wichtigsten Aufgaben des Frauensports.

             Er soll ein Teil der Erholung sein, die sich die Arbeiterin in der freien Zeit gönnen kann. Diese freie Zeit ist zwar heute noch karg bemessen. Der fortschreitende Sozialismus wird auch hier Besserung schaffen.

             Dann wird es sich auch zeigen, daß die arbeitende Frau ihrer bürgerlichen Geschlechtsgenossin an Schönheit und Anmut durchaus nicht nachsteht. Nur gesunde und starke Mütter können ebensolche Kinder zur Welt bringen. Darum ist der Frauensport auch vom Standpunkt der Volksgesundheit lebhaft zu begrüßen.

             Aber auch ein psychologisch wichtiges Moment ist beim Frauensport nicht zu übersehen. Die Frauen leiden im allgemeinen noch aus den Zeiten der Unterdrückung her an einem mangelnden Selbstbewußtsein.

             Sie fühlen sich häufig als minderwertig, was sich in der Scheu vor einem Auftreten im öffentlichen Leben ausdrückt. Gerade das aber ist für die Frau und ihre politischen Aufgaben von großem Nachteil. Auch hier kann der Sport helfen. Wer auf sportlichem Gebiet etwas leisten will, muß seine körperlichen Kräfte ständig üben, er muß aber auch geistesgegenwärtig sein und seine Gedanken konzentrieren können. Der Sport verlangt körperliche und geistige Disziplin.

             Gelungene sportliche Leistungen erzeugen aber in jedem Menschen// ein Gefühl der Befriedigung und steigern sein Selbstbewußtsein. So können sportliche Erfolge zur Überwindung des Minderwertigkeitsgefühls führen. Viele Frauen werden es an sich selbst erfahren, daß sie, wenn sie Sport betreiben, dann auch auf geistigem Gebiet mutiger und selbstsicherer werden.

             Bis vor wenigen Monaten hatten die Frauen im Verein für Arbeitersport und Körperkultur in Österreich (Askö) keine Vertretung. Nun hat sich aber ein

                           Frauenausschuß im Askö

gebildet, dem je eine Vertreterin jedes Sportzweiges, eine Sportärztin, eine politische und technische Leiterin angehören.

             Die Aufgaben dieses Ausschusses sind mannigfachig. Um nur die wichtigsten anzuführen, sei hier erwähnt:

  1. die Werbung möglichst vieler Genossinnen für den Frauensport durch Vorträge, Vorführungen und sonstige Propaganda;
  2. die Aufstellung eines Sportprogramms für die Frauen, das im Herbst auf dem Internationalen Sportkongreß in Prag vorgelegt werden soll; dieses Programm enthält alle Aufgaben, die der Frauensport erfüllen soll, und einen Hinweis auf jene Sportzweige, die den Frauen besonders empfohlen werden;
  3. soll auch eine gute Verbindung zwischen der Frauensportorganisation und der politischen Frauenorganisation hergestellt werden, damit auch alle Sportlerinnen politisch erfaßt werden können; zu diesem Zwecke entsenden die Bezirkskartelle des Askö je eine Sportlerin in die politischen Bezirksfrauenkomitees.

Es ist auf dem Gebiet des Frauensports noch Großes zu leisten, und es bedarf aller Anstrengungen, um die Frauensportorganisation in Österreich so auszubauen, daß sie der politischen Frauenorganisation entspricht. Mögen alle Genossinnen dazu beitragen, damit die geistige Befreiung der Frau Hand in Hand gehe mit der körperlichen durch die Hebung und Ausgestaltung des Frauensports.

In: Die Frau, H. 6/1929, S. 10-11.

Ernst Decsey: Reinhardts „Helena“-Revue in der Volksoper. (1932)

Es ist eine Augenweide. Und die Weide beginnt mit dem Vorspiel im Vorspiel: während der Ouver­türe, nach ein paar Orchestertakten geht der Vorhang hoch, zwei Arbeiter öffnen Kisten und heben aus dem entnagelten Grab die Figuren der Operette heraus. Da liegen sie als halbtote Wurstel, der Agamemnon, der Orest, der Pylades, und langsam erwachend fangen sie unter Führung der zwei Ajaxeln zu leben, zu singen, zu spielen an. Ein geistreicher Regie-Einfall, dem das Publikum sofort Dank und Anerkennung ausspricht. „Echter Reinhardt…“

Und nun beginnt die eigentliche Helena-Revue: ein Ueberschüttetwerden mit Farben, Kostümen, Tänzen. Musik, und man weiß tatsächlich nicht, welcher von den drei Akten der üppigste ist. Es scheint, das Publikum entschied sich für den ersten, und das mit gutem Gefühl. Reinhardt ist nicht nur bei Shakespeare, er ist auch bei Offenbach der Regisseur der Regisseure, kurz das Genie, von dem die Talente lernen können. Ein Genie wie Reinhardt hat aber auch die Fehler des Genies. Er denkt nicht an Steigerung im Überschütten, nur ans Überschütten. Ein normales Talent hätte den ersten Akt zum schwächeren, den dritten Akt zum stärksten gemacht. Hier ist es fast umgekehrt: der stark eingekochte dritte Akt erscheint mager, weil man schon genug hat, weil man blasiert wurde, weil man — sagt der Chor in der griechischen Tragödie — über den Appetit hinaus nichts mehr verträgt. Zuviel des Besten, zuviel des Guten…!

Es gibt allerdings märchenhaft schöne Bühnen­dinge, neben denen verblaßt, was man sonst in diesem Genre sieht. Die traumhafte grüne Trauerweide mit dem darunter schlummernden Paris, die goldleuchtende Muschel-Badewanne, worin Helena badet, das zauber­hafte Boudoir, das laszive, farbenwirrende Bacchanal, das geschlossene Tor des Menelaus-Palastes, an dem die bezechten Bacchanten vorbeischweben, vorbeischwirren, vorbeitorkeln. Dann die Burg Ilion, von deren Mauerkranz Bogenschützen Pfeile versenden, die silberlanzenstarrenden Heere der Griechen und Trojaner, die aufgetakelten Prunkschiffe im Hafen, alles, alles Bühnenwunder. Revue-Wunder. Reinhardt kennt keine Grenzen. Und keine Pausen. Pausenlos drängt sich Bild an Bild. Er duldet zum Glück keine Wiederholung, wie sonst in Operetten üblich. Tempo, Tempo. Er überschüttet fortgesetzt bis zum Schluß, unaufhörlich, und man fragt schon gar nicht mehr, welchen Sinn der dritte Akt und ob er überhaupt einen habe.

                                                                                 *

Sinn? Ad vocem Sinn. Die Uridee der Offenbachiade, das Sittenstück in antiker Maske, die Persi­flage des Kaiserreiches ist mit dem Witz der Bearbeiter Friedell und Saßmann imprägniert worden, und schüchtern wie Menelaus duckt sich ihren Blitzen der Kritiker und meint halt: es ist eine moderne Zeitsatire daraus geworden, anspielungsreich. amüsant, mit Erotik geladen, so ungefähr wie es Offenbach eigentlich hätte machen müssen….

Alles ganz buffonesk, wenn aus der Zeitsatire nicht wieder in Reinhardts Händen und dank seiner Phantasie eine Revue geworden wäre. Eine geistvolle Revue, aber eine, die Offenbach gar nicht im Sinne lag: dazu war er nicht geistreich genug. Deutlich zeigt dies

der unentschlossene dritte Akt der Bearbeitung. Boudoir der Helena. Frühstück mit Paris. Hektor macht den Drückeberger aufmerksam, daß draußen Krieg ist. Kriegswitze. Verwandlung. Schlacht vor Troja. Duell zwischen Menelaus und Paris. Entrückung des Paris durch die Venus, die Dea ex machina. Waffenstillstand. Abfahrt des Menelaus mit Helena, zu Schiff nach Hellas, als ob gar nichts gewesen wäre. Schlußhymne. Was war? Was ist? Versöhnung des Ehepaars? Wozu, fragt man, haben wir die Kröte überhaupt.. .? Homer tritt trotz Vorhersage nicht auf. Homer scheint hier wirklich geschlafen zu haben. O popoi…!

                                                                                 *

E. W. Korngold saß in der Orchestra und dirigierte seine Offenbach-Musik mit dionysischem Schwung. Als ob er einen Thyrsos-Stäb schwänge. Er singt den Dar­stellern, er deklamiert ihnen alles mit den Lippen vor, jede charmante Wendung des Rhyt[h]mus, jedes Legato und Stakkato. Muß er nicht auf die Sänger achten, gibt er sich dem Reiz der Musik hin. seine Mienen strahlen: Evoë! Die Musik selbst ist abermals eine Offenbach-Revue, rollt vieles aus vielen Offenbach-Partituren auf, eine Ohrenweide. Aber sooft das Schalksauge des Originals durchblitzt, geht ein freudiges Raunen des Wiedererkennens durch das Publikum. So beim Traumduett, so bei „Menelaus dem Guten“, so beim Esprit des chromatisierenden Hauptwalzers und dem Cancan. Evoë!

Die Bühne der Volksoper ist fast zu wenig ge­räumig für die Massenentfaltungen, für die in Wogen hereinflutenden Gruppen, die meistens im Sprungschritt ansausen oder amphorentragend, lanzenschwingend antreten. Wie schön wären diese Farben- und Formenquirle erst in der tiefausgedehnten Bühne der Staatsoper gewesen und sicher wäre die Helena-Revue auch nicht das übelste Geschäft geworden…. Das Ballett des Großen Schauspielhauses Berlin zeigte seine Schöngestalten und seine Künste, und es gab darunter Solokünste der Nini Teilhade sowie der ephebenhaft aussehenden La Jana. Dazu wirbeln immer die zwei Ajaxe (Brüder Latabar) über die Bühne, die femininen Gegenstücke zu den virilen Damen. Dazwischen erscheint der Fußballkämpfer Achilles mit Augen, die „Immer feste druff“ rollen (Raoul Lange), und zeigt sich eine weiße Marmor­statue, die berlinsche Mundart, echter Kurfürstendamm, redet, der Merkur (Herr. v. Meyerinck). „Sie, Herr Weiß…!“, ruft den mehlbestaubten Berliner einmal Menelaus an: das ist Hans Moser, von dem der über diesem Griechenland lachende Himmel herrührt.

Oh, Hans Moser!… Man freut sich, daß dieser Menelaus nicht nach Kreta fährt, sondern gleich wieder­kommt, denn sooft er da ist, wird Hellas fidel. Herr­lich die Szene im Schlafzimmer, wo er sich selbst als Paris neben seiner Frau im Bett zu sehen glaubt und die Fußpaare abzählt. Oh, Hans Moser! In dem kleinen Komiker lebt der große parodistische Geist des Ganzen, und seine Wiener Note, der rührend komische Armitschkerlton, sagen wir’s noch einmal, macht Hellas ideal. Marie Rajdl singt mit den feinsten Kopftönen die Helena, und Gerd Niemar als Paris ist ein echter deutscher Operntenor mit hoher, blonder Stimme. Als echter Opernbariton gesellt sich ihm Herr Ballarini (Agamemnon); aber ich sage zum drittenmal: Hans Moser….

                                                                                 *

Welche von den Frauen die schönste war, darüber möchten wir uns kein Paris-Urteil erlauben. Frau Rajdl war es, Frau La Jana, Fräulein Overhoff, die junge Dänin Teilhade, und nicht zuletzt war es die gaminhafte Friedel Schuster, die den Orest, die Minerva und den Epilog mit gleicher Grazie sang. Das Publikum rief nach ihr. Wie es nach fast allen rief. Nach fast allen mit Stentorstimme.

Besonders stentorhaft, als sich Max Reinhardt vor dem Vorhang zeigte, der bisher unsichtbare Heros eponymos. Wir haben hier den Thersites gespielt, der gegen alles Schöne einen Einwand wußte. Aber Thersites will auch nicht stören, sondern empfiehlt sich nun und beugt sich sowohl den Göttern wie ihrem Obergott Max. Aber auch dem Erfinder des unvergeß­lichen: „Weil es ja nur ein Traum ist…“ Evoë!

In: Neues Wiener Tagblatt, 8.6.1932, S. 9.

Julius Deutsch: Dank des Parteivorstandes der Arbeitersportinternationale (1931)

                           Genossinnen und Genossen!

Der Parteivorstand der Sozialdemo­kratischen Arbeiterpartei Österreichs ist erfreut über den gewaltigen Fortschritt des Arbeitersportes, der durch die Zweite Arbeiterolympiade in glänzender Weise be­kräftigt wurde.

Der internationale Arbeitersport hat vor den Vertretern von vierunddreißig sozialistischen Parteien eine schwere, aber erfolgreiche Probe bestanden. Er hat durch eine Fülle prachtvoller Veranstaltungen gezeigt, daß er imstande ist, eine gewaltige Wirkung zu erzielen.

Insbesondere die österreichischen Ar­beitersportler haben sich der ihnen gestellten Aufgabe würdig erwiesen. Sie haben in den Tagen des großen Festes eine Leistung vollbracht, die allen Lobes Wert ist. Nicht allein als Gastgeber haben sie sich bewährt, sondern auch als Sportler tragen sie mit dazu bei, das Ansehen der österreichischen Arbeiter­klasse zu mehren. Zu ihren überraschend großen sportlichen Erfolgen seien sie herzlichst beglückwünscht.

Der Parteivorstand der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs dankt der Sozialistischen Arbeitersport-Internationale dafür, daß sie Wien zu ihrem Festort gewählt hat, er dankt allen Genossen und Genossinnen, die in den Ausschüssen und auf den Sportplätzen an dem Gelingen der Arbeiterolympiade gewirkt haben, und er dankt allen Vertrauensmännern und den Mitgliedern der Wiener Parteiorganisation, die die ausländischen Genossen in herzlicher Weise empfangen und beherbergt haben.

Wien und Österreich können stolz sein, daß sie das Ziel vieler zehntausend Genossen und Genossinnen waren, die, heimgekehrt, die Botschaft der Kraft, der Einigkeit und des Kulturwillens der österreichischen Ar­beiterschaft verkünden und dadurch zum Fortschritt und zum Sieg des Sozialismus in ihren Ländern beitragen werden.

Es lebe die Sozialistische Arbeitersport-Internationale!

Es lebe der Sozialismus!

Parteivorstand der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs.

Arbeitersportler und Arbeitersportlerinnen!

Das rote Wien stand in der abgelaufenen Woche im Mittelpunkt der internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung.

Siebzigtausend Arbeitersportler und Arbeitersportlerinnen aus 22 Ländern und tausend Delegierte aus 34 Ländern, die zu dem Kongreß der Sozialistischen Arbeiter-Internationale gekommen sind, waren be­geisterte Teilnehmer und Zeugen der glän­zenden Veranstaltungen der Sozialistischen Arbeitersport-Internationale.

Trotz wirtschaftlicher Not und politischer Unterdrückung hat die Zweite Arbeiter-Olympiade den Beweis erbracht, daß der Kulturaufstieg der Arbeiter unwidersteh­lich ist.

Das Büro der Sozialistischen Arbeiter­sport-Internationale dankt all den vielen Zehntausenden, die durch ihre Teilnahme an der Olympiade nicht nur zu ihrem äußeren Gelingen, sondern auch zu ihrem moralischen und politischen Erfolg beigetragen haben.

Das Büro der Sozialistischen Arbeiter­sport-Internationale dankt aber besonders den Wiener Genossen und Genossinnen, die die Organisation der Arbeiterolympiade in vorbildlicher Weise vorbereitet und durch­geführt haben; sie dankt der sozialistischen Gemeindeverwaltung von Wien, der sozialdemokratischen Partei Österreichs und dem Volk von Wien, das in überaus gastfreund­licher Weise die Arbeitersportler empfangen und beherbergt hat.

Dank, herzlichen Dank euch allen, Ge­nossen und Genossinnen, die ihr dem Ar­beitersport und mit ihm dem Sozialismus durch eure Opferwilligkeit, durch eure Kraft und durch eure Tatbereitschaft zu einem so herrlichen Erfolg verholfen habt.

Es lebe die österreichische Sozialdemokratie!

Es lebe die Sozialistische Arbeitersport-Internationale!

Das Präsidium der Sozialistischen Arbeitersport-Internationale:

Julius Deutsch (Wien), Kornelius Gellert (Leipzig), Rudolf Silaba (Prag).

In: Arbeiter-Zeitung, 28.7.1931, S. 1.

Stephanie Endres: Die Frau und der Sport (1925)

So denkt der Mann über die Frau und ihre Stellung im Staate? Wir Frauen haben nur den einen Trost, daß der Mann, der so denkt, nur Anton Schneider ist, und nicht alle Männer seine Ansichten teilen.

Sollten an uns Frauen alle neuen Geistesströmungen so spurlos vorübergehen und wir so hinter­listig sein, daß wir, kaum dem Gefängnis entronnen, daran denken, wie wir unseren Befreier ins Gefängnis bringen? Woher weiß denn Anton Schneider, daß die Idee des Sozialismus bei uns Frauen nicht tiefer ein­gedrungen ist? Wir wissen, was Sozialismus heißt: Er will, daß alle Menschen gleich sind, daß sie einander helfen, daß sie gütig sind zueinander. Sozialismus ist nicht Mißgunst, Strenge Herrschsucht.

Wir Frauen verdanken auch nicht gerade dem Kriege die Errungenschaft unserer Gleichberechtigung, sondern unserer langen, mühevollen Kampfesarbeit.

Wer etwas tiefer in die Geschichte und in den Geist der einzelnen Zeitperioden eingedrungen ist, der weiß, daß es immer Frauenbewegungen gegeben hat.

Wer etwas mehr Kenntnisse von der Frauenseele hat, der weiß auch, daß nicht alle Frauen fürs Heim ge­schaffen sind und die Frauen nicht „der Not gehorchend“, sondern aus innerem Schaffenstrieb heraus, aus dem Wunsche, in der Gesellschaft und für sie etwas zu leisten, einem Beruf nachgehen.

Wir sind nur bisher an unserem Aufstieg, an unserer Entwicklung durch jene un- und widernatürliche Einrichtung, die katholische Kirche, gehindert worden. Als Aschenbrödel des Männerstaates, als Magd und Dienerin des Mannes, dem wir zu gehorchen hatten, mußten wir unsere eigenen Gedanken zurückhalten und konnten uns nicht frei entfalten. Die katholische Kirche hat uns Jahrhunderte hindurch geistige Entwicklung und körperliche Durchbildung vorenthalten.

Aber einmal frei, wollen wir jetzt nachholen, was Wir bisher versäumt hatten. Aber nicht die Kultur des Mannes wollen wir uns aneignen, nein, unsere eigene, eine unserem Wesen entsprechende Kultur uns schaffen, nicht „um zu herrschen und über die Männer herrschen zu können“, sondern um als gleichwertige Menschen neben, nicht über, aber auch nicht mehr unter den Männern zu stehen. Wir wollen dem Manne Helferinnen, Kameradinnen sein. Und um diese Kultur ins Leben zu rufen, werden wir mit unserer Körper­bildung beginnen.

Unseren Körper bilden müssen wir Frauen, und nicht Sport betreiben. Hat Anton Schneider schon ein­mal darüber nachgedacht, wann und wo Sport möglich ist und was Sport bedeutet?

Unsere Gegner müssen doch immer hell auf­ lachen, sich herzlich freuen und sich die Hände reiben, wenn wir Proletarier, wir Sozialisten für eine Sache, die überhaupt nur im kapitalistischen Staate existieren kann, immer mit vollster Energie eintreten und sie propagieren.

Wirklich Sport betreiben kann doch nur der, der selbst Kapitalist ist oder einen Kapitalisten zum Freund hat. Nun sind wir aber weder Kapitalisten, noch haben wir Kapitalisten zu Freunden. Welch edler Kapitalist würde uns die Reise nach Davos zahlen, damit wir dort Wintersport betreiben können?

Und erreichen wir durch Sport wirklich völlige Harmonie des Körpers und des Geistes, das Ziel des Arbeiterturnvereines? Wir brauchen uns nur die Sportler anzusehen. Die geübten Muskeln sind über­mäßig entwickelt, während eine Reihe anderer Muskeln verkümmert. Wir alle kennen den knolligen Bizeps eines Athleten, die übermäßig, entwickelten Wadenmuskel eines Fußballers, den schwachen Oberkörper eines Läufers ec.

Auch für den Geist schafft der Sport keine Ausgeglichenheit. Geradezu geisttötend wirkt einseitig betriebener Sport. Was wir Proletarier brauchen, was vor allem wir Frauen brauchen und was auch für die Masse erreichbar ist, ist das richtige Gefühl für unseren Körper; wir müssen den Trieb, unseren Körper zu achten, zu schätzen, zu schonen, zu bilden, entwickeln. Wir müssen wissen, daß unser Körper immer da ist, und nicht nur an ihn denken, wenn er sich durch Schmerzen unangenehm bemerkbar macht.

Wir werden ordentlich gehen lernen, daß wir unsere dreißig Kilometer im Tag ohne Mühe zurück­legen können: wir werden springen lernen, damit wir über eine Hecke oder einen Zaun springen können: wir werden schwimmen lernen, damit wir uns auch im Wasser bewegen können: wir werden eislaufen, damit wir uns auf glatter Fläche bewegen lernen; wir werden klettern lernen, damit wir den Gipfel eines Berges erklimmen können: wir werden tanzen lernen, damit wir die Musik wirklich erleben und was wir erleben, durch und in Bewegungen ausdrücken lernen. Wir werden auch lernen, wie wir uns gesund kleiden und aufs beste ernähren, Aber all das werden wir mit Maß betreiben und immer zu passender Zeit. Wir werden und wollen alle Muskeln üben, keinen zu viel, keinen zu wenig. „Harmonie in allem!“ soll unsere Losung sein.

In: Arbeiter-Zeitung, 8.2.1925, S. 11.

Friedl Schreyvogl: Österreichische Dichter. (1921)

             Der österreichische Geist fliegt längst in die Weite neuer Zukunft aus. Über alle Not der Gegenwart breitet sich das starke und berauschende Gefühl eines Lebens, das verwundet, aber nie überwunden werden kann. In den Büchern unserer Dichter, die in den letzten Wochen in schier unübersehbarer Fülle den Reichtum schöpferischer Kräfte bezeugen wollten, gibt das einen starken und bezwingenden Ton. Und es ist schon an sich ein frohes Beginnen, aus dem Vielen das Bedeutende, aus manchem Vorüberrauschenden das Bleibende zu greifen.

             Da ist gleich Egyd Fileks neues Buch: Die wundersame Wandlung des Herrn Melander, vielleicht eines der innigsten, in der Bedeutsamkeit seiner klaren Linienführung bemerkenswertesten Bücher des Jahres. Es spielt nach dem dreißigjährigen Krieg. Aber mühelos spannen sich die Fäden von damals zu heute, wird das Schicksal des vom Krieger zum Menschen geklärten Herrn Melander ein erlösendes Zeichen dessen, was auch uns nottut. Im Sprachlichen hat das Buch manche kleine Kostbarkeit, Stimmungen von feinstem Reiz und in der selbstverständlichsten Proportion seines Aufbaues alle Vorzüge, die die nun ausgereifte und in ihrem Welterfassen zuweitest gespannte Erzählkunst Fileks zu schenken vermag. So hat auch das (bei Konegen erschienene) Buch schon heute seinen Erfolg gefunden.

             Einen unbestreitbaren und dabei höchst verdienstvollen Platz hat sich die Wiener literarische Anstalt gesichert. Weit über hundert Wila-Bücher sind in Jahresfrist herausgekommen, freilich nicht immer Weltbewegendes, aber doch stets Lebendiges, das Regen neuer und die besinnlichen Gaben bewährter Talente. Und manchmal eine reizvolle Besonderheit.

In: Neuigkeits Welt-Blatt, 22.6.1921, S. 2.

Mendel Singer: Judenfrage und Zionismus. (1927)

Mit Befriedigung wollen wir feststellen, da unsere Genossen in Österreich das Totschweigen einer so großen Bewegung wie den Zionismus aufgegeben haben. €3 gibt heutzutage kaum noch eine größere Partei in der Sozialistischen Arbeiterinternationale, deren Führer sich mit dieser Bewegung nicht befaßt hätten. Österreich bildete eine Ausnahme, wenn man von der Stellungnahme Engelbert Pernerstorfers vor nahezu 30 Jahren absieht. Es ist ein Verdienst Hannaks (siehe: Jacques Hannak, „Die Krise des Zionismus“ im Oktoberheft des Kampf), die Auseinandersetzung mit dieser Bewegung eröffnet zu haben, Die Methode aber, die sich Hannak bei Behandlung dieser Frage zurechtgelegt hat, entspricht keinesfalls der unbedingt notwendigen Unvoreingenommenheit, mit der denkende Sozialisten an solche Probleme herantreten sollten.

             Gerade auf dem Gebiet der nationalen Frage, der Erforschung der erhaltenden und auflösenden Tendenzen innerhalb eines Volkes haben österreichische Sozialdemokraten große Verpflichtungen. vor nahezu zwei Jahrzehnten erschien Otto Bauers Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, das klassische Werk der Ergründung des nationalen Problems vom Gesichtspunkt des Marxismus. In diesem Werke ist der Judenfrage ein Kapitel gewidmet; jeder Sozialist, der an die Erörterung dieser Frage herantritt, sollte daher eigentlich die Darlegungen Bauers zum Ausgangspunkt nehmen. Es wäre ja sehr interessant, zu untersuchen, inwiefern sich die Prognose Otto Bauers in der Judenfrage als richtig oder unrichtig erwiesen hat. Hannak aber unterzog sich dieser Aufgabe nicht. Er faßt sein Urteil über die Judenfrage in folgenden Sätzen zusammen:

Der Gegensatz (zwischen den Juden und Nichtjuden. M. S.) wäre in wenigen Generationen durch die Auffassung des jüdischen Elements bereinigt worden, wenn nicht ein unheimliches, in seiner Kraft schier unbesiegbares Wesen die blutende Wunde immer wieder neu aufgerissen hätte: der Koloß Rußland, dessen außerhalb der kapitalistischen Einflußspähre liegende mittelalterliche Gesellschaftsverfassung von Jahr zu Jahr Massen jüdischer Elendsmenschen, behaftet mit allen Qualen und allen Lastern des Gettos, nach Westeuropa abstieß. Diese Iumpenproletarischen, kulturlosen, unorganisierten Menschen waren es, welche durch den ungeheuren Druck ihrer Zahl, durch das Angebot ihrer Hände und ihre durch Not und Jammer begreifliche SkrupelIosigkeit den Lebensstandard der übrigen mittelständischen und proletarischen Gruppen bedrohten. Als obendrein in den siebziger und achtziger Jahren der Kapitalismus nach den vorangegangenen „Gründerjahren“ einen ersten Rückschlag erlitt, den vor allem die besitzlosen Klassen zu tragen hatten, war die Reaktion darauf jene Welle des Antisemitismus, von der sich zum Beispiel in Österreich Lueger zur Höhe hat tragen lassen.

Der erste und wichtigste methodologische Fehler besteht darin, die Judenfrage vom Gesichtswinkel des Westjudentums zu behandeln. Otto Bauer hütete sich nicht nur davor, Oft- und Westjudentum unter eine Haube zu bringen, er unterschied sogar sehr sorgfältig die Entwicklungstendenzen in Galizien und Bukowina von den Entwicklungstendenzen in Rußland. Hannak aber spricht in einem Atem von Rußland und dem Österreich Luegers, als ob das Problem hier und dort den gleichen Charakter oder zumindest eine ähnliche Tendenz hätte. Genosse Hannak spricht von der Aufsaugung des jüdischen Elements in einem Tone der Selbstverständlichkeit, als ob der Sieg der Assimilationstendenz innerhalb des Judentums jetzt, nach Entlarvung des Antisemitismus als den „Sozialismus des dummen Kerls“, unmittelbar bevorstünde.

Die Tatsachen im jüdischen Leben beweisen aber das Gegenteil.

1. Im Ietzten halben Jahrhundert ist die Zahl der Juden in der Welt von acht auf fünfzehn Millionen gestiegen. In den Ietzten zwei Jahrzehnten geht sowohl in den alten Wohnländern als in den neuen Einwanderungsländern eine stete Konzentrierung der jüdischen Massen vor sich. Fast der dritte Teil des jüdischen Volkes Iebt gegenwärtig in Städten mit einer jüdischen Bevölkerung von mehr als 100.000 Seelen. Mehr als die Hälfte der Juden Iebt in Städten mit einer jüdischen Bevölkerung von mehr als 25.000 Seelen. In allen Städten Iebt der größte Teil der Juden auf geschlossenen Gebieten.

Vor ungefähr hundert. Jahren gehörten gegen 80 Prozent der Juden dem Mittelstand an, wobei nicht weniger als der dritte Teil der Juden Pächter, Schankwirte und Makler waren. Nach einer Aufstellung des Sozialökonomen Jaakow Leschtschinsky, die zwar keinen Anspruch auf vollständige Genauigkeit erhebt, die aber die Veränderung, die sich innerhalb des Judentums vollzogen hat, zweifellos richtig illustriert, gliedern sich gegenwärtig die Berufe der Juden wie folgt:

Landwirtschaftliche Arbeiter                                                          600.000

Lohnarbeiter aller Art                                                                    2,000.000

Handwerk und Heimarbeit                                                           4,000.000

Intellektuelle Berufe                                                                      1,000.000

Groß- und Mittelbourgeoisie                                                       2,000.000

Keinkrämer, Marktfahrer, geistliches und rituelles Personal

und Beschäftigungslose                                                                5,400 000

Insgesamt                                                                                         15,000.000

Wenn wir also die ersten vier Gruppen als produktiv arbeitende Menschen bezeichnen, ersehen wir, daß die Hälfte des jüdischen Volkes von ihrer für die Menschheit nützlichen Arbeit lebt, während vor hundert Jahren kaum 20 Prozent der jüdischen Bevölkerung produktive Arbeit leisteten. (Hannak möge aus diesen Zahlen ersehen, wie es um seine Behauptung, daß „der einzige Beruf des russischen Gettojuden der Beruf des Krämers und Schächters“ sei, bestellt ist.) Die hier aufgezählten Erscheinungen bewirken zweifellos eine Stärkung der Tendenz der Erhaltung der jüdischen Nation. (Siehe übrigens auch Otto Bauer: Die Bedingungen der nationalen Assimilation im „Kampf“, Jg 1912, Heft 6.)

2. In den letzten zwei Jahrzehnten hat auch das künftlerische jüdische Schaffen eine repräsentable Entwicklung aufzuweisen. In der jiddischen und in der neu-hebräischen Sprache sind Werke belletristischen und wissenschaftlichen Inhalts entstanden, die einem Vergleich mit den Schöpfungen anderer Völker standhalten und die zum Teil Eingang in die Literatur der europäischen Völker gefunden haben. Die Entwicklung einer jüdischen Musik, der bildenden und darstellenden Kunft kann auf bedeutende Fortschritte hinweisen.

3. In Polen, Rußland, Rumänien, Nord- und Südamerika hat sich ein umfangreiches Netz von Schulen mit jiddischer Unterrichtsprache gebildet. So hat man zum Beispiel vor einiger Zeit in der Sowjetukraine 80.000, in Weißrußland 30.000, in Polen gegen 23.000 Schüler in Kindergärten, Volks- und Mittelschulen mit jiddischer Unterrichtssprache gezählt. Also, sowohl in Sowjetrußland, wo die jiddische Sprache den Sprachen der anderen nationalen Minderheiten gleichgestellt ist, als auch in Polen, wo das herrschende Bürgertum (die P.P. S, hat sich von dieser Politik den Juden gegenüber seit einiger Zeit abgewandt) den Juden die Anerkennung ihrer nationalen Rechte noch verweigert, faßt die jüdische Kultur in den jüdischen Massen immer stärker Fuß.

Es dürfte für uns von besonderem Interesse sein, zu erfahren, welchen Schichten der jüdischen Bevölkerung die Kinder dieser Schulen, die fast ausschließlich auf private Geldmittel angewiesen find, entstammen. In Warschau zum Beispiel waren die Eltern dieser Kinder:

              Arbeiter                                                                                21,4%

              Handwerker                                                                         41,4%

              Kleinhändler                                                                         32,7%

Verschiedene                                                                        4,5%

Also, der größte Teil der Schüler waren Kinder von Eltern, die der werktätigen Bevölkerung angehören. Die jüdische Arbeiterschaft ist der faktische Träger dieses weltlichen Schulwesens in jiddischer Unterrichtssprache.

4. In allen Ländern jüdischer Massensiedlung sind mächtige sozialistische Parteien und Gruppierungen jüdischer Arbeiter entstanden, die das jüdische Volkstum bejahen. Im Lager dieser Parteien und Gruppen befindet sich in allen erwähnten Ländern der größte und aktivste Teil des jüdischen Proletariats. Bei den Gemeinderatswahlen in Lodz zum Beispiel, die im Oktober 1927 stattfanden und die das erfreuliche Wachstum der sozialistischen Stimmen dokumentierten, erhielten die jüdischen sozialistischen Arbeitergruppen insgesamt 21.679 Stimmen. (Die P.P.S. erhielt 55.702, die deutschen Sozialisten erhielten 16.643 Stimmen.)

5. In Palästina konzentriert sich eine Bevölkerung von mehr als 150.000 Seelen (Zählung gegen Mitte 1926), von denen 100.638 im Zeitabschnitt 1919 bis 1926 eingewandert sind. Die eingewanderte jüdische Bevölkerung hat zum allergrößten Teil zu produktiver Arbeit gegriffen. Es find Arbeitersiedlungen entstanden, es hat sich ein Netz wirtschaftlicher, kultureller und gewerkschaftlicher Organisationen der Arbeiterschaft entwickelt, die als mustergültig bezeichnet werden dürfen. Ramsay Macdonald nannte die Gemeinwirtschaft Palästinas das Laboratorium des Sozialismus.

Diese Tatsachen widersprechen der Auffassung von der Aufsaugung des jüdischen Elements, Hannak aber scheint nämlich darüber nicht informiert zu sein, daß bis zum Kriegsausbruch der Prozentsatz der jüdischen Auswanderung aus Galizien zum Beispiel höher als der von Rußland war. Er scheint auch übersehen zu haben, daß der Strom der jüdischen Wanderung nicht nach Europa, sondern über den // Ozean ging. In den Jahren 1889 bis 1914, der Zeitabschnitt der größten jüdischen Wanderbewegung, haben die Vereinigten Staaten nicht weniger als vier Fünftel aller jüdischen Emigranten aufgenommen. Wenn Hannak das beachtet hätte, könnte er nicht die Wanderbewegung der Juden ausschließlich oder auch nur vorwiegend auf Rußland mit feiner „außerhalb der Kapitalistischen Einflußsphäre liegenden mittelalterlichen Gesellschaftsverfassung“ und das Versagen der Assimilation in Europa durch die Auswanderung aus Rußland zu erklären versuchen.

Hannak nennt die wandernden jüdischen Massen „Iumpenproletarische, kulturIose, unorganisierte Menschen“. Da wir nicht annehmen können und wollen, daß dem Genossen Hannak das glattrasierte Gesicht und die moderne Bekleidung als wesentliches Zeichen der Kultur erscheint, so können wir uns diese absolut unbegründete und nicht zu rechtfertigende Kränkung hunderttausender arbeitsuchender Juden nicht erklären. Hannak übersieht, daß es diese „kulturlosen, unorganisierten Menschen“ sind, die in Lodz und in anderen Städten Polens unerschrocken für die Sache des Sozialismus kämpfen, die im reaktionären Rumänien in den ersten Reihen des kämpfenden Proletariats marschieren, die viele Jahre hindurch den

einzigen sozialistischen Abgeordneten Neuyorks gewählt haben. Diese „kulturlosen, unorganisierten Menschen“ haben in Palästina eine Arbeiterorganisation geschaffen, die gegen 22.000 Mitglieder zählt und dem internationalen Gewerkschaftsbund angeschlossen ist. Der Prozentsatz der Arbeiterschaft, den diese Organisation umfaßt, übersteigt den aller „kulturellen organisierten“ Völker. Die Werte, die sie schufen und noch immer schaffen, der sozialistische Idealismus, der sie beseelt, wird von allen, die sie kennengelernt haben, bewundert. Und — um noch eine Tatsache aus Österreich anzuführen — möge Hannak auch in Erinnerung behalten, daß in jenen Tagen des Jänner 1918 in Österreich, als sich die geknebelte Arbeiterschaft, das vergewaltigte Proletariat zum ersten Male gegen den blutigen Krieg auflehnte, viele jener „kulturlosen, unorganisierten Menschen“ bei Organisierung und Leitung der Auflehnung eine hervorragende Rolle gespielt haben.

Die hier angeführten Tatsachen, die nicht bestritten werden können, beweisen wohl, daß die Tendenz der Erhaltung des jüdischen Volkes sich durchgesetzt hat.

II.

Und nun zur Beurteilung der Wirtschaftskrise in Palästina, die Hannak unrichtig als „Krise des Zionismus“ bezeichnet. Hannak stützt seine Behauptung, daß der Zionismus „vielleicht in sein Ietztes Stadium“ getreten sei, hauptsächlich auf folgende Beweise:

1. Palästina erwies sich als unfähig, den mächtigen Wanderstrom aufzunehmen.

„Innerhalb kurzer Zeit war Palästina »verstopft«“

2. Die finanziellen Schwierigkeiten des Palästinaaufbauwerkes, „Doch 151.000 Pfund sind kein Spaß und die Kassen find leer.“

3. Die Erweiterung der „Jüdischen Agentur“, die der Mandatarmacht beratend zur Seite stehen soll, durch Hinzuziehung kapitalsreicher Nichtzionisten. „Der Zionismus ist im Begriff Selbstmord zu begehen: er opfert seine Idee, um die Mittel zu ihrer Durchführung zu erhalten…“

Hannak meinte nun, den folgenden Schluß ziehen zu dürfen:

Vergeblich opferte sich die Blüte der jüdischen Jugend Zentraleuropas, die Pioniere einer höheren Kultur, in den Morästen und Sandwüsten des Landes, vergeblich hungerte sich ihr Idealismus durch die Kargheit des Bodens, vergeblich sanken sie im Sumpffieber, überwältigt von der schweren Arbeit, dahin, vergeblich riefen sie den hohen Gedanken proletarischer Arbeitsgemeinschaft, genossenschaftlicher Solidarität zu Hilfe.

Indes sie in glühender Sonne, unter den Stichen der Malariafliege, die Moore trockneten und die Ölbäume pflanzten, ging über sie die Lawine der Einwanderer hinweg, stampfte Städte aus dem Boden, wie jenes Tel Awiw, ein echtes Gewächs der Einwanderungsinflation, so chaostisch, barbarisch und häßlich wie diese.

Hannak schließt hierauf mit den Sätzen:

Entfremdet seinen ursprünglichen Träumen, die Judenfrage in der ganzen Welt zu lösen, getäuscht in feinen frohen Hoffnungen, aus Palästina einen Judenstaat zu machen, resigniert in der Erwartung, einen tüchtigen Menschenschlag jüdischer Bauern heranzuzüchten, zurückgezogen auf den letzten Wunsch, wenigstens das relativ Wenige // zu behaupten, was in Palästina an Jüdischem geschaffen worden ist, schickt sich der Zionismus jetzt an, selbst dieses Wenige fremden Kapitalsmächten, die der zionistischen Idee fernstehen, zu überantworten. Ein großer Aufwand ward umsonst vertan, eine letzte Kraftquelle des so rar gewordenen bürgerlichen Idealismus wird zugedeckt mit den Dollars aus Amerika.

1. Besitzt Palästina eine Aufnahmefähigkeit für die jüdische Einwanderung? Das Westjordanland allein hat auf einem Umfang von 27.000 Quadratkilometer Boden 757.000 Einwohner, das entspricht 28 Einwohnern auf einen Quadratkilometer; bloß 10.8 Prozent des Bodens sind bebaut, der allergrößte Teil des anbaufähigen Bodens liegt also brach. Der größte Skeptiker kann nicht bestreiten, daß eine wichtige Voraussetzung für die Ansiedlung von Hunderttausenden von Menschen gegeben ist… Im Jahre 1925 war auch Palästina tatsächlich das Land der größten jüdischen Einwanderung gewesen. Im Laufe der Jahre 1919 bis 1926 hat sich die jüdische Bevölkerung Paläftina nahezu verdreifacht. Warum ist aber Palästina seit zwei Jahren „verstopft”?

Das Jahr 1925 war ein Jahr der furchtbaren Wirtschaftskrise der polnischen Republik gewesen. Wie überall, hatten auch hier die Juden unter der Wirtschaftskrise am meisten zu leiden. In der Not griffen Zehntaufende von ihnen zum Wanderstab.   Einwanderungsmöglichkeiten in andere Länder gab es damals und gibt es auch heute fast nicht. Da zog sich der Wanderstrom wahllos nach Palästina. Bis zu diesem Zeitpunkt bestand der größte Teil der Palästinawanderer aus jungen Menschen („Chaluzim“— Pioniere), die sich Jahre hindurch auf Palästina beruflich und geistig vorbereitet hatten. Die Seßhaftmachung der Eingewanderten konnte deshalb ziemlich glatt vonstatten gehen. Die Masseneinwanderung aus Polen aber bestand zum großen Teil aus Elementen, die für Palästina überhaupt nicht oder nur sehr mangelhaft vorbereitet waren. Die plötzliche zahlenmäßige Steigerung der Einwanderung allein müßte, bei dem jetzigen Entwicklungsstadium Palästinas, naturgemäß große Schwierigkeiten bereiten, die Qualität der Eingewanderten erhöhte diese Schwierigkeiten noch bedeutend. Aber man wäre dieser Schwierigkeiten vielleicht dennoch Herr geworden, wenn nicht die Klassengegensätze innerhalb des Zionismus hineingespielt hätten.

Die Einwanderung der „Chaluzim“ führte zur Entfaltung eines großen Netzes von gemeinwirtschaftlichen Siedlungen, von Konsum- und Produktionsgenossenschaften. Die Arbeiterschaft war und ist auch heute noch der bedeutendste Machtfaktor unter den Juden Palästinas. […] Diese mächtige Position der Arbeiterschaft ist natürlich ein Dorn im Auge des bürgerlichen Zionismus. Seine Anhänger spähten lange nach einer Gelegenheit, um das stete Wachsen der Macht und des Einflusses der Arbeiterschaft aufzuhalten. AIs nun die Masseneinwanderung aus Polen zahlreiche Angehörige des Mittelstandes nach Palästina brachte, hielten die bürgerlichen Zionisten den Moment für geeignet, diese Einwanderung gegen die Arbeiter auszuspielen. […] Die Arbeiterschaft erhob ihre warnende Stimme. Sie wies darauf hin, daß in Palästina nur eine Einwanderung, die neue Möglichkeiten produktiven Schaffens erschließt, im Lande Fuß fassen könne. Sie wies nach, daß diese Einwanderer als einzelne über zu geringe Kapitalien verfügen, um als Arbeitgeber Dauerndes schaffen zu können, und daß sie als Händler und Vermittler im Lande keine Existenzmöglichkeit haben. Die Arbeiterschaft forderte, daß man die Einwanderer organisatorisch erfasse und sie produktiven Beschäftigungen zuführe.

Aber die Mehrheit der zionistischen Bewegung segelte unter der arbeiterfeindlichen Flagge. Sie war von der Hoffnung auf baldiger Überwindung des Systems der Gemeinwirtschaft, auf die Erschütterung der Position der Arbeiterschaft geblendet und sah die nacken Tatsachen nicht. Die eingewanderten Juden des Jahres 1925 gingen nun daran, in Palästina, hauptsächlich in Tel Awiw, ihre alte Beschäftigung aufzunehmen. Kramladen schossen wie Pilze aus dem Boden, die // Spekulation feierte Orgien, Die junge, noch unentwickelte Wirtschaft Palästinas konnte das nicht lange tragen. Da krachten die „Positionen“ des neuen Mittelstandes wie Kartenhäuschen zusammen. Da bei einem solchen Rückschlag die Arbeiterschaft durch Arbeitslosigkeit die größten Leiden und Entbehrungen ertragen muß, dürfte ja uns in Österreich nicht neu sein.

Die Kurzsichtigkeit des größten Teiles der zionistischen Bewegung, hervorgerufen durch den engherzigen Klassenegoismus des zionistischen Bürgertums, hat die schwere Wirtschaftskrise in Palästina, wenn nicht heraufbeschworen, so doch zumindest verhindert, ihr die Spitze zu brechen. Wir sehen also auch hier, was wir schon oft bei anderen Völkern feststellen konnten: der Klassenegoismus des Bürgertums gefährdet ein wichtiges nationales Werk.

Das ist das tiefste Wesen der Wirtschaftskrise in Palästina, die übrigens ihren Höhepunkt längst überschritten hat (in Jerusalem, Chaifa und Afulle konnte bereits an Stelle der Arbeitslosenunterstützung für alle Arbeitsuchenden Arbeit beschafft werden. In Tel Awiw ist die Arbeitslosigkeit im Abnehmen begriffen und macht einer steten Besserung Platz). Diese Wirtschaftskrise in Palästina kann doch nicht als Krise des Zionismus bezeichnet werden.

[…]

Wie beurteilt die Arbeiterschaft diese Angelegenheit?

Es gab stets und es gibt auch jetzt noch in allen Ländern nicht nur einzelne, sondern organisierte Kreise von Juden, die sich der zionistischen Bewegung aus verschiedenen Gründen nicht anschließen, aber dennoch den Palästinaaufbau aufrichtig fördern. Das gilt übrigens nicht bloß vom jüdischen Bürgertum, sondern auch von der jüdischen Arbeiterschaft. In Amerika wird zum Beispiel alljährlich eine Aktion der jüdischen Gewerkschaften für die Institutionen der jüdischen Arbeiterschaft Palästinas durchgeführt. Diese Aktion, die eine ständige Einrichtung geworden ist, erstreckt sich auf jüdische Arbeiter, die keiner zionistischen Arbeiterorganisation angehören. Nun glaubt Weizmann jene Kreise des Judentums, insbesondere in Amerika, die für das Palästinaaufbauwerk zu gewinnen  wären, durch ihre Teilnahme an der „Jüdischen Agentur” dauernd an das Aufbaumwerk zu

fesseln, um größere Geldmittel für Palästina aufbringen zu können. Durch die Teilnahme von nichtzionistischen Kreisen an der „Jüdischen Agentur” erhofft sich// auch Weizmann eine Stärkung ihrer Autorität der Mandatarmacht gegenüber. Von einer Kapitulation der zionistischen Idee vor dem Dollar ist zumindest verfrüht zu sprechen, denn schließlich weiß man ja noch nicht, welche Pläne jene Nichtzionisten Amerikas hegen.

Und gerade die Arbeiterschaft, die stets bemüht ist, sich von Illusionen fernzuhalten, beurteilt den Plan der Erweiterung der „Jüdischen Agentur“ nüchtern, denn schließlich wird selbst ein Marshal (ein Vertreter der Nichtzionisten Amerikas) der jüdischen Arbeiterschaft kein größerer Gegner sein als zum Beispiel die orthodoxen Zionisten (Misrachi) und Herr Jabotinsky selbst, der ein so erbitterter Gegner der „Jüdischen Agentur“ ist. Die Arbeiterschaft kämpft für die Demokratisierung der „Jüdischen Agentur“, für die Heranziehung der proletarischen Organisationen zu dieser Institution, aber sie erblickt hierin absolut keine Liquidierung des Zionismus, keine Kapitulation vor dem amerikanischen Dollar. Wenn nun Hannak glaubt, feststellen zu dürfen, daß all die Mühe der Arbeiterpioniere, ihre schweren Opfer vergeblich waren, da die Spekulation, der Wucher alles zerstampft hat, müssen wir ihn schon fragen, woher er diese verteufelt schwarze Brille hat?

Die hundert jüdischen kleinwirtschaftlichen Siedlungen in Palästina stehen unerschüttert da. Die Zahl der Arbeitersiedlungen hat sich im Ietzten Jahre sogar vermehrt. Einige Arbeitersiedlungen find bereits in der Lage, sich selbst zu erhalten und Darlehen zurückzuerstatten. Ein weiterer Teil der Arbeitersiedlungen wird in den nächsten zwei Jahren diesen Zuftand erreicht haben. Die berufliche Gliederung der Juden Palästinas ift gesund.

[…]

Diese Umschichtung, die sich in Palästina vollzog, wird es bedeutend erleichtern, die Episode der wilden „Einwanderungsinflation“ zu überwinden. Ein Teil der Eingewanderten hat wohl das Land enttäuscht verlassen, die Auswanderung jener Elemente, die sich den Arbeits- und Lebensverhältnissen in Palästina nicht anpassen können, wird noch einige Zeit anhalten. Aber ein nicht unbeträchtlicher Teil ist im Lande geblieben und macht die größten Anstrengungen, um produktive Arbeit zu leisten. Die jüdische Arbeiterschaft Palästinas hat gerade in den Jahren der schweren Krise bewiesen, daß ihr Glaube an das Gelingen des Aufbaues unerschüttert ist. In allen Ländern der jüdischen Diaspora warten zehntaufende jüdischer Arbeiterpioniere auf die Möglichkeit, ihren Kampfgenossen in Palästina beim Aufbau der Heimstätte der jüdischen Arbeit helfen zu können. Genügen diese Tatsachen nicht, um den Pessimismus denkender Sozialisten zu zerstreuen?

In: Der Kampf, H. 12/1927, S. 574-580.

Viktor Silberer: Semmering-Rekord (1921)

(Erstabdruck: Wiener Volkszeitung)

Wenn man nur die Zahl der Besucher und das von ihnen verausgabte Geld in Betracht zieht, so kann der Semmering heuer eine Wintersaison, die alles bei weitem übertrifft, was dort jemals vorher an Masssnbesuch und Aufwand zu verzeich­nen war. Das Stammpublikum der Vorkriegszeit aber ist vom weiterem Besuche des ihm einst so lieb gewesenen, herrlichen Ortes ganz ausgeschlossen. Was nun an Großschiebern und sonstigen neuen Reichen in Wien in den teuersten Nachtlokalen in tollster Verschwendung praßt, bevölkert derzeit den Semmering, und treibt es dort womöglich noch ärger als in der Stadt. Dabei sind zwei Merkmale dieser Gesellschaft von heute zu verzeichnen. Erstens, daß es unter ihr fast gar keine alten Leute gibt und zweitens die bis zur Verrücktheit entwickelte Tanzwut. Woher alle die Burschen das viele Geld haben, die hier, aller­dings nur soweit es sich um die leichte Hand im Geldausgeben handelt, als Grandseigneurs auf­treten oder die indischen Nabobs spielen, bildet ein großes Rätsel. Aber gewiß ist, daß das viele Geld da ist und in leichtsinniger Weise vergeudet wird.

Zur Charakteristik eine kleine Episode: Ein soeben angekommenes Paar betritt die Halle des Hotels und wird vom „Chef de reception“ empfangen stets wohlgelitten. Beide in kostbarste Pelze gehüllt. „Zim­mer,“ sagt kurz der Jüngling. — „Haben bitte eines bestell!“ fragt der Chef. — „Nein,“ war die Antwort. — „Ja bitte, da kann ich dann nicht dienen: denn was noch nicht besetzt ist, ist alles längst schon bestellt!“— „Machen S‘ keine G‘schichten, sperr‘n S‘ uns ein schickes Zimmer auf, da haben Sie zehntausend Kronen!“

Das Tanzen hat den Charakter einer Seuche angenommen. Es wird, nicht etwa zu einer bestimmten Stunde, im ausgeräumten Speisesaal oder in der Halle täglich abends getanzt, sondern es gibt dafür weder mehr eine Orts- noch eine Zeitbestimmung. Man tanzt vielmehr jederzeit und überall; schon gleich nach dem Frühstück, noch vor dem Essen, nach dem Essen, bei der Jause, vor und nach dem Abendmahl, bis das letzte Licht erlischt, in allen möglichen Räumen, Gänge nicht ausgenommen! Dabei wird neben aller anderer Verschwendung auch ein enormer Luxus mit frischen Blumen getrieben. Die kleinste Nelke kostet 40 K, eine Chrysanthemeblüte 50 bis 100 K, eine Orchidee aber wird mit zweihundert bis fünfhundert Kronen das Stück bezahlt und diese Blu­men schmücken nicht nur die Frisuren der Damen und stecken in den Knopflöcherm der Smokings der Herrren, sondern es wird dann, im Höhepunkt des Vergnügens und der Freude am schönen Leben in der neuen Zeit, gegenseitig damit geworfen.

Im sterbenden Wien aber gehen zur gleichen Zeit Hunderttausende, darunter auch viele ehedem bemittelte, ja selbst sehr wohlhabende Leute, wegen Mangels einer ausreichenden Ernährung in aller Stille der völligen Entkräftung und damit einem langsamen Hungertode entgegen. Leben doch auch Tausende von Familien, die früher sehr gut situiert waren, ja zu den Reichen zählten, schon seit längerem nur mehr vom Verkaufen besseren Hausrats.

In: Prager Tagblatt, 20.1.1921, S. 2.

Hugo Steiner: Palästina und die Judenfrage. (1929)

Der nachstehende Artikel legt den Standpunkt der sozialistisch-zionistischen Arbeiter dar.

Angesichts der blutigen Vorgänge in Palästina, die wie ein Blitz in dunkler Nacht die Lage des jüdischen Volkes aufgezeigt haben, die vielleicht vielen sagen, daß Ahasver, der ewige Jude, noch nicht zur Ruhe gekommen ist, wurde überall viel über Palästina geschrieben. Aber die Palästinafrage kann nur im Zusammenhang mit der Judenfrage verstanden und erklärt werden. Erst dann wird klar werden, warum der jüdische Arbeiter nach Palästina und nur nach Palästina wandert, um dort aus dem heißen sandigen Boden die jüdische Heimstätte zu schaffen. Und nur die Kenntnis dieser Ideologie läßt die Taten und Opfer der jüdischen Arbeiterschaft verstehen und begreifen.

Der Zionismus der Chaluzim, der jüdischen Arbeiterpioniere, es geht von der Tatsache des jüdischen Lebens aus. Die wirtschaftliche Grundlage des jüdischen Lebens liegt in seiner Exterritorialität. Diese drückt sich darin aus, daß die Juden nirgends in die Grundpfeiler der Wirtschaft eingedrungen sind, daß sie überall nur in gewissen Teilen der Wirtschaft tätig sind. Der Typus des Juden in Polen und Amerika ist der proletarisierte jüdische Kleinbürger. Er lebt wie der ärmste Proletarier, fühlt sich aber nicht als solcher. Daneben gibt es das jüdische Proletariat: es trägt den gelben Fleck der Exterritorialität auf seinem Arbeitsgewand. Der jüdische Proletarier kämpft seinen Kampf nicht in den weiten Hallen der Fabrik, er hungert und darbt in den Schwitzhöhlen von Neuyork und Warschau. Das jüdische Proletariat kämpft seinen Klassenkampf nicht gegen das Großkapital, es kämpft gegen kleine Meister, die selbst nichts zu beißen haben. Der jüdische Arbeiter arbeitet in den Zweigen der Wirtschaft, die für die Wirtschaftslage des betreffenden Landes geringe Bedeutung haben, und daher ist auch die Entwicklung der jüdischen Arbeiterbewegung von vornherein durch objektive Bedingungen gehemmt. In ziellosem Radikalismus zu unfruchtbaren Kämpfen verurteilt, siecht das jüdische Proletariat dahin.

Das jüdische Kleinbürgertum, das sich wirtschaftlich in fast gleicher Situation wie das Proletariat befindet, unterscheidet sich von ihm nur durch das Bewußtsein. Innerhalb dieser Mehrheit des jüdischen Volkes gehen nun einige Prozesse vor sich: Produktivisierung und Wanderung. Die Söhne der jüdischen Händler wollen nicht mehr Händler werden, ihr Streben geht dahin, schaffende, arbeitende Menschen zu werden. Dieser gewaltige innere Umschichtungsprozeß, der dem jüdischen Proletarier die Grundlage seines Kampfes ändert, der die Nadel, das Symbol der jüdischen Arbeit von gestern, zum Hammer des jüdischen Arbeiters in Palästina wandelt, dieser Umwandlungsprozeß verbindet sich mit der zweiten großen Frage der jüdischen Massen, mit der Wanderung zu einer sozialen Bewegung: zur Chaluzbewegung.

Bestimmend für die Ideologie der Chaluzim ist der Umstand, daß hier Städter zu Bauern werden. Die Höhe der städtischen Kultur verbindet sich mit der Arbeit an Grund und Boden. Nur so ist die hohe gesellschaftliche Einstellung der jüdischen Arbeiterschaft in Palästina zu verstehen. Dies sind die objektiven materiellen Grundlagen der Chaluzbewegung. Das subjektive Wollen der Chaluzim, die sich jahrelang für Palästina vorbereiten, ist gerichtet auf eine freie, arbeitende Gesellschaft in Palästina. In Palästina erst kann der jüdische Arbeiter seinen Klassenkampf erfolgreich führen, denn hier ist der jüdische Proletarier in der Wirtschaft verwurzelt, hier baut er sich sein eigenes Land auf. Nur Palästina ist das Land, in dem sich das jüdische Proletariat emanzipieren kann. Ohne Palästina gibt es kein klassenbewußtes jüdisches Proletariat. Will das jüdische Volk aus seinem Volk von Händlern ein schaffendes Volk von Arbeitern werden, dann führt der Weg nur durch Palästina. Und es ist im Interesse des internationalen Proletariats, daß die Juden aufhören, Händler zu sein, daß sich die jüdischen Massen einreihen in die Scharen der internationalen Arbeiterschaft.

Nun zu Palästina. Es ist ein Land, das noch fast vollkommen unerschlossen ist. Was es an positiven wirtschaftlichen Werten in Palästina gibt, haben jüdische Arbeiter geschaffen. Was die arabischen Arbeiter an Erfolgen zu verzeichnen haben, konnten sie nur mit Hilfe der jüdischen Arbeiterschaft im Lande erringen. Der geringe Teil des Bodens, der urbar gemacht wurde, ist Eigentum der Essendis, der arabischen Großgrundbesitzer. Die palästinische Wirtschaft ist eine Feudalwirtschaft. Die einwandernden Juden beginnen das Land zu kapitalisieren und zu sozialisieren. Der Kampf, der jetzt in Palästina tobt, ist der Kampf der Feudalwirtschaft gegen die neuzeitliche Wirtschaft. Die Drahtzieher der Kämpfe, die arabischen Adeligen, wissen genau, daß das Eindringen der Juden in Palästina gleichbedeutend ist mit dem Untergang der feudalen Ordnung. Und so wie im Mittelalter in Europa alle Wirtschaftskämpfe im Gewand von Religionskämpfen ausgefochten wurden, so kämpfen die Araber unter der grünen Fahne des Propheten. Darum aber ist der Kampf in Palästina nicht der Befreiungskampf des arabischen Volkes gegen britischen Imperialismus, denn nicht ein arabisches Bürgertum – das es noch gar nicht gibt – drängt nach wirtschaftlicher Freiheit, sondern arabische Fürsten wollen die alte Ordnung gegen die Neuzeit, deren Träger die Juden sind, verteidigen. Der Kampf in Palästina ist der Kampf des Mittelalters gegen die Neuzeit.

Aber noch mehr: die Träger der jüdischen Aufbauarbeit ist die organisierte jüdische Arbeiterschaft. Der überwiegende Teil der Juden in Palästina sind organisierte Arbeiter. Dort, wo die Arbeiterklasse die Macht hat, ist die Wirtschaftsform nicht mehr eine kapitalistische, sie ist eine planmäßig sozialistische. Keineswegs soll geleugnet werden,, daß es viele Kräfte im Zionismus gibt, die gegen die Arbeiterwirtschaften Sturm laufen, aber die Praxis hat gezeigt, daß der Aufbau Palästinas abhängt von der Kraft der organisierten Arbeiterschaft in Palästina. Palästina steht und fällt mit der organisierten jüdischen Arbeiterschaft ebenso wie der Zionismus nur bestehen kann durch die Kraft der jüdischen Arbeiter.

Zweitausend Jahre wandert das jüdische Volk, sein Weg ist gekennzeichnet durch Blut und Jammer. In Palästina kämpfen Tausende jüdische Arbeiter um ihr Recht auf Arbeit und Brot.                                          

In: Arbeiter-Zeitung, 2.9.1929, S. 1-2.

Erwin Rieger: Wie meine österreichische Anthologie entstand. (1931)

             Kaum etwas mehr als ein halbes Jahr ist nun vergangen, da erhielt ich eines Tages von Josef Würth, dem Besitzer des Darmstädter Verlages, der mit seiner Handpresse schon eine Reihe schöner Bücher hergestellt hat, einen langen Schreibebrief, in dem er mir einen nicht von der Hand zu weisenden Vorschlag machte. „Schon seit langem beabsichtige ich, die Fülle junger, wertvoller Erzeugnisse Österreichs in einem Sammelwerke zu vereinigen,“ hieß es da, „doch scheiterte dieser Plan immer an der Kenntnis der Persönlichkeit, die diese Arbeit geschmackvoll und sachkundig auszuführen imstande wäre und zugleich das Vertrauen der Autoren besäße. Sehr oft liegen mir Manuskripte vor, die unbedingt festgehalten zu werden verdienen. Dies und die Tatsache, daß ich glaube, in Ihnen eine Persönlichkeit gefunden zu haben, um einem solchen Projekt gerecht zu werden, ist es, was mich veranläßt, an Sie die Anfrage zu richten, ob Sie bereit wären, die Herausgabe einer lyrischen Anthologie zu übernehmen.“ Dieser Antrag war schmeichelhaft. Er kam überdies, wie mir dünkte einem sehr lebhaften Bedürfnis unsrer jüngeren Autoren entgegen. Wie für kaum einen andern Künstler ist unsre harte Zeit so unerbittlich wie für den lyrischen Dichter. Schwerer wird es ihm als jedem andern, für das, was er zu sagen hat, den tauglichen Ort zu finden.

             Die Aufgabe schien somit recht verlockend, und in großen Umrissen stand denn auch bald der Plan fest. Vor allem galt es, den Dichtern meiner eigenen Generation zu helfen, jenen, welchen der Krieg das Dasein mittendurch auseinandergebrochen hatte und die heute an der Schwelle der Vierzig stehen. Dann aber schien die Gelegenheit höchst erfreulich, den Jüngeren, den nach uns Heraufkommenden, einen Dienst zu leisten. Mit einigen Freunden wurde in aller Eile eine Liste zusammengestellt und ein Rundbreif an die in Frage kommenden Dichter ausgesendet.

             Nicht ganz leichten Sinnes geschah das nun aber freilich, denn so gut wie nichts ließ sich den Aufgeforderten an materieller Gegenleistung bieten, und kaum jemals zuvor ist die Kunst nach Brot gegangen wie heutzutage. Dazu kam noch in diesem besonderen Falle, daß auch innerhalb der Dichtung heute vielfach die leidigsten, nämlich die politischen Gesichtspunkte gelten. Auch die Dichter tragen die verschiedenen politischen Modefarben, und so mancher Pegasus beugt sich, mehr der Not als dem eigenen Triebe gehorchend, unter das Joch dieser oder jener Partei.

             Die Antworten, die auf meinen Rundbrief einliefen, zerstreuten aber alsbald solche und andre Sorgen. Diese Antworten waren fast ausnahmslos positiv. Sie erfüllten mich mit Stolz und Freude. Bald war fast das ganze jüngere und junge Österreich da. Nun aber galt es, in diesen Kreis der Autoren auch jene einzubeziehen, deren Dichterruhm längst anerkannt und wohlbegründet ist. So wurden in allerletzter Stunde neben einigen andern noch Franz Karl Ginzkey, Max Mell, Richard v. Schaukal, Franz Werfel, Anton Wildgans und Stefan Zweig gebeten. Auch sie sagten sämtlich in selbstloser Weise zu.

             Als dann die Bücher, die Manuskripte kamen, mit der Erlaubnis, daraus zu wählen, da galt es freilich nicht, diese Anerkannten neu zu entdecken, Längst schon inst mir, wie vielen andern, der tiefe Herzenston eines Felix Braun so lieb wie vertraut. Längst schon schätzen wir an Kurt Frieberger, der sich’s, wenn er nur wollte, sehr leicht machen könnte, das ernste Ringen um eine strenge, sachliche Form. Längst wissen wir darum, daß sich hinter Alexander Lernet-Holenias virtuosen stilistischen Kapriolen ein großer lyrischer Gestalter lächelnd verbirgt. Längst steht fest, daß Friedrich Schreyvogl sich gerade im Gedicht von seiner reinsten künstlerischen Seite zeigt. Und wenn zu wenige bisher von dem hymnisch-dithyrambischen Impetus Joseph Gregors ergriffen wurden, so liegt das eben weit mehr an der Ungunst der Zeit, als an ihm und an ihnen.

             Dann aber kamen die Überraschungen, und sie bewiesen mir, daß ich im Grunde, gegen die Annahme des Verlegers, wohl doch nicht ganz der Richtige war, um gerade diese Arbeit zu leisten. Denn ich hatte mich – ich bekenne es – in den letzten Jahren vielleicht allzusehr in fremden Literaturen umgetan und wie einer, der das Gute mit Vorliebe in der Ferne sucht, die Heimat und ihre Kunst über Gebühr beiseite gelassen. Freilich, dieses plötzliche, freudige Gewahrwerden des Vielen, das immer noch vorhanden ist und nachkommt, hatte persönlich etwas geradezu Beglückendes für mich. Da waren Fritz Brügels höchst melodische Verse, aus denen ich unter anderm das betörende „Regenlied“ wählen durfte. Da war Oskar Jellinek, der sehr stark sozial fühlt, ohne sich jedoch dabei zu überschreien, und auch als Lyriker die hohe, lautere Form findet, die an seinen Meistenovellen entzückt. Da war Theodor Kramer, in dessen Gedichten ein so herber wie süßer Saft des Lebens pulst, und, in Kramers geistiger Nachfolge, Edmund Finke. Da war Konrad Paulis – den Lesern dieses Blattes seit langem wohlbekannt –, Vertreter des Bürgerlichen in einer edlen Art und mit einem Humor begabt, der auch in dem talentierten Ernst Scheibelreiter auf einer ganz anderen Ebene wiederkehrt und hier zuweilen einen Zug aus dem scheinbar Alltäglichen in das Dämonische aufweist. Da war Ernst Waldinger, noch fast gänzlich übersehen und in seinen Zeitgedichten vielleicht unbewußt an keinen Geringeren als an Verhaeren anknüpfend; und da war sein Gegenspiel, Josef Weinheber, wohl der größte Künstler unter ihnen allen, in seinem unbedingten Streben nach dem absoluten lyrischen Thema und dessen klassischem Ausdruck. Da waren Johannes Lindner und Guido Zernatto, ganz erdnah, wie Bäume emporgewachsen aus der bäuerischen Scholle. Und da war schließlich eine Frau, die geniale Lene // Lahr, die so tief weiblich empfindet, dabei jedoch ungemein klar zu analysieren vermag.

             Die Monate sind vergangen, und nun ist das Buch vollendet. Schön gedruckt und geschmackvoll gebunden liegt es in meiner Hand, und ich gedenke lächelnd aller kleinen und größeren Plänkeleien, die es auszufechten galt, um dieses Schock Lyriker gleichsam unter einen Hut zu bringen. Denn kaum ahnst du wohl, geneigter Leser, daß sich mit gar manchem unter ihnen nicht ganz so leicht Kirschen essen ließ, wie auf den ersten Blick in diese Seiten nun wohl scheinen mag. Denn gar manche unter ihnen sind nicht nur, wie sich’s für Lyriker nun einmal ziemt, recht sensitive, sondern ein wenig allzu nervöse Leute. Ja, man macht sich mit einem solchen Experiment nur Feinde, und nicht zuletzt unter jenen, die aus aus irgendeinem Grund nicht aufgefordert oder nicht gebracht werden konnten… Auch diese „Selbstanzeige“ – ich weiß es – ist eine schwere, eine gefährliche Unvorsichtigkeit. Habe ich denn in diesen Zeilen jeden meiner Mitarbeiter nach Gebühr herausgestrichen oder auch nur genannt? Schaudernd überfliege ich nochmals die Namenliste. O Gott! Viele fehlen immer noch von meinen Sechzig (und es sind auch sehr nahe Freunde darunter): Erhard Buschbeck, Csokor, Max Fleischer, Siegfried Freiberg, Rudolf Henz, Rudolf Jeremias Kreuz, Hans Nüchtern, Sonka, Heinrich Suso Waldeck, Paul Wertheimer und Alma Johanna Koenig… Etliche andre noch!

             Aber nun kommt es ja gar nicht mehr auf diese kleinen Dinge zwischen mir und ihnen an. Nun hat nur noch der Leser das Wort, und es gilt nur der eine Wunsch: daß es ihm bei der Lektüre ähnlich ergehen möge wie mir, als das Buch entstand, daß er ein ähnliches Staunen erleben möge vor der herrlichen Fülle dessen, was uns in diesen Tagen der Not im Bereiche des Geistes immer noch verbleibt.

             Möge denn diese „Anthologie österreichischer Lyrik“ den Beweis dafür erbringen, daß auch in dem neuen kleinen Vaterlande die überkommene Gabe immer noch sich entfaltet, blüht und fruchtet!

In: Neues Wiener Tagblatt, 16.12.1931, S. 2-3.

Edwin Rollett: Der Heimatdichter und sein Erfolg. (1929)

Zu J. C. Heers 70. Geburtstag.

             Eine Betrachtung der schriftstellerischen Persönlichkeit J. C. Heers rollt zweierlei Probleme auf. – Und jede Betrachtung eines nicht in der ersten Reihe der Literatur stehenden Schriftstellers vier Jahre nach seinem Tod kann, wenn sie nicht rein philosophisch ist, nur durch die Bedeutung der an ihn gebundenen und in ihm ausgedrückten allgemeinen Fragen und Probleme gerechtfertigt werden, ja wird wohl geradezu nur durch sie veranlaßt und um ihretwillen angestellt. – Sich mit J.C. Heer beschäftigen, heißt mit anderen Worten die Frage der Heimatliteratur aufwerfen, Sinn, Grund, Bedeutung von Stoff, Gegenstand, Hintergrund und Milieu des Romans beleuchten, es heißt aber auch, und das kaum weniger, der Psychologie des Erfolges der schriftstellerischen Publikumswirkung, dem Magnetismus des Romans nachzuspüren, wobei gleich gesagt sein soll, daß zwischen diesen beiden Fragen ein gewisser Zusammenhang besteht.

             Es ist ein Ästhetenmärchen, ein ausgesprochener Aberglaube, daß der Gegenstand des Romans Nebensache ist. Gewiß kann eine geniale Künstlerhand jeden ihr gemäßen Stoff zum Gegenstand formen, kann auf der Entdeckungsfahrt in die Füße des Lebens Gebiete entdecken, deren Vorhandensein bisher als belanglos ignoriert wurde. Das Findergenie des großen Erzählers fährt ja mit jedem wirklich künstlerischen Roman derart die Columbus-Reise über den westlichen Ozean nach Ostindien und erschließt einen neuen Erdteil. Was neben den Genialen und nach ihnen segelt, das lebt aber nicht durch die Tatsache der Entdeckung, sondern von den gewonnenen Kolonialprodukten, nicht durch die Genialität der erstmaligen Tat, sondern durch die Tüchtigkeit der Verwertung des Gefundenen.

             Columbusnaturen waren, um auf dem Gebiet der Heimatkunst zu bleiben, unbedingt etwa die Geschwister Brentano, das war im anderen Sinn Fritz Reute, war auch Rosegger, der anfangs seine Entdeckung nicht einmal einzugestehen wagte, und seinen Waldschulmeister irgend wohin nach Tirol verlegte, weil ihm seine Fischbacher Alpen und Mürztaler Berge zu unansehnlich, zu unbekannt erschienen, und er meinte, einen populären Namen als Vorspann benützen zu müssen. Columbusnaturen waren in der Schweiz ganz besonders Jeremias Gotthelf und Gottfried Keller, der Berner Bauer und der Züricher Bürger, die jeder selbst Ergebnis und Träger der Kräfte ihrer schweizerischen Heimat, mit dem Selbstbewußtsein der Söhne eines jahrhundertelang republikanischen Stammes, dessen Eigenart ohne Beschönigung und ohne Beschränkung einbekannten, darstellten, künstlerisch ausformten, so kräftig und überwältigend, daß Schweizertum und Schweizer Volk literarische Mode wurden.

             Auf solchen Fundamenten baute die Schweizer Heimatkunst am Jahrhundertende weiter, begünstigt durch den realistisch naturalistischen Zug, der zu jener Zeit die gesamte europäische Literatur beherrschte und allenthalben dazu verleitete, gewissenhafte Ortsangaben und Zeitbestimmungen durch detaillierte, spezialisierte Schilderung, durch Nachzeichnung wohlbekannter und vertrauter Charaktere zu ergänzen, begünstigt endlich durch die geläufig gewordene Popularität Kellers, begünstigt endlich durch den zunehmenden Fremdenverkehr, der jeden schweizerischen Heimatroman für so viele nicht nur zu einer durch die dargestellten Ereignisse, Schicksale und Stimmungen anregenden, sondern durch Landschaft und Milieu an Sommerfrische, Bergpartie und Erholung erinnernden, also von vornherein angenehm und willkommenen Lektüre machte, weil es sich darin doch um die bekannten Schweizer Berge und Schweizer Herzen handelt.

             So ungefähr stellte sich die literarische Konjunkturlage dar, als der Winterthurer Bauernsohn, spätere Volksschullehrer und damalige Feuilletonredakteur der Neuen Zürcher Zeitung mit seinem Erstling hervortrat, und was an Material, an Elementen und Ingredienzien zu einem guten Heimatroman nötig ist, das war in // diesen „Heiligen Wassern“ schon reichlich enthalten: das Bauerntum mit echtem Erdgeruch bieder (manchmal bis zur Borniertheit), fromm (oft bis zum Aberglauben), naturhaft (selbst bis zur Unmenschlichkeit) und bodenständig (bis zur erbitterten Feindschaft gegen Besserung des Lebens).  Dieses Bauerntum wurzelt ausschließlich und unausreißbar angeklammert in seinem Boden, auch wenn er furchtbar mit ihm umgeht, auch wenn die Heimat zum Fluch wird und ihre Kinder einem Blutbann unterwirft, wie der, der dem Dorf Sankt Peter, hoch oben an der Gletschergrenze, von Zeit zu Zeit immer wieder ein oder ein paar Menschenopfer ab­fordert, ähnlich dem Lindwurm, der den Städten der Sage solchen Tribut auferlegt hatte. Das Bauerntum der Berge also mit all seinen Müh­salen und Schwierigkeiten ist sozusagen das Rück­grat seiner Romane, jenes harte Bauerntum, das im Sommerfrischler ein so wohltuendes Gruseln erzeugen kann. Daneben Landschaft, sehr viel Landschaft. Darin war Heer ja seit jeher groß, man kann sagen, als Meister vom Himmel gefallen. Durch seine Fähigkeit, eine Landschaft in ihrer Eigenart, ihrem Reiz, ihrem speziellen Charakter zu erfassen und das Erfaßte in Worten festzuhalten, hatte er zu allererst auf sich aufmerksam gemacht. Als der Reisende in den Adriagegenden und als Schilderer von Ballonfahrten und den dort gewonnenen Ein­drücken, als der Beschreiber der Landschaft aus der Vogelschau war er bekannt geworden. Das alles ist mit großer Solidität und ausgesprochener Tüchtigkeit, ohne Extravaganz, allerdings auch ohne besonderen Schwung in diesen Roman gegeben und schließlich fehlt auch noch der Fremdenverkehr nicht, der Schutzpatron der ganzen schriftstellerischen Richtung, der dem Alpental sogar gegen dessen Wunsch neue, frische Impulse und endlich doch eine Lebensverbesserung zuführt.

Es ist wie ein Rezept, wonach der erste, wonach aber auch so ziemlich alle anderen seiner Romane gebaut sind, selbst sein nachdrücklichster Erfolg Joggeli und sein ausgebreitetster Der Wetterwart. Das Handwerkliche steht im Vordergrund und auch damit ist Heer der typische Vertreter der ganzen Heimatdichter.

Nicht nur ihrer Abstammung nach, die sich ja von bahnbrechenden Genialitäten herleitet, sondern ebenso in ihrer Wirkung ist diese Heimatskunst aber eine gute, löbliche und gesunde Erscheinung, mag sie auch oft in allzu weitgehender Überschätzung des Stoffes diesen zum Selbstzweck erheben und schwel­gerisch in ihm verweilen, mag sie auch mitunter das persönliche Interesse des Autors und das erhoffte des Lesers durch übertriebenes Entgegenkommen auszeichnen. Eine gewisse, wenn auch beschränkte Garantie gegen die Gefahr allzu papierenen Literatentums liegt doch in ihr. Hie Kaffeehaus – hie Sommerwohnung! So stellt sich der literarische Antagonismus von Stadt und Land, genauer besehen, dar, so kann man (auch heute noch) das deutsche Schrifttum halbieren, soweit nicht die ganze dünne Schicht in Frage steht, die wirklich Kunst zu schaffen vermag. Und es ist eine Angelegenheit des Geschmacks, nach welcher Seite man sich schlagen will.

Das deutsche Lesepublikum hat seine Entscheidung getroffen: die psychologische Konstruktion der Kaffeehausliteratur bucht manchen Sensationserfolg für sich. Sie lockt mit den Mitteln des Unbekannten, des Seltsamen, des Pathologischen, des Abenteuers, das sich freilich hier meist nicht in geographisch, viel­ mehr in psychologisch und sozial fremden Regionen vollzieht. Diese Fremde übt gewiß ihre Anziehungskraft. Aber dauerhafter, solider ist jener andere Magnetismus, der von der Assoziation des Be­kannten und Geläufigen, vom Wiederfinden eigener Stimmungen und Empfindungen ausgelöst wird. Er beherrscht jene sehr breite Sphäre, in der nicht der abenteuerliche Reiz (allerdings auch nicht die Adelung und Selbsterneuerung durch wahrhafte Kunst), sondern die gegenständige Solidität, die Bürgerlichkeit maßgebend sind. Dieser weit aus­gedehnte Kreis des deutschen Bürgerhauses sucht sich die zu ihm passenden Bücher.

Es ist Gebrauchsliteratur, die da gefordert wird, so wie man von Gebrauchslyrik oder Gebrauchsmusik spricht, eine Literatur, die alle Kultur-,// Sozial- und Religionsprobleme nicht in ihrer voller Wucht und Größe erfaßt, sondern in den Regionen des Unterhaltungsbedürfnisses verharren bleibt, die, soweit es sich um Heimatdichtung handelt, einer im Grunde genommen intellektualistischen Neigung huldigt, nach welcher sich die Wechselbeziehungen zwischen Volk und Kunst nicht als ein gewiß be­schränkter, aber  natürlicher Widerhall eines macht­vollen Klanges in mehr oder minder taubem Gestein vollziehen, nicht als das Spiegelbild eines Gipfels im See darstellen (wie es bei Keller war), einer Neigung vielmehr, die meint, über eine hier und dort auf der halben Höhe des Entgegenkommens gespannte Konzessionsbrücke den Wechselverkehr bequem vollziehen zu können. Es ist der Stand­punkt, des Sommerfrischlers, des unbeteiligten zufriedenen Beschauers, der hier ganz augenscheinlich dominiert.

Dieses deutsche Bürgerhaus aber beherrscht als der Hauptkäufer den Markt, trägt das Buch, macht seinen Erfolg und bestimmt das Geschäft von Autor und Verleger. Würde denn das Trommelfeuer der Verlagsprospekte, Annoncen und Affichen, würde der Ertrag der glänzenden Abonnentenspekulation, die sich Buchgemeinschaften nennt, würde die nahezu undurchdringliche, sicher unausrottbare Organisation der Freundschafts- und Gefälligkeitskritik auch nur halb den Umfang haben, wenn es anders wäre?

Nicht das Buch als geistige Kraft und  geistige Macht ist dabei zu betrachten, sondern das Buch in seiner kaufmännischen Realität, als Ware, deren Werk sich ausschließlich nach der Nachfrage, also nach einer, nicht durch die absoluten Maße der Idee, sondern durch das höchst subjektive Element der Bequemlichkeit bestimmten Skala richtet.

Das Bedürfnis der Käufer bestimmt die Art der Ware, Das leicht faßliche mußte über das ideentiefe Werk triumphieren, das bequem zugängliche über jedes eigenartige und originelle, das nur anschau­liche über das symbolische und gedankenstarke, das stofflich reiche über das gegenständlich hochwertige. Dabei ist ein gewisser nicht zu reichlicher ideeller Gehalt als Gewürz höchst willkommen. Zu viel Gewürz aber verdirbt den Braten. Ohne Theatralik der Aufmachung geht es auch nicht ab. Sie muß das ideelle Rückgrat vortäuschen, wo es fehlt, oder die Idylle so lange verkünden, bis sie geglaubt wird. Rein künstlerische Fragen treten in den Hintergrund. Die Gestaltung des lebendigen Sprachorganismus wird unwesentlich verglichen mit dem Gegenstand, der aus leicht zu bearbeitendem Sprachmaterial geformt wird. Daß auch die Literatur eine bildende Kunst sein muß, ist in Vergessenheit geraten.

Mit der Bevorzugung des. Gegenstandes. Hängt aber auch eine andere Erscheinung eng zusammen, die fast erfreulich scheinen möchte und als ein Zeichen der Gesundheit gelten darf: unter all den Büchern, die sich deutsche Heimatliteratur nennen, ist nicht ein einziges, das im Sinne bürgerlicher Sittlichkeit anstößig, das seiner Tendenz nach nicht gut zu heißen wäre. Mag man auch feinen menschlichen Wert noch so sehr in Zweifel ziehen, irgendwo glimmt in jedem Heimatdichter ein Funken echten Idealismus.‘

Nach all diesen Seiten hin kann I. C. Heer als Typus und Vertreter einer ganzen Richtung gelten, als der Dichter der deutschen Bürgerfamilie mit höheren Ambitionen. Das ist vom Standpunkt höchster Kunstkritik aus gesehen nicht eben viel. Das ist aber um so mehr, betrachtet man die Funktion des geschriebenen und gedruckten Wortes im Lebensganzen einer breiten Volksschichte. Es ist im wesent­lichen eine Lehreraufgabe, die zu bewältigen ist, um so schwieriger, als sie von den Belehrten nie bemerkt werden darf, auch undankbar, insofern kein ideeller Erfolg sichtbar wird. Es ist die Kleinarbeit des Zwischenhändlers der Kunst, der, in der Mitte des Weges vom Genie zum Banausen stehend, jedem, der beiden die Hand reichen möchte, ein Volksbildneramt, wie so viele andere, nur daß dabei etwas mehr Ertrag abfällt, bei dem es gar sehr auf die Menge des Gebotenen und die Menge der Aufnehmenden ankommt, damit nur irgend etwas vom Guten hängen bleibt.

In: Wiener Zeitung, 18.7.1929, S. 1-3.