Paul Hatvani: Hermann Broch. Die Schlafwandler. (1932)

                Mehr als jede andere Kunstform ist der Roman geeignet, den … „Stil“ der Zeit zu enthüllen; das epische Weltbild wird nachgerade zum Schema, dem wir unsere Welt-„Anschauung“ zugrunde legen… Gewiß ist zum Beispiel das Œuvre Thomas Manns ein geistiges Bildarchiv der bürgerlichen Welt im Zeitalter des Spätkapitalismus, und die psychische Revolution der letzten zwei Jahrzehnte ist in den Romanen des Marcel Proust und James Jyoce festgelegt. Unsere Epoche der Umwertung hat auch formal an den Roman gerührt; nicht mehr die kunstvoll aufgebaute „Handlung“ ist wesentlich, sondern die geistig-orientierte Durchleuchtung der Situation, die ins Denken gesteigerte Darstellung einer Wirklichkeit, aus der sittliche und künstlerische Erkenntnis quillt. Im Fieber des Expressionismus zeigten sich Ansätze zu dieser Wandlung; es sei hier an Carl Einsteins heute schon vergessenen Roman Bebuquin erinnert und an Sternheims Novellenzyklen. Der neue Stil im Roman ist aber eigentlich noch nicht da; wir ahnen seine Formen, wissen seine Ideen und erkennen bereits seine menschliche Sendung: das Weltbild dieser Gegenwart in eine deutbare Ordnung zu bringen… Das ganz außerordentliche Werk des Österreichers Hermann Broch, das in diesem Zusammenhange als bedeutsam genannt sei, heißt mit tieferem Bedacht Die Schlafwandler (Die Schlafwandler, drei Bänder, davon zwei bereits erschienen: 1888, Pasenow oder die Romantik und 1903, Esch oder die Anarchie, beide im Rhein-Verlag, München). Es wird hier mit ganz ungewohnter Sachlichkeit versucht, die Tragik des deutschen Menschen zu schildern; nicht immer nur das äußere, also das politische Geschehen wiedergeben zu können –, sondern in einer erschreckend-überwirklichen Nachzeichnung der Gedanken und Gefühle. Hier ist nichts Symbol und alles Symptom. Hier geht es nicht gegen die „herrschenden Klassen“ und gegen die Köpfe; hier handelt es sich um Hirn und Herzen. Die Vorstellungswelt des deutschen Volkes seit 1888 ist wiedergegeben, mit einer Sachlichkeit, die jedes politisches Vorurteil endgültig ausschließt. Die Erkenntnis, daß nicht das Wirken der Sichtbaren, der „Prominenten“, das Schicksal der Nation bestimmt, ist gewiß banal genug, um unerwähnt zu bleiben; wo aber wird das alltägliche Leben, so wie hier, in den Kreis der Entwicklung eingeschlossen, um mit mathematischer Präzision den Weg der Geschichte zu weisen? Hermann Brochs Roman hat nur ganz wenige Figuren und es geschehen die große Dinge – Tod, Liebe, Verbrechen, Entsagung – nur ganz nebenbei. Wesentlich ist, was diese wenigen Menschen denken und fühlen und wie weit dieses Denken und Fühlen in die Realität zu wirken imstande ist. Oder eigentlich: wie es die Wirklichkeit verändert, verschiebt, verdrängt; was aus dieser höchst problematischen Wirklichkeit wird, wenn sie eben so (und nicht etwa mit der Unbeschwertheit romantischer Völker) erblickt und erlebt wird. Letzte, schwerste Konsequenz aus der volkstümlichen Verflachung, die Schopenhauers „Welt als Vorstellung“ im 19. Jahrhundert erleiden hatte müssen: in diesen Köpfen ist die Realität bereits ganz identisch mit dem eigenen Ich. Was geschieht, ist Fatum und der Verstand kann bestenfalls ordnen, erklären, warnen. So wird das Leben dieser überaus passiven Helden, Pasenow oder Esch, der pommersche Junker und der rheinländische Kleinbürger, den Gesetzen der Träume untertan; aber dieser Traum der Schlafwandler ist das Leben selbst. (Den halben Weg ging einst Alfred Kubin, der große Zeichner, in seinem Roman Die andere Seite!) Zu diesem Werk Hermann Brochs, der uns in das Jahr 1918 führen wird, [wird] noch manches zu sagen sein. Es steht aber schon heute fest, daß man es nicht wird übersehen können, wenn von der Art des neuen Romans die Rede ist: ich halte es für den entscheidenden Wendepunkt. Ein neues Ethos kündigt sich an; und vielleicht zum ersten Mal im deutschen Roman: die endgültige Überwindung jener Psychologie, die nicht aus der Seele, sondern von Dostojewsky stammt.

In: Moderne Welt. H 6/1932, S. 40.

Fanny Harlfinger: Die „Wiener Frauenkunst“ und ihre Ziele (1926)

Die im Herbst des vorigen Jahres im Künstlerhause veranstaltete Ausstellung Deutscher Frauenkunst hat als dauernde Frucht gemeinsamen Wirkens die freie Arbeitsgemeinschaft „Wiener Frauenkunst“ entstehen lassen.

Die Wiener Frauenkunst will nicht in den starren, überlieferten Formen einer Vereinigung arbeiten. Nur ein kleiner Kreis von Künstlerinnen aller Zweige wird als ständiger Arbeitsausschuß die Gelegenheiten zu künstlerischen Veranstaltungen ermitteln, diese vorbereiten und dann für jede der sich bietenden Aufgaben die geeignetsten Kräfte um sich versammeln. Dabei sollen nicht etwa nur Ausstellungen veranstaltet werden. Schon der Rückblick auf die freilich erst recht kurze Zeit unseres Bestandes läßt erkennen, daß uns das Feld für fruchtbare künstlerische Tätigkeit viel umfassender erscheint. Die Vorführungen historischer Frauenkleider in Gegenüberstellung mit modernen Gewändern im Künstlerhaus und in der Secession beweisen dies ebenso wie unsere Teilnahme an der Weihnachtsschau der Oesterreichischen Frauenorganisationen, in deren Rahmen wir die Abteilung. „Der gedeckte Tisch“ veranstalteten.

Wir wollen modern sein, in erster Linie in dem Sinne, daß wir darunter enge Verbundenheit mit dem Leben verstehen. Die Kunst unserer Tage steht dem Leben und seinen sichtbaren Äußerungen noch immer recht fremd gegenüber; sie durchdringt es nicht, wie es die Kunst früherer Zeiten tat. Hier die zerrissenen Fäden wieder anzuknüpfen, dazu wollen wir helfen. Und dazu fühlen wir uns gerade als Frauen besonders berufen, Denn abgesehen von den beruflich hergestellten Dingen geht ja das Allermeiste dessen, was unserem Heim und darüber hinaus unseren äußeren Lebensformen das Gepräge aufdrückt, aus Frauenhänden hervor. Aber // wie geschickt und fleißig diese Hände auch sein mögen, wie wenige Früchte ihrer Tätigkeit stehen doch auf künstlerischer Höhe! Und daneben wieder lebt eine Fülle von Ideen in den Köpfen unserer Kunstgewerblerinnen, ohne sich entsprechend ausleben zu können. Hier die fehlende Verbindung herzustellen, soll mit eine der wichtigsten Aufgaben der Wiener Frauenkunst sein und gerade hierbei erhofft sie die wertvollste Unterstützung von Seite der Zeitschrift, deren erste Nummer hie[r]mit in die Welt hinausgeht.

In: Die Moderne Frau, H. 1/1926, S. 10-11.

M. E.[rmers]: Rhythmical art (1924)

Die letzte Ausstellung der Cizek-Schule

In Wien gibt es eine berühmte Kunstschule, die in hohem Maße die Anerkennung des Auslands gefunden hat. Sie zeigt gerade ihre Re­sultate in einer Ausstellung, die in allen Städten Nordamerikas zirkuliert und dort unter dem Schlagwort „Rhythmical art“ den Beifall der Pädagogen und Künstler findet. In Österreich hat sich diese Schule noch nicht durchsetzen können, obwohl die gesamte Reform des Zeichen- und Werkunterrichts in den Wiener Volks- und Bürgerschulen auf sie zurückzuführen ist. Dem Abbau der staatlichen Schulreform soll nun auch sic zum Opfer fallen, jene Schule, die unter den geistigen Gütern, die Österreich aufzuweisen hat, zu den aktivsten gehört. Innerhalb weniger Wochen der zweite krasse Fall des Mißverständnisses an der Kunstgewerbeschule. Erst ekelte man Hanak, unseren größten Bildhauer hinaus, nachher löste man die Schule Cizek auf und machte ihn selbst zum Lehrer an der Taferlklasse der Anfänger.

Gewiß Cizeks Wirksamkeit ist nicht ganz leicht zu begreifen, und es gehört schon ein gewisser Scharfblick dazu, pädagogische Arbeit des Unermüdlichen in allen Konsequenzen zu werten. Dem oberflächlichen Besucher und vielleicht auch dem mißverstehenden Direktor der Kunstgewerbeschule mag dies alles als ein Sammelsurium aus Abstraktionismus und russischem Konstruktivismus, aus italienischem Futurismus, Bela Uitz, Itten, Peche und Katharina Schäffer erscheinen. Ver­mehrt um gewisse Formelemente des Weimarer Bauhauses, vielleicht auch der Negerplastik. Aber eine solche Auffassung wäre mehr als einseitig. In Wirklichkeit ist es Cizek daran gelegen, die Kräfte und Formtalente, die nun einmal in der Jugend ausnahmslos stecken, durch Versenkung in die Eigenart der Schüler eigenartig zu ent­falten. Und da Cizek nun einmal ein ganz moder­ner Mensch ist — dessen Schüler auch Kinos und Bars und Tanzräume mit Separees entwerfen dürfen—, so versagt er ihnen nicht geistige Anleihen bei den kongenialen Maschinisten, Kinetikern und

ähnlichen Völkern des europäischen Kunstbereiches. Alle diese Schulen haben eben noch ihren Beitrag zur Entwicklung unserer neuen Formsprache ge­leistet, und wer in der Gegenwart und nächsten Zukunft lebt, kann sich ihren Einwirkungen nicht entziehen. Und der Erfolg spricht ganz dafür, daß Cizek am rechten Weg ist. Was er aus den //Schülern herauszuholen versteht, ist einfach un­erhört, und wenn sich auch manchmal der Most ein wenig allzu ungebärdig gebärdet, zum Schluß wird doch daraus ein klarer Wein. Und noch eines: nichts von diesen Dingen, die die Jahres­ausstellung der Schule zeigt (1. Bez., Fichtegasse 4), ist für die Ausstellung gedacht und berechnet; alles für lebendige Räume des täglichen oder festlichen Lebens, wo sie mehr als Dekorationen und Stimmungsauslöser denn als selbständige Kunst­werke wirken. Dies übersehen die Widersacher — und dies ist vielleicht Cizcks größtes Verdienst.

My Ullmann, eine der Begabtesten der Schule, ist eigentlich eine geborene Innendekorateurin. Eine, die es versucht, tiefinnere Erlebnisse in Farben und Formen abstrakt zu komponieren. Das kühle Blau der Abgeklärtheit, das Grün der Jugend und das heiße Rot der Sinnlichkeit domi­nieren in ihrem Fries, der mit seinen Kurven und Geraden und aufgesetzten Kartonnagen und Objektreminiszenzen die meisten sprachlos machen wird. Natürlich wird das Ganze — als Wanddekoration eines Festraumes, übertragen in glasierten Ton oder anderes solides Material — eine ganz andere Wirkung ausstrahlen. Der jungen Künstlerin selbst wäre solche klärende Anpassung an die Realität nur allzu sehr zu wünschen.

Otto Erich Wagner geht in seiner New Yorker Bar als Zentralbau, der von Bühne und Tanzboden an bis zu den Salons particuliers alles enthält, was des Lebemenschen Herz ergötzt, dem Problem nach, durch Architektur Stimmungen zu erzeugen. Seine Kollegin Erika Klien hat den Hauptraum mit kinetischen Studien nach Tän­zerinnen geschmückt, deren vielfach wiederholte, vibrierende Umrisse die Sensationen des erlebten Tanzes nachzittern läßt. An und in den Wänden bringt sie Metopen, Glasgemälde und Friese an, kaleidoskopartig in starken Farben, gegenstandslos zusammengewürfelt, nicht ohne Rausch- und Taumelwirkung. Grotesk, aber packend und auf­regend ihre Plakatsäulen. Originell ihre futuri­stisch tanzenden Reklameaufschriften. Weniger ein­leuchtend ihre Kompositionen aus Holz, Stanniol, Draht, Reißnägeln usw., stark nachempfunden und den Stempel des Nicht-so-gemußt-Seins allzu deutlich an der Stirne tragend. Walter Harnisch zeigt Bühnenbilder für Stücke von Karl Kraus und sonstige Theaterdekorationen, denen man phantastische Wirkung nicht absprechen kann. Ahuwa Jellin, eine Palästinenserin, wirkt unter den berauschten Jünglingen und Mädchen dieser Schule beinahe wie eine Klassikerin. Ihr großer Gobelin ganz gegenständlich — orientalische Städtearchitektur —, wenn auch in der Zeichnung außerordentlich vereinfacht. Elisabeth Kar­linskys Plastiken sind nicht ganz so abstrakt wie die Werke der anderen. Immer blickt noch der Ausgangspunkt der Natur durch die kinetische

Transfiguration. Ihre „Heiligung des Menschen“ ist nicht ohne Schönheit und Weihe. Gerta Hammerschmid und Schachner versuchen sich im Gipsschnitt, Foges in Wanddekorationen, Hans Domenik in plastischen Experimenten kinetisch-halbabstrakter Art.

Nicht alles natürlich ist gleichwertig in dieser Ausstellung der Zwanzigjährigen, die ohne Aus­nahme mehr den Kräften, den Bewegungen, den Gefühlsgehalten der Dinge nachgehen, denn ihren äußeren Formen. Eine außerordentliche Lebendig­keit dieser Kunstwerke, in denen es von Strahlen, Kreisen, Durchdringungen, Wirbeln usw. nur so wirbelt, ist die Folge. Und man fühlt, mit welch unendlicher Lust hier die Schüler am Werke waren.

Diese Ausstellung der Cizek-Schule wird aller menschlichen Voraussicht nach die letzte sein. Nach vierjähriger Tätigkeit— eben als die ersten Er­folge zutage traten — hat die Kunstgewerbeschule des Bundes diese hoffnungsvolle Blüte geknickt. Es darf mit Fug und Recht angenommen werden, daß sich die Gemeinde Wien, respektive ihr Stadtschulrat die Gelegenheit nicht entgehen lassen wird, die bedeutende Kraft Franz Cizeks nunmehr in ihre Dienste zu nehmen.

In: Der Tag, 2.7.1924, S. 6.

Oskar Maurus Fontana: Programmatisches (1918)

            Gedichte? Dichtung? Ja! Gedichte! Dichtung! Diese Hefte Bekenntnis zum Dichter. Und weil, was Dichtung ist, schon ganz fremd ist, ein verlogener Begriff wurde, bei dem sich kein wohlerzogener Mensch etwas denken kann, schütteln alle klugen Leute ihre studierten Köpfe: im Krieg Gedichte?! Aber diese Weitläufigkeit, die von allen Schüsseln gekostet und gegessen hat, ist nicht Maß, ist nicht Ziel. Ihr wurde zur Gewohnheit, Dichtung als Ornament zu sehen, als den Luxus des Geistes. Die Dichtung diente als geschmückter Paravent, hinter dem die Schieber der Zeit sich verbargen und ihre dunklen Ehrengeschäfte besorgten. Und solche, die Dichter genannt wurden und werden, machten willig die „Mauer“ dem Wandschirm. Das war, ist Kultur, ist aber nicht Dichtung. Dichtung ist das Wahrhaftigste der Welt und der Dichter ist der menschlichste Mensch. Sie schleichen sich nicht an die Dinge, sie sind in den Dingen, sie sind hinter den Dingen. Sie sind die wirklich Wirklichen. Jede andere Wirklichkeit wird vor der ihren Staub. In der Flucht der Zeit sind sie die Retter des Ewigen, in dem Gemetzel der Gewalten sind sie die Stimme der Gerechtigkeit. Kein Politiker, kein Feldherr, nicht einmal der Mystiker kommt ihnen gleich. Wo der und der vor der Forderung des Tages erliegt, wo dieser im Erkennen ertrinkt, ist der Dichter Führer zur Seligkeit, ist er der unbedingt Tätige. Ja, indem der Dichter die Landschaft anschaut, wird er schon revolutionär gegen diese Kultur, deren Gefräßigkeit Kriege bracht. Der Dichter ist das Auge, der Mund, der Geist einer Erdteile umspannenden Menschheit. Der Dichter tut, wie das russische Volkslied sagt:

                        Sang so schönen Sang der Greise,
                        So gewalt’ges Lied der Alte,
                        Daß anfing das Meer zu lauschen,
                        Daß die schäum’gen Wogen lauschten
                        Und die tiefen Ströme lauschten
                        Und auch lauschten selbst die Ufer;
                        Sang so schönen Sang der Greise,
                        So gewalt’ges Lied der Alte,
                        Daß die gelben Ufer neigten
                        Sich das eine zu dem anderen.
                        […]

Dieses Tun ist nicht Ornament, ist nicht Luxus, ist tiefste Notwendigkeit. Daß es mißkannt, verworfen, verraten werden konnte, ist kein Beweis gegen die Dichtung, nur einer gegen schwache Dichter und vor allem einer gegen das Sein heutiger Gemeinschaften, weil sich dadurch ihr Parasitäres herausstellt, ihr alles Wirkliche überwuchernde Schmarotzerhaftigkeit.

Gewiß, wir werden nach dem Krieg den Politiker brauchen, aber nicht minder in einer ganz veräußerlichten Zeit den Dichter, dessen Weg von Innen zur ganzen Welt führt.

Wieder das Gefühl für Dichtung, für den Dichter zu wecken, ihre verantwortungsvollste Gewissensnotwendigkeit zu zeigen – das ist Ziel des Flugblattes (mit sehr bescheidenen Mitteln.) Man zweifle die Qualität des Gebotenen an – schön, damit kann man sich auseinandersetzen – aber man sage nicht höhnisch: In dieser Zeit Gedichte?! Oder man sage es, aber bleibe dann hübsch bei seiner eigenen Schäbigkeit und spiele nicht weiter den Freund der Künste.

In: Das Flugblatt, Wien: III/März 1918, S. 11

Dr. Max Ermers: Jungrussische Kunstausstellung. (1924)

Seit einigen Tagen gibt es bei uns eine russische Kunstwoche. Ein Ereignis, das uns zwingen sollte, aufzuhorchen. Und während um die de jure-Anerkennung der Sowjetregierung bei uns noch lebhaft gefeilscht wurde, hielt die neue Kunst Rußlands bereits ihren Einzug: ein jungrussischer Autorenabend, ein russischer Musikabend, eine russische Kunstausstellung. Ein Vor­trag Fannina Halles, einer der Wortführerinnen der nachrevolutionären Moskauer Kunst. Heute werden wir sogar Wassilji Kandinsky, derzeit Professor am Weimarer Bau­haus, sehen und sprechen hören (im Österreichischen Museum). Soweit es sich also um die Niederreißung geistiger Blockademauern handelt und um die Möglichkeit, den Horizont nach Osten zu erweitern, haben wir alle Ursache, der Initiato­rin, der Gesellschaft zur Förderung moderner Kunst in Österreich, zu danken.

***

Wir betreten die Säle der Ausstellung (1. Bez., Grünangergasse 1). Hochgespannt und voll Er­wartung. Manifeste rauschen uns entgegen. Ge­malte, gegossene, gezeichnete, gedruckte Manifeste. Jedes erzählt uns vom Tod der alten Kunst, der Barschui-Kunst. Die Sowjetkunst beginnt. In Kandinsky hat sie eigentlich vor dem Kriege schon begonnen. Die Welt der Gegenstände war eine bürgerliche Angelegenheit. Menschen, Bäume, Tiere, Berge und atmosphäre Objekte der absterbenden Bourgeoiskunst. Nur Farbflecke, ein­fach geformte oder sonderbar gestaltete, oder Li­nien, steife und geschwungene, haben Daseinswert im Bilde. Alles natürlich in Proportion, Relation und sogenannte Harmonie gebracht. Voll von Rapports, die man bei Cézanne bezog. Ideenassoziationen, die an Farben und Formen anknüpfen, halfen mit, eine neue Gefühlsatmosphäre im Beschauer zu schaffen, zu ermöglichen, zumindest vorzubereitcn. Kandinsky schrieb damals sein berühmtes Buch vom Geistigen in der Kunst.

Neben mir steht vor einer Komposition Nr. X Kandinskys ein junger Maler und meint: „Ja, so fühle ich es selbst manchmal, wenn ich am Diwan liege und in die Physiologie meines Lei­bes hineinschaue. Man braucht dann nur die Hand auf der Leinwand laufen zu lassen und die Bilder entstehen von selbst. Physiologische Explosionen.“ — „Ich kann es nicht so sehen.“ Meint ein anderer, „ich sehe ganz deutlich Reminiszen­zen von Feldern aus dem Gemälde, den gelben Mond und Bruchstücke grüner Bäume. Es ist eine Landschaft“ — „Sie können es auch so betrach­ten,“ meint eine hochgewachsene Dame, die eben aus Rußland zurückgekehrt ist, „ich aber sehe in dem Bild — jenseits von allen Bruchstücken und Resten der Gegenständlichkeit— die Stimmung eines Winternachmittags bei Twer, knapp nach Sonnenuntergang. Man ahnt beinahe schon den jungen Frühling. Aber darauf kommt es eigent­lich nicht an; das Schöne in diesen Bildern ist, daß jeder dabei denken oder fühlen kann, was er will.“ Worauf ich prompt an die alten, ver­witterten, zerklüfteten Mauern Lionardos denke, deren Betrachtung er um der Anregungen der Phantasie willen seinen Schülern so angelegent­lichst empfohlen hatte. Unmöglich natürlich, hier sämtliche Meinungen und Auffassungen der Adep­ten zu notieren, die bei den häufigen Kontroversen vor Kandinskys Bildern auftauchen. Schwärmt der eine von einer neuen Musik auf der Leinwand, so vergleicht der nächste sie mit der maurischen Ornamentik, die ja auch geometrisch — gegenstandslos ist… Die meisten Besucher aber sind so ehrlich einzugestehen, daß sie zu die­sem abstrakten Chaos keinen Zugang finden.

In alledem, was dir Augen der Gläubigen in diesen zum Teil wirklich fesselnden, aber nicht mit überzeugender Kraft aufgebauten Bildern Kandinskys herauslesen, steckt natürlich ein gewisses Wahrheitsgehalt. Zu überschwenglichem Bekennt­nis ist aber keinerlei Ursache vorhanden. Um höchst individuelle Angelegenheiten handelt es sich hier, halb aus dumpfen Trieben, halb aus stammelnder Wissenschaft geboren. Verwandt organisierten Geistern mag wohl das eine oder andere der viel­deutigen Werke zur Quelle eines leichten Rausches werden. Für uns sind dies Experimente, nur ver­ständlich aus der Kampfessituation der jungen Kunst aller Länder, aus dem Ringen um eine neue, stärkere, ausdrucksvolle Sprache. Experi­mente, die noch nicht sehr weit geführt haben.

El Lissitzky. Wie anders mutet uns dies Zeichen an. Ein Ingenieur, kein Maler. Er zeigt zehn Szenenbilder für eine futuristische Oper von Krutschonjch, die 1913 in Petersburg aufgeführt wurde. Damals mit Musik von Matjuschin, mit Dekorationen von Malewitsch. Lissitzky wälzt den Inhalt der Oper, die Sieg über die Sonne heißt, um; macht daraus ein physikalisch-mechanisches Schautheater. Unter Ausschaltung der Menschen, an deren Stelle Figurinen und plastische Schau­körper aus blankem Kupfer, stumpffarbigem Eisen, Glas usw. treten. Ein riesiges Gerüst von Schienen, Rippen, Traversen. Ständern, allseitig sichtbar, bildet die Bühne; eine Art Scenic Railway. Ver­schiebbar, dehnbar, drehbar, erhöhbar. Aus dem Gerüste laufen, rollen, kriechen, gleiten, fliegen die Schaukörper, gefolgt von Lichtstrahlenkegeln, Ko­meten gleich. Im Mittelpunkt des Gerüstes, an der Schalterzentrale, sitzt der Schaugestalter. Diri­giert mit Tastern die mechanischen und geistigen Kräfte der Erde, d. h. ihre Realisationen in den Schaukörpern. Er drückt auf die Taster und alle Beleuchtungseffekte der Welt stehen ihm zur Ver­fügung. Er drückt und es brüllt der Niagarafall, es tosen die Lawinen, es dröhnen die Hammer­werke, es gellen die Bahnhofsgeräusche von ganz Europa. Zu seiner Rechten steht das Radiomegaphon, zu seiner Linken sind die Apparate, die seine Stimme in die der Figurinen wandeln. Elektrische Riesensätze zittern in die Luft und ver­schwinden. „Eine andere Gegebenheit soll zustande gebracht werden“, schreibt der Künstler. „Die groß­artigen Schauspiele der Städte, die niemand beachtet, weil jedermann selbst am Spiele ist, müssen zur Schau gebracht werden, die elementaren Vorgänge der Welt zur höchsten Steigerung. Alle Energien müssen zur Einheit organisiert, kristallisiert wer­den. Die Sonne als Ausdruck der alten Welt­energie wird vom Himmel herabgerissen durch den modernen Menschen, der kraft seines technischen Herrentums sich eine eigene Energiequelle schafft.“

Liest man dieses Manifest, das in seiner Sonnenemanzipation des pathologischen Einschlages nicht entbehrt, so fühlt man die Sehnsucht einer neuen Ideologie: Rußland, ein neues Zentrum der Welt. Die thaumaturgische Maschine Grundlage einer neuen Religion. Sowjetgott-Vater, der Göttlichkeit beraubt, aber mit höchster Zentralgewalt bekleidet, sitzt als Schaugestalter am Zentraltaster der Welt. Enthüllt die unerhörten Erdkräfte, die Rußland für die Menschheit freigemacht hat (freimachen möchte). Rührender und gigantischer Fiebertraum des armen Rußlands, dem Kapitalmangel bei Entfaltung seiner großen Naturkräfte so völlig die Hände bindet. Lissitzky ahnt die neue Welt der Elektrozentralen, des Broadcasting, der Allernherrschaft der Kinos und der mechanischen Schautheater… Seine Visionen sind groß und man hätte Lust, dem ungeheuren Spektakel des „Sieges über die Sonne“ bei­zuwohnen. Aber seine Kunstwerke sind ärmlich und schwach, wie die Kräfte des erdenschweren Muschiks, der mit dem primitiven Pflug den Boden aufreißt. Seine Szenenbilder sind Still­leben aus Maschinenteilen und geometrischen Figuren, mit fragwürdigen Fragmenten aus dem Tagesleben gespickt: Sowjetsternen. Särgen, Schachteln, Ruderleibchen. Nur hie und da blinkt ein Funke von Genialität, nein bloß von Witz und Geist durch die intellektuelle Konstruktion Ganz abstrakt, quälerisch und voll Privatallüren erscheinen seine übrigen Arbeiten. Kreise, Quadrate, Rhomben und Rechtecke suchen sich in Relation zu setzen. Proportionsstudien. Farbstudien. Experimente.

Chagall, der Elegiker des russischen Dorfes; // durch die jüdische Brille gesehen. Ganz gegen­ständlich, zertrümmert er wieder seine Welt der Objekte, spielt Fangball mit den Bruchstücken. Wenn Chagall einen alten Handeljuden über die Dorfkirche fliegen läßt — mit viel Erdenschwere allerdings — so fühlen wir: so heimatlos flogen die Juden vor dem Kriege in Rußland herum. Viel Urgesundes, Russisches, Derbbäuerliches steckt in seiner Farbengebung. Aber vieles mutet uns nur als Spaß an; indessen es dem Maler sicher­lich sehr zu Herzen geht. Zu seinem schwer­mütigen, russischen Maler-, Bauern- und Judenherzen. Auf der Ausstellung kommt Chagall leider nicht voll zur Geltung. Sein graphischer Zyklus Mein Leben gibt uns schwache Ahnungen seiner Kunst.

Von Archipenko ein paar Aktskizzen und Kleinplastiken. Die Zeichnungen könnten ganz gut von irgend einem Klassiker der Genelli-Zeit stammen. Seine eigentlichen Bewegungsstudien, geistreiche kinetische Abstraktionen, fehlen. Ein weibliches Torso-Figürchen, in der Tiefenachse zusammengedrückt und abgeflacht, zeigt ein paar interessante Linien, aber nichts vom eigentlichen Wollen des Künstlers. Das Übrige repräsentiert nur gutes Mittelmaß.

Resümieren wir: Viel Experimente, die für die Entwicklung der Kunst ihre kleinen Beiträge leisten werden. Besonders in der Richtung der Musikalität und der Architektur der Bildwerke. Aber keine irgendwie überwältigend großen Resultate. Maschinenromantik und Apotheose der Technik, Überwindung aller rückwärts gewandten Romantik. Opposition gegen die Welt der Gegen­stände. Viel Wollen, hinter dem das Können weit zurückbleibt. Viel Sektierergeist. Elemente einer absterbenden, individualistischen und Ele­mente einer neuen, sozial eingestellten Kunstatmosphäre durchdringen sich. Europäisches und Russisches. Nicht unwichtig, zu erwähnen, daß alle diese Künstler eher in Paris, Berlin und Weimar anzutreffen sind, wie in Moskau.

In: Der Tag, 4.3.1924, S. 4-5.

N.N.: Der Heimwehrtag in Baden (1927)

Eine machtvolle Kundgebung. – Fortschritte des Selbstschutzes in Niederösterreich. – Nunmehr einheitliche Führung der Heimwehren.

Baden hatte gestern einen großen Tag. Die niederösterreichischen Heimwehren (Selbstschutzverband) hatten unter der Leitung des Majors Karz in dieser Stadt ihre erste große Kudgebung veranstaltet, an der Abordnungen der wehrhaften Organisationen aus allen Teilen des Landes teilnahmen. Die Veranstaltung stand unter dem Zeichen des gewaltigen Aufschwunges der niederösterreichischen Heimwehren. In der bodenständigen Bevölkerung, vor allem in der niederösterreichischen Bauernschaft, hat der Gedanke der Heimwehr feste Wurzel geschlagen. Das Bekennen der Bevölkerung zu den Heimwehren hat auch die Hindernisse beseitigt, die der Organisation des Selbstschutzverbandes entgegenstanden. Seit dem 15. Juli ruft die niederösterreichische Land­bevölkerung nach den Heimwehren. Von welchem Schwung die Heimwehrbewegung getragen wird, zeigte die macht­volle Kundgebung in Baden.

Der Heimwehrtagung kommt besondere Bedeutung zu. Bisher litt die Bewegung darunter, daß ein Zuviel an Organisationen bestand, die zwar das gleiche Ziel an­strebten, aber nebeneinander arbeiteten und derart die Aktion schwächten. Dieser Übelstand hat aufgehört. Sämt­liche Organisationen haben sich für den Fall, daß die Heimwehren aufgerufen werden, der Führung des Bundes­rates Dr. Steidle unterstellt. Der bisherige alpenländische Selbstschutzverband hat sich zu dem öster­reichischen Selbstschutzverband erweitert, dem nun auch der Wiener, der niederösterreichische und der burgenländische Selbstschutzverband ange­hören. Die einzelnen Organisationen des Landes haben sich, sobald sie mit den Heimwehren gemeinsam operieren, dem Selbstschutzverband des betreffenden Landes unter­geordnet. Diese Einigung wurde nun von Bundesrat Dr. Steidle in Baden verkündet.

Die Botschaft wurde von allen, denen die Heimwehr­bewegung am Herzen liegt, mit Jubel aufgenommen. Nun ist auch Gewißheit gegeben, daß die Heimwehren für alle Fälle gerüstet seien und eine Richtung einschlagen werden, die von der christlich-deutschen Bevölkerung gutgeheißen wird. Nun steht vor allem der Teilnahme der katholischen Männer und Jugend an der Heim­wehrbewegung nichts mehr. im Wege. Im Gegenteil ist es Pflicht der Katholiken, der Aufforderung ihrer Organi­sationen Folge zu leisten.

Bei der Kundgebung waren von den Heimwehren erschienen Abordnungen aus den einzelnen Vierteln des Landes, aus Steiermark und Tirol. In stattlicher Zahl waren vertreten die christlich-deutschen Turner aus dem Viertel unter dem Wiener Wald (Führung Prof. Doktor Dinkhauser), der deutsche Turnerbund von Stein­feld, die Heimwehren von Baden, Mödling, Hinterbrühl, Liesing, Perchtoldsdorf, Schwechat, Wiener-Neustadt, Gloggnitz, Vöslau, Wolkersdorf, Mistelbach, Laa u. v. a., der Verband Deutsche Wehr, der Verband Oberland, zahl­reiche Burschenvereine, Schützen- und Kameradschaftsvereine und außerdem eine starke Gruppe von Front­kämpfern.

Unter den Festgästen sah man u. a.: die früheren Minister Kollmann, Dr. Rintelen, Dr. Mataja, die Abgeordneten Klieber, Kraus, Dr. Mittermann, Bierbaumer, Pichula, Dr. Reich, Zippe, die Organisationsvertreter Feldmarschalleutnant Weiß, General Lustig-Prean, Major Papst, General Kasamas, Ingenieur Wenzl, Obmannstellvertreter Scheffel, Hofrat Kupka, Präsident Kattinger.

Neben 2500 Mitgliedern der wehrhaften Organi­sationen stand Kopf an Kopf eine nach Tausenden zählende Menschenmenge auf dem großen Platz vor dem Kurhaus, wo Prälat Frim unter Assistenz eine Feldmesse las, bei der dle vereinigten Badner Männergesangvereine die Deutsche Messe von Schubert sangen. Nach erfolgter Ein­weihung von drei Standarten der Bezirksheimwehrverbände Wolkersdorf, Laa a. d. Thaya und Mistelbach be­grüßte Minister a. D. Bürgermeister Kollmann in einer zündenden Ansprache die Tagung namens der Stadtgemeinde Baden. Er sagte:

Ein freies Volk kann nur bestehen, wenn es von fremdem Einfluß frei ist. Freie Männer vertragen nicht die Gewalt Fremder über sich. Uns in Österreich droht eine solche fremde Gewalt, die nicht Sinn hat für unser Volk und eine Knecht­schaft aufrichten will über unser Volk, das Jahrtausende frei war. Ein Ruf hat Sie hiehergebracht, um Zeuge zu sein, daß nicht allein die anderen, sondern auch wir marschieren. (Lebhafter Beifall.) Ich begrüße Sie im Namen der rotumbrandeten Stadt Baden, die sie gerne haben möchten, die sie aber nie bekommen werden. (Neuerlicher Beifall.) Ich begrüße Sie und heiße Sie alle aus vollem Herzen willkommen.

Wiederholt von großem Beifall unterbrochen, führte Abg. Klieber aus:

Nicht reine Abwehr allein bilden das Ziel unserer Be­wegung. Vor allem gilt es, unsere Jugend in positivem, vaterländischem Geiste zu erziehen und die Wehrhaftigkeit des deutschen Bürgers zu heben. Das ist kein müßiges Soldatenspiel. Unsere Be­wegung richtet sich nicht gegen den Arbeiter, dem wir als Bruder die Hand reichen und dem wir aus den Fesseln einer wesenfremden Gedankenwelt, aus der Zwangs­jacke einer angeblich freien Organisation befreien wollen. Welch unermeßlichen Schaden die hemmungslose Betätigung gewisser Elemente anrichten kann, in welchen Abgrund unsere Heimat stürzt, wenn nicht eine rettende Hand eingreift, das hat uns allen der 15. Juli klar und deutlich gezeigt. Wem die brennende Fackel des Justizpalastes noch immer kein Licht angezündet hat, dem ist nicht zu helfen. Nie wieder Umsturz! Nie wieder Zustände, wo ein Telegramm eines Unverantwortlichen genügt, das ganze Wirtschaftsleben Österreichs stillzulegen; nie wieder dulden wir, daß all jene, die nicht rot gestempelt sind, in ihrer Arbeit und in ihrer Bewegungsfreiheit gestört werden. Die Zeit, da man unser armes Österreich als zweites Bolschewikenland bezeichnen konnte, muß vorüber sein.

                        Auf legalem Wege, in voller Öffentlichkeit, im Rahmen unserer Gesetze spielt sich unser Handeln ab.

Heute ist es das erstemal, daß wir uns zu einer größeren Feier vereinigen, das erstemal, daß wir Gäste aus den Heim­wehren der übrigen Bundesländer, die mit uns Schulter an Schulter standen, begrüßen können. Ich begrüße insbesondere den Bundesführer Dr. Steidle und Minister Doktor Rintelen. Unser Gruß gilt aber auch unseren gefallenen Kameraden, die im Krieg, unsere Heimat gegen eine Welt von Feinden verteidigt und in Ausübung dieser höchsten Vaterländischen Pflicht ihr Leben gelassen haben. Ihnen gilt unser Dank, den wir nicht besser erweisen können, als daß wir unseren toten Helden nachstreben in Treue, Tapferkeit und Vaterlandsliebe.

Abg. Dr. Mittermann erklärte, die Zeit des Schweigens ist vorbei, die Zeit der Tat hat begonnen. Er pries den großen Wahlerfolg im Bundesheer, das nun wieder anknüpfen will an die große Vergangenheit der alten Armee. Abg. Zippe begrüßte die Tagung im Namen des deutschen Turnerbundes.

Bundesführer Dr. Steidle, mit lautem Beifall begrüßt, führte aus:

Revolutionäre Bewegungen, die sozialen Umschichtungen entspringen, haben immer einen Druck oder soziale Versäum­nisse der gerade herrschenden Kreise zur Voraussetzung gehabt. Auch in Österreich hat die fortschreitende Industrialisierung Bevölkerungsschichten geschaffen, die sich ihr gutes Recht auf angemessene Lebensbedingungen häufig genug erst im poli­tischen und gewerkschaftlichen Kampfe holen mußten, weil große Teile des sogenannten Bürgertums nicht die Ein­sicht aufbrachten, den Notwendigkeiten einer neuen Zeitepoche aus freien Stücken Rechnung zu tragen. Mit den unerfreu­lichen Erscheinungen der heutigen Zeit büßen wir zum größten Teile die Sünden unserer Väter. Derartige sozialrevolutionäre Bewegungen haben aber das Gemeinsame, daß sie im Falle des Erfolges gewöhnlich über das Ziel schießen. Aus den Freiheitskämpfern werden selbst Tyrannen, die dann wieder denselben Fehler be­gehen, den sie ihren Gegnern vorgeworfen haben und die sie wegen der Tyrannei und Unterdrückung bekämpften. Sie rufen damit selbst wieder naturnotwendig eine Gegenbewe­gung hervor, die, wenn sie richtig geleitet ist, ein gesellschaft­liches Gleichgewicht schafft, oder, wenn sie von unsozialen Leidenschaften beherrscht ist, ebenso ihre Bahn überschreiten und einen neuen Kreislauf von Verwicklungen hervorrufen wird.

Auch bei uns haben die führenden Kreise der Marxisten aus den geschichtlichen Erfahrungen nichts gelernt und Uebergriff auf Uebergriff gehäuft. Sie machten das, was sie an dem bekämpften „Bourgois“ bitter ver­dammten, in vergrößertem Stile nach, sie schickten sich an, die Herrschaft im Staate mit Hilfe der von ihnen geführten Masten zu ergreifen und die Diktatur einer Klasse mit allen Mitteln, auch denen der Gewalt, die sie in anderen Händen mit glühenden Worten verurteilten, allen anderen Gesellschaftskreisen aufzuzwingen. Aus den Freiheits­kämpfern entwickelten sich ausgewachsene Tyrannen kleineren oder größeren Formats, je nach Charakter, Herkunft und Fähigkeit. Der Appetit wuchs täglich mit dem Essen. Und es hatte den Anschein, als ob gerade die österreichische Be­völkerung das geeignete Versuchskaninchen für solche Diktaturgelüste abgeben würde. Aber der immer mehr steigende Ueber-[ ] mit der unersättlichen roten Führerschaft erweckte den Un­abhängigkeitssinn, das natürliche Freiheitsgefühl und die gesunden demokratischen Instinkte weiter Bevölkerungsschichten. Und als die unentwegte sozialistische Verhetzung am 15. Juli die lodernde Brandfackel in die Bundeshauptstadt schleu­derte, ging ein vollständiges Erwachen durch die gesund gebliebenen Teile Österreichs. Die Abwehr der marxistischen Übergriffe durch Männer, die in der persönlichen und geistigen Freiheit das höchste aller irdischen Güter sehen, ist im Wachsen begriffen.

Angesichts der Hemmungen der verfassungsmäßigen Körperschaften mußten private Organisationen das Befreiungswerk in die Hand nehmen. Das waren und sind unsere Selbstschutzverbände, unsere Heimatwehren, die täglich wachsen und sich über alle Gaue des Vaterlandes ausbreiten.

Der auf Gewalt und Terror aufgebauten Herrschgier der roten Diktatoren muß ein Ende gemacht werden. Die Mittel der Abwehr richten sich ganz nach den Methoden des Gegners. An die Stelle der Klassen­herrschaft einer einzelnen Bevölkerungsgruppe muß das soziale, das gesellschaftliche Gleichgewicht gesetzt werden, die Volks­gemeinschaft. Der Weg dazu geht einerseits über die Abwehr und Beseitigung der roten Gewaltmethoden, anderseits über die Annäherung und Zusammenführung der sich haßerfüllt gegenüberstehenden Volksgenossen, über die Befreiung und Loslösung der verführten Arbeitermassen von ihren Vögten und über die Besinnung auf soziale Gerechtigkeit zum sozialen Interessenausgleich. Wir müssen um unsere Freiheit, wenn es sein muß, mit der Faust, mit Nägeln, und Zähnen kämpfen. Von Frieden und Ver­söhnung wollen wir reden, wenn der Gegner den ehrlichen Willen, von der Gewaltherrschaft abzulassen, nicht nur mit

gleißnerischen Worten, sondern durch die Tat bezeugt.

In: Reichspost, 17.10.1927, S. 5.

Bundeskanzler Dr. Seipel über die Tage der Revolte. (1927)

Die Erörterung der Vorgänge im Nationalrat.

Bundeskanzler Dr. Seipel hielt heute im Nationalrat sofort nach der Eröffnung der Sitzung durch Präsident Miklas folgende Rede:

Gestern in der ersten Sitzung des Nationalrates nach den traurigen Ereignissen, die in den Tagen vom 15. Bis 18. d. vorgefallen sind, hat uns die Trauer den Mund geschlossen. Wir sind, nachdem unser Präsident die Trauer unseres ganzen Landes über die erwähnten Vorkommnisse und ihre Opfer zum Ausdruck gebracht hatte, schweigend in dieser Trauer auseinandergegangen.

Heute müssen wir uns aber erinnern, daß unter den Verwundeten— Gott sei Dank, nicht unter den Toten— auch die österreichische Republik ist.

Mit dieser Verwundeten müssen wir uns heute beschäftigen, ihr zuliebe müssen wir auf die traurigen Ereignisse zurückkommen, untersuchen, wie es zu ihnen gekommen ist, wie sie verlaufen sind, und vor allem, was wir in Zukunft tun können, damit sie nicht wiederkehren und damit die österreichische Republik von der Wunde, die ihr geschlagen worden ist, gesunde. In dieser Absicht habe ich mich heute zum Worte gemeldet, um Ihrer aller Aufmerksamkeit auf diese eine eine hohe Verwundete hinzulenken.

Wohl kaum ist je ein Land und eine Regierung un­schuldiger in blutige Wirren hineingestoßen worden als diesmal wir. Nicht irgendeine Regierungsverfügung, nicht irgend ein Streitfall, der das Parlament beschäftigt hätte, hat eine blutig ausgehende Volksbewegung aus­gelöst, sondern ein Schwurgerichtsurteil ist es gewesen, auch nicht das Urteil von Berufsrichtern. Das Schwurgericht war in diesem Fall gewiß kein Klassengericht; die Hälfte der Geschwornen gehörte dem Arbeiterstande an. Es ist allerdings diesem Schwurgericht vorgearbeitet worden, wie ihm hätte nicht vorgearbeitet werden dürfen.

Die Ereignisse, über die dieses Schwurgericht, dieses Volksgericht zu urteilen hatte, sind vorher in der Öffentlichkeit erörtert worden— was an sich selbstver­ständlich ist — aber sie sind in einer Weise erörtert worden, daß man daraus schon gesehen hat: hier werden

Leidenschaften aufgepeitscht. Ein Teil der Presse hat, bevor das Schwurgericht ein Urteil fällen konnte, schon das Urteil gesprochen und immer wieder das harte Wort „Mörder“ gebraucht. Auf der anderen Seite wurde da­gegen Einspruch erhoben, wurde die Tat, über die das Schwurgericht urteilen sollte, anders dargestellt. Ich wundere mich gar nicht, daß die schlichten Männer aus dem Volke, die Geschwornen, bei ihrer Verhandlung das Wort „Mörder“ im Gedächtnis hatten und sich nun die Angeklagten nur daraufhin anschauten, ob sie denn Mörder seien. Und weil sie gefunden haben, sie sind es nicht, so haben sie ihr Urteil gesprochen. Es ist nicht meine Aufgabe, an dem Urteil eines Gerichtes Kritik zu üben. Aber da nach diesem Urteil in einer Weise, wie es noch nie dagewesen ist, gegen die Volksrichter vorgegangen wurde — einer oder der andere von ihnen mußte sogar flüchten; es wird sich kaum mehr jemand trauen, bei einem großen Prozeß das Amt des Geschwornen oder auch nur des Schöffen zu übernehmen — so muß ich doch ein Wort über die Art sagen, wie dieser

Prozeß zu einem solchen gemacht wurde, daß auf ihn ein leidenschaftlicher Volksausbruch folgen konnte. Von einem der sozialdemokratischen Partei angehörenden Anwalt wurde verlangt, daß ein Teil der Geschwornen als befangen abgelehnt werde, und der Staatsanwalt hat diesem Verlangen Rechnung getragen. Die Geschwornen, die übrig geblieben sind, konnten daher gar nicht anders denken als: Hier handelt es sich um eine politische Sache.

Wenn die Ablehnung eines Teiles der Geschwornen aus politischen Gründen nicht erfolgt wäre, das Urteil hätte auch nicht anders ausfallen können als es ausgefallen ist.

Ich hätte mir wohl vorstellen können, daß man nach einem solchen Schwurgerichtsurteil, das übrigens gar nicht vereinzelt dasteht — seit langem beobachten wir sehr merkwürdige Freisprüche vor den Geschwornengerichten —, daß man sofort ins Parlament gegangen wäre und den Antrag gestellt hätte, die Schwurgerichte abzu­schaffen oder sie umzugestalten oder einzu­schränken oder sie für irgend eine Zeit, bis man wieder

mehr Vertrauen zu dieser Art von Gerichtsbarkeit haben kann, zu suspendieren.

Ich sage Ihnen im Namen der Regierung, wir würden einem solchen Verlangen keinen Widerstand entgegensetzen. Ich bringe heute nicht etwa eine Regierungsvorlage ein, die sich in der angegebenen Art mit den Schwurgerichten beschäftigt, aus dem einfachen Grunde, weil ich glaube, eine so wichtige und große Angelegenheit soll nicht durch eine Gelegenheitsgesetzgebung geregelt werden; man soll nicht im Augenblick der Leidenschaft, der Erbitterung eine Institution abschaffen wollen, an der viele von uns, wenigstens in der Vergangenheit, sehr stark festgehalten haben. Ich rechne mich zu diesen. Aber wenn man aus der Initiative des hohen Hauses heraus oder vielleicht gar, was ich am liebsten hätte, durch ein Zusammenwirken aller dazukommt, der Regierung einen Vorschlag zu machen, wie sie das Gerichtswesen in Zukunft ordnen soll, damit es der Leidenschaft mehr entrückt werde, als es leider in der Gegenwart der Fall ist, so verspreche ich jetzt schon jede Beihilfe der Regierung.

In diesen Tagen hat man auch sehr über die Tätigkeit der Presse, in diesem Fall der Parteipresse, geklagt. Ich bringe heute auch keinen Preßgesetzreformentwurf ein, aus denselben Gedanken heraus, die ich soeben geäußert habe. Aber ich mache das hohe Haus aufmerksam, daß ein Preßgesetzreformvorschlag, das frühere Parlament beschäf­tigt hat, ein Initiativantrag der Abgeordneten Seipel, Dinghofek usw., die damals noch nicht durch Regierungs­ämter gehindert waren, in diesem hohen Hause Anträge einzubringen, ein Preßgesetzreformentwurf, der gewiß nicht alles das betrifft, was wir im Augenblick von einer solchen Reform erwarten möchten, der aber doch viele Sympathien auf beiden Seiten dieses Hauses gefun­den hatte, aber dennoch nicht erledigt werden konnte,

weil eben das Parlament — nicht erst das gegen­wärtige, sondern auch das vergangene — schon an der schleichenden Krankheit litt, unter der das Parlament am allermeisten in den letzten Monaten gelitten hat und der es das Parlament verdankt, daß es in Zeiten einer wirklichen Krise der Republik nicht jenes An­sehen besitzen konnte, das es im Interesse der Staats­autorität besitzen müßte.

Aber man ging nicht ins Parlament, dafür brachen am Freitag der vorigen Woche in der Frühe die Unruhen aus. Es sind teilweise — nicht in allen Wiener Betrieben — Arbeitsniederlegungen vorgekommen und auf­geregte Arbeiter, die in ihrem Urteile im Innern dem Schwurgerichte vorgegriffen hatten und in den Frei­gesprochenen trotz dem Gerichte „Mörder“ sahen, sind durch die Straßen der Stadt gezogen; wie wir alle glaubten, um zu demonstrieren. Wir hofften, in kurzer Zeit diese Demon­stration vorübergehen zu sehen. Aber in wenigen Stunden schon mußten wir es merken, daß aus dieser Bewegung mehr als eine bloße Demonstration wurde. Es kam zu Angriffen auf die Sicherheitswache, die damals nicht mit Gewehren be­waffnet war und daher auch nicht aus ihnen schießen konnte.

Durch zwei Stunden sind, wie uns die Vorsteher unserer Kliniken sagen, nur verwundete Polizeiorgane eingeliefert worden und noch keine verwundeten Demonstranten.

Es sind Privatgebäude, die der Sitz von viel­genannten, in der Zeit vor und während des Prozesses vielgenannten Zeitungsunternehmungen sind, gestürmt worden, es ist eine Wachstube gestürmt und ausgebrannt worden; man ist in den Justizpalast eingedrungen, der wahrlich nur eben durch den Namen „Justiz“ zum Objekt dieser Stürme gemacht wurde, denn er hat mit den Geschwornengerichten nichts oder fast nichts zu tun.

Unsere Polizei war während dieser ganzen Zeit auf dem Platze auf sich allein gestellt. Als man noch in den Vormittagstunden des Freitag gesehen hatte, welche Dimensionen diese Bewegung annahm, da hat der Polizeipräsident in Erfüllung seiner Pflicht vom Landeshauptmann von Wien verlangt, daß er Militärassistenz in Anspruch nehme. Der Landeshauptmann und Bürgermeister von Wien hat dies abge-//lehnt. Er wird es natürlich von seinem Standpunkt aus nicht als einen Vorwurf empfinden, wenn ich sage, nach meiner,

nach unserer Überzeugung wären viele Opfer nicht gefallen (lebhafte Zustimmung), wäre viel Blut nicht geflossen (sehr richtig!), wenn der Landeshauptmann von Wien die Militärassistenz angesprochen hätte.

Es vergingen Stunden, während dieser Stunden sind die Ausschreitungen immer ärger geworden, sind Todes­opfer gefallen. Da mußte nun der Polizeipräsident in seinem eigenen Wirkungskreise vorgehen; er hat bestimmte Abteilungen der Polizei mit Gewehren bewaffnet. Erst seitdem ist ein Umschwung eingetreten; jetzt war der Zeitpunkt, in dem die Ordnungsgewalt wieder Herr werden konnte über die nicht nur demonstrierenden, sondern plündernden, brandstiftenden und gegen die Wache tätlich vorgehenden Massen. Es ist dann die Militärassistenz durch den Polizeipräsidenten auf seine eigene Verantwortung zu einem bestimmten Zweck herangezogen worden, um nämlich den Hauptkampf­platz, die Gegend um das Parlament und den Justizpalast, abzusperren.

Die Befürchtung, die wahrscheinlich den Herrn Landes­hauptmann von Wien geleitet hat, als er die Anforderung der Militärassistenz abgelehnt hat, daß durch das Aufziehen des Militärs die Erregung noch mehr wachsen könnte und daß die Soldaten allzu früh schießen könnten, hat sich Gott sei Dank gar nicht bewahrheitet.

Seitdem das Militär den Hauptkampfplatz besetzt hatte, haben hier die Exzesse aufgehört; das Militär brauchte nicht einen einzigen Schuß abzugeben Gerade aus dieser Beobachtung heraus haben wir die Überzeugung geschöpft, daß vielleicht die Hälfte der Blutopfer vermieden worden wäre, wenn das Militär rechtzeitig zum Schutz der Polizei herangezogen worden wäre.

Es hätte nicht zu schießen brauchen, es hätte nur durch die Straßen marschieren müssen. (Zustimmung. — Zwischenrufe.— Seitz: Überlassen Sie das uns Wie­nern, wir verstehen das besser! — Ruf: Sie haben nichts verstanden! — Dr. Waber: Sie sind der Schuldige! — Abg. Dr. Bauer: Die eigentliche Schießpartei, die Großdeutschen!) Die Maschinengewehre wirken besser als die Waffen, die die Polizei hatte; die Maschinengewehre wirken, ohne daß ein Schutz aus ihnen abgegeben werden muß, durch ihren bloßen Anblick und die Polizei hätte dann nicht mit Gewehren bewaffnet werden müssen und hätte nicht von diesen Gewehren Gebrauch machen müssen.

Dieser erste Fehler hat sich beim Landeshaupt­mann von Wien später auch noch in einer anderen Weise gerächt. Er wurde weiter gedrängt. Als am zweiten Tage, nicht mehr im Zentrum der Stadt, aber draußen in den äußeren Bezirken, lebhafte Unruhen waren, Stürme auf Polizeikommissariate und Wachstuben unternommen, als Wachebeamte durch Schüsse niedergestreckt wurden in einem Augenblick, da sie selbst gar nicht zur Waffe griffen— da hat der Landeshauptmann und Bürgermeister von Wien gespürt, was ihm abgeht, weil er die Militärassistenz nicht requiriert hat. Sonst, in anderen Zeiten, konnte die Polizei, ohne Gewehre tragen zu müssen, vor dem bewaff­neten Militär einhergehen, warnen, die Demonstranten auf die Gefahr aufmerksam machen, in der sie sind, jene, die zufällig aus den Straßen sind, wegschicken und bergen. Jetzt, da die Polizei selbst aus den Gewehren schießen mußte, war niemand da, der so vor ihr hergehen konnte.

(Unruhe.)

Es wäre noch immer die Militärassistenz zu haben gewesen, von der man bereits gewußt hat, daß sie zur Ordnung hält und für Exzesse nicht zu haben ist. Aber der Bürgermeister von Wien ist einen anderen Weg gegangen, um dieser Gemeindeschutzwache die Funktionen der Polizei zu geben.

Ich bin der letzte, der etwa dem Bürgermeister von Wien daraus einen Vorwurf macht, daß er, ohne zu fragen, ob er von den zuständigen Körperschaften eine Bewilli­gung hat, in einem solchen Falle vorgegangen ist und das getan hat, was er für gut befunden hat. Ich würde es in einem solchen Falle auch so machen, in einem Falle, in dem man nicht lange fragen und sich nicht lange Deckungen holen kann. […]

In: Reichspost, 27.7.1927, S. 1-2.

Leo Lania: Das Kapital und die Wissenschaft. (1924)

(Zum neuesten Werk Upton Sinclairs: Parademarsch)

Im Jahre 1901 verließ ein einundzwanzigjähriger Jüngling die Universität Kolumbia in den Vereinigten Staaten. Es war das ein junger Mann aus „guter bürgerlicher Familie“, sein Vater und Großvater hatten hohe Stellen in der amerikanischen Beamtenschaft bekleidet und wenn die Familie auch keineswegs mit Glücksgütern gesegnet war, so hatte doch der Junge Elend und Not, Hunger und Armut nicht kennengelernt. Nach Absolvierung der Volksschule und der städtischcn Hoch­schule (eine Art Gymnasium) bezog der Jüngling eine

der vornehmen Universitäten des Landes, um sich literarischen und philosophischen Studien zu widmen. Von einem glühenden Ehrgeiz beseelt, durch eine rasche Auffassungsgabe und gute Lernfähigkeiten ausgezeichnet, stürzte sich der Jüngling mit Eifer und Idealismus ins

Studium — eine furchtbare Enttäuschung riß ihn schon nach wenigen Wochen aus allen Träumen und Illusionen. Den wahren Quell der Bildung hatte er hier zu finden gehofft— eine gähnende Leere und eine öde Langweile fand er in Wirklichkeit. Die ganze große Institution war eine hohle Nuß, ein seelenloser Körper, eine Masse aus Stein und Ziegel, zusammengehalten vom Bureaukratismus … Die Vorlesungen nichts anderes als ein schlechtes Resümee irgendeines trostlos trockenen Lehrbuches, die Professoren ehrgeizige Streber, die Studenten eitle Hohlköpfe, die im Sport, im Flirt, im Saufen und „Kot…leben“ völlig aufgingen. Und das Seltsamste: jeder, der wirklich etwas zu lernen hatte, wurde auf irgendeine Art von der Universität Kolumbia verbannt. Nur die Stumpfen oder die Schlauen blieben übrig, die Guten mußten gehen.

Angewidert von dieser kalten, seelenlosen Mechanik des Universitätsbetriebes, verließ der Jünglig nach einigen Monaten die Universität und zog in die Welt hinaus. Er hatte insgesamt neun Jahre dem Studium geopfert und glaubte daher, „ein vollkommen gebildeter

Mensch“ zu sein. Doch nach kurzer Zeit mußte er die schmerzliche Entdeckung machen, daß er die langen Jahre völlig nutzlos vertan hatte. „Ich wußte nichts über Hygiene und Gesundheit,“ so erzählt uns der junge Mann, „ich wußte nichts von Frauen, kannte außer

meiner Mutter noch drei oder vier weibliche Wesen, ahnte nicht, wie ich mit ihnen umgehen sollte. Von geschlecht­lichen Dingen wußte ich ebensoviel, wie die alten religi­ösen Asketen, aber nichts über die modernen Entdeckungen und Theorien auf diesem Gebiet. Ich wußte auch nichts von der modernen Literatur der verschiedenen Sprachen. Was die Weltgeschichte anlangt, so endete sie für mich mit dem Deutsch-Französischen Kriege vom Jahre 1870; seither schien sich überhaupt nichts ereignet zu haben. Freilich gab es Tageszeitungen, doch wußte ich nicht, was diese Zeitungen waren, wer sie beherrschte, in welchem Verhältnis sie zu mir standen. Ich wußte, daß unsere Politik korrupt sei, doch kannte ich nicht die Ursache der Korruption, noch aber wußte ich, was gegen sie unternommen werden konnte, vom Geld. dem Lebensblut der Gesellschaft, und von der Rolle, die es im Leben des modernen Menschen spielt, ahnte ich nichts. Und was das Proletariat betrifft, so hatte ich mich mit einigen aus Zeitungen geholten Vorurteilen begnügen müssen. Was aber für mich das Allerbedeutsamste war: ich ahnte gar nicht, daß eine moderne revolutionäre Bewegung existiere. Die Namen Marx und Lassalle hatte ich gehört, stellte sie mir als unheimliche Menschen vor, die in Hinterzimmern von Bierkneipen zusammen kamen, Ver­schwörungen anstifteten und Bomben verfertigten, sich außerdem der freien Liebe hingaben. Daß sie irgendwie auch mit meinem Leben in Verbindung standen, mich etwas lehren konnten, daß sie eine Bewegung begründet hatten, die die ganze Zukunft umfaßt — darüber wußte ich ebensowenig wie über die Zivilisation des Negerstaates Dabome oder die Topographie des Mondes.“

Der junge Mann hatte schon frühzeitig Proben ausgesprochener literarischer Begabung abgelegt — keiner seiner Lehrer und Professoren hatte sie einer Förderung für wert befunden; niemand es als seine Aufgabe angesehen, die in dem Jungen schlummernden Kräfte und Fähigkeiten zu wecken. Und mit bebender Angst hatte dieser den Zeitpunkt herannahen sehen, da auch ihn wie die meisten seiner Kameraden „die Walze des Schulapparats endgültig zermalmen“ würde. Da war er von der Universität geflohen.

***

Der junge Mann ging nach Chikago. Und da er ein Jüngling war, dessen Augen scharf und klar in die Welt blickten und dessen Ohren zu hören verstanden und dessen Herz am rechten Fleck saß, so sah er in Chikago nicht nur die Marmorpaläste der Konservenkönige, sondern auch die Hinterhöfe der Fabriken, er hörte nicht nur die tönenden Reden er Direktoren, sondern auch das Weh- und Jammergeschrei der Frauen, Mütter und Kinder, deren Söhne und Ernährer zu Tausenden von dem gräßlichen Vielfraß Kapital zu Krüppeln geschlagen, verstümmelt, getötet wurden, bloß weil die Unternehmer das Geld zur Anlage von Schutzvorrichtungen sparen wollten und ihren Arbeitern den letzten Blutstropfen aus den Adern preßten. Der junge Mann hatte in die grausigste Schlachtkammer des Kapitals geblickt, er hatte voll Schauder gesehen, wie die Konservenkönige, die Herren von Chikago, trichinöses, giftiges Fleisch in die Konserven verarbeiteten, um mehr und noch mehr Profit herauszu­schlagen, und wie sie dadurch Leben und Gesundheit von Millionen Menschen diesseits und jenseits des Ozeans aufs Spiel setzten. Und das Furchtbarste: da war niemand, der den Mut hatte, aufzustehen und diese Schand­taten an die Öffentlichkeit zu bringen, niemand, der den Mut hatte, den Kampf gegen die Mächtigen von Chikago aufzunehmen. Unser Freund war jung genug, um den Kampf zu wagen; er konnte, er wollte nicht schweigen. Er legte alle seine Beobachtungen in einem Buch nieder, verarbeitete sie zu einem Roman, den er The jungle (Der Sumpf) nannte. Sein Erscheinen wirkte wie eine Bombe. Der junge Mann war in wenigen Monaten eine amerikanische, eine europäische Berühmtheit. Aber noch mehr: er war in Chikago Revolutionär, er war Sozialist geworden. Den Königen und Fürsten der amerikanischen Börse, den Herren von Stahl und Eisen, den Beherrschern des Weizens und Petroleums war ein erbitterter und unversöhnlicher Feind erstanden: Sein Name ist Upton Sinclair.

                                                                       ***

Es sind nun mehr als zwanzig Jahre her, daß Sinclair jenen berühmten Roman erscheinen lieh. Eine ganze Bibliothek von Romanen, Novellen, Studien und Theaterstücken hat er seither veröffentlicht:[1]) ein nie er­müdender Kämpfer für Freiheit und Recht der Unterdrückten und Geknechteten. Die Mächtigen der Ver­einigten Staaten kennen und hassen ihn — doch sie sind ihm widerstandslos ausgeliefert. Denn in diesen langen zwanzig Jahren hat Sinclair jeden Trick, jeden Winkel des Gehirns der Fürsten und Herzoge Amerikas bloßgelegt und da ist niemand, der so die Maschinerie des industriellen und finanziellen Lebens, den „Geldtrust“ kennt wie er. Da tritt er jetzt mit einem neuen Werk // auf den Plan: Der Parademarsch (ebenfalls im Malik-Verlag erschienen). Kein Roman— „Eine Studie über amerikanische Erziehung“ nennt er das Buch. Es gibt nur ganz wenige Romane, die so spannend zu lesen sind, wie diese „Studie“, wenige Werke überhaupt, deren Kenntnis für alle Werktätigen dieser Erde, insbesondere für die jungen Kämpfer in den Reihen des Proletariats von solcher Wichtigkeit ist.

Sinclair erläutert den Zweck seines jüngsten Buches, das in den nächsten Wochen in deutscher Übersetzung gedruckt vorliegen wird, wie folgt: „Unser Schulsystem ist nicht dem Dienst der Allgemeinheit geweiht, sondern das Spezialwerkzeug des Privilegs: es bezweckt nicht die Förderung des Allgemeinwohls, sondern die Erhaltung des amerikanischen Kapitalismus. Diese Tatsache zu beweisen ist der Zweck meines Buches …“ Und warum er diesen Titel gewählt? „Wir verausgabten etwa dreißig Milliarden Dollar, ver­nichteten Hunderttausende von jungen Leben, um die deutsche Autokratie zu zerstören, glaubten allen Ernstes, dadurch von der Erde jenes Uebel zu verbannen, das den Namen „deutsche Kultur“ trägt. Diese „Kultur“ war nicht nur etwas Körperliches, war nicht nur der Drill eines ganzen Volkes, der die Macht der Militärkaste vergrößern sollte, sondern auch eine geistige Sache: das Regime des autokratischen Dogmatismus… und nun sollt ihr selbst sehen, ob ich mit meiner Behauptung recht habe, daß wir, indem wir den Parademarsch aus der Welt zu schaffen glaubten, weiter nichts taten, als ihn in unser eigenes Land zu verpflanzen und uns unter seine Herrschaft zu bringen… ihm unsere Gedanken und, was noch weit ärger ist, die Erziehung unserer jungen Generation zu unterwerfen.“

Und Sinclair führt lückenlos den Beweis, den er erbringen will. Und führt ihn so, daß wir in atemloser Spannung lauschen, während er von unseren Augen den Schleier hebt, mit dem der amerikanische Kapitalismus seine Knechtungsmethoden und die Seelenvergiftung, die er so großzügig betreibt, kunstvoll zu mas­kieren versteht. Sinclair „will nicht in diesem Buche seine Ansichten über Erziehung unterbreiten, will nicht erläutern, wie das System sein könnte oder sollte“ — er gibt Tatsachen, er erzählt uns schlicht, ohne Pathos, aber mit Ingrimm und kaltem Spott, was auf den Universi­täten vor sich geht. Über ein Jahr lang hat er das amerikanische Erziehungssystem studiert, hat zu diesem Zwecke das ganze Land bereist, hat Tausende von Menschen – Lehrer, Rektoren, Studenten — ausgefragt, Bücher und Statistiken verarbeitet, um uns enthüllen, zu können, wie die amerikanischen Hochschulen, die 600.000 jungen Menschen Bildung und Wissen vermitteln sollen, jene „Festungen der Plutokratie“, die Munitionsfabriken der herrschenden Klassen geworden sind, die die geistigen Bomben und Giftgase für den Klassenkampf gegen das Proletariat herstellen.

Die zehn bis zwanzig Könige der amerikanischen Hochfinanz und Industrie sind die Kuratoren der amerikanischen Universitäten, die Rektoren und Professoren sind ihre Angestellten. Die Universitäten besitzen Ver­mögen, Aktien von Unternehmungen, die jenen gehören, die im Kuratorium der Hochschulen entscheidenden Sitz und Stimme haben. Da gibt es also eine Universität des Bauholztrustes, des Petroleums, des Weizens, des Kupfers, der Gas- und der Elektrizitätsgesellschaft. Ein dichtmaschiges, riesiges Netz ist über ganz Amerika ausgebreitet, dem niemand entrinnen kann. Fällt es einem Professor, einem Rektor ein, gegen den Willen der Kuratoren die Studenten zum selbständigen Denken, zum Erkennen der Wahrheit zu erziehen — er verliert un­fehlbar seinen Posten. So blüht die „reine Wissenschaft“: „Ihr Sklaven des großen Bostoner Warenhauses, von dem die Harvarder Universität fünfundzwanzighundert Aktien besitzt, findet euch ab mit der langen Arbeitszeit, den niederen Löhnen und der Tuberkulose, zu der ihr verdammt seid, denn für den von euch erzeugten Reich­tum hat ein gelehrter Mann die Menschheit über „die Anwendung der starken Konjugation bei Chaucer“ auf­geklärt! Ihr Polizisten, deren Streik durch die Harvarder Studenten abgewürgt wurde, findet euch ab mit eurem Hungerlohn, hat doch einer dieser Studenten die Menschheit über die „Syntax des Infinitivs bei Shakespeare“ aufgeklärt! Ihr Mädchen, die ihr in den Textilfabriken schuftet, die ihr in den „Weiberstädten“ Neuenglands auf den Strich geht und euren Leib für ein belegtes Brot verkauft, frohlockt, denn ihr habt es ermöglicht, daß die Menschheit etwas über den „Konjunktiv in Layamons Brut“ weiß! Ihr Männer, die ihr zwölf Stunden täglich vor den glühenden Hochöfen Bethlehems, Midvales und Illinois Steel front, seid fröhlich, packt die Schaufeln fester an, denn eure Arbeit ermöglicht der Menschheit, sich genau über den „Ursprung des Romans in Briefform“ zu unterrichten. Ihr Berg­leute, die ihr, jeden Augenblick von Tod und Verstümmelung bedroht, in den Eingeweiden der Erde schuftet, findet euch damit ab, daß die große Universität keine Schutzvorrichtungen anbringen konnte, die euer Leben zu retten vermöchten, hat sie doch das dazu bestimmte Geld ausgegeben, um die „während Sir Robert Walpoles Regierungszeit geschriebenen politischen Balladen“ zu sammeln und zu veröffentlichen!“

Sinclair erzählt uns die Geschichte der zwanzig Hochschulen in den Vereinigten Staaten von ihrer Gründung bis auf den heutigen Tag. Eine Geschichte, die sich wie eine Verbrecherchronik liest, die sich in phantastischen Steigerungen überbietet — eine Geschichte des gigantischen Siegeszugs des amerikanischen Kapitalismus —, Verbrechen, Korruption, Mord und Totschlag bezeichnen ihren Weg. „Das sind doch typisch amerikanische Zustände!“ ist vielleicht mancher im ersten Augenblick auszurufen versucht. „Bei uns in Europa…“

Nun, die Perspektiven, die Sinclair für die nächsten zehn Jahre aufzeigt: „Die Universität wird auch eine Abteilung für Streikbrecher, für das Hand­haben des Gummiknüppels und die Anwendung des „dritten Grades“ besitzen. Beredte Artikel werden schildern, daß die Geschäftsleute ihre Zeit dazu verwenden, Agitatoren von ihren Betrieben fernzuhalten, wobei der Geheimdienst der großen Körperschaften eine gewaltige Rolle spiele, und deshalb sei die Universität im Begriff, eine Fakultät für Spitzel zu gründen.“

Amerika, du hast es besser! In zehn Jahren? Europa hat bewiesen, daß es mit der Zeit zu gehen ver­steht: Streikbrechergarden, „Technische Nothilfe“, Geheimbünde, Korruption, Juden- und „Marxisten“- verfolgungen… Sinclairs Prophezeiungen für das Jahr 1933 sind in Europa im Jahr 1923 schreckliche Wirklichkeit geworden.

Und dennoch: Selbst in Harvard gab es im Krieg einen Studenten, dem es gelang, sich aus der Gletscher­welt der kultivierten Vorurteile einen Ausweg zu bahnen. Er ging nach Rußland und gab sein Leben für die Revolution, seine großmütige Persönlichkeit wird in der russischen Geschichte alle von den Kapitalisten der amerikanischen Regierung gegen Rußland be­gangenen Verbrechen auslöschen… John Reed!“

In memoriam John Reeds und aller jener, die drüben in Amerika den schweren, ungleichen Kampf gegen die Könige des Geldsacks gewagt haben, ist diese Schrift Sinclairs entstanden. Kein blutloses, erklügeltes „Kunstwerk“ — eine Kampf-, eine Tendenzschrift im wahrsten Sinne des Wortes. Ein Pamphlet? Ja, aber eines, das uns alle angeht, wo immer wir wohnen, welche Sprache wir auch sprechen: denn diese „Studie über amerikanische Erziehung“ ist in ihrer Allgemeingültigkeit in Wahrheit eine Studie über den Kapitalismus, über die bürgerliche Erziehung überhaupt.

In: Arbeiter-Zeitung, 24.1.1924, S. 9-10.


[1] [Orig.FN] Der Malik-Verlag, Berlin, gibt jetzt die Werke Sinclairs gesammelt heraus.

N.N.: Die Rote Garde gegen das Parlament. Sturmszenen und Panik (1918)

[…] Hierauf verläßt der Staatsrat die Rampe und zieht sich ins Parlament zur weiteren Tagung der Nationalversammlung zurück. Die Tore schließen sich. Während die Massen vor dem Parlament sich zum Abzug anschicken, fällt plötzlich, es ist etwa 5 Minuten vor halb 5 Uhr, ein Schuß. Doch die Ruhe in den nächsten Minuten läßt Zweifel darüber aufsteigen, ob es wirklich ein Schuß war. Bald aber hört man Salven und ununterbrochen Schuß auf Schuß fallen. Des unzähligen, durcheinander gewürfelten Publikums bemächtigte sich eine ungeheure Panik. Einige Beherzte versuchen, die Ruhe herzustellen. Es geht aber nicht. Es beginnt eine wilde Flucht nach allen Nebenstraßen des Franzensringes. Viel schlimmer noch ist die Panik, die auf den der Bellaria zu gelegenen Seiten entsteht. Tausende von Menschen laufen in Angst und wildschreiend zur Oper zu, wo sich ein unentwirrbarer Knäuel von Menschen gebildet hat. Wie in äußerster Todesgefahr drängte jeder vorwärts. […]

Gewehrfeuer gegen das Parlament.

            Kein Mensch weiß, was eigentlich geschehen ist, niemand kennt die Ursache der furchtbaren Szenen. Dann aber heißt es: Die Rote Garde will das Parlament stürmen! Die unmöglichsten Gerüchte durchschwirren die Luft, und erst nach geraumer Zeit klärt sich die Situation. Die tatsächlichen Vorgänge waren folgende: Nachdem Präsident Seitz seine Ansprache beendet hatte, zog er sich mit den Mitgliedern der Nationalversammlung in das Abgeordnetenhaus zurück. In diesem Momente drängte die Rote Garde nach, um in das Parlament zu kommen. Dies wollte man verhindern und die Gardisten bedienten sich daher der Gewehrkolben. Nun entstand ein noch ärgeres Gedränge, da alle die schützende Säulenhalle erreichen wollten. Präsident Seitz gab den Auftrag, die Tore auf keinen Fall zu öffnen und die Lichter in der Vorhalle abzudrehen, was auch sofort durchgeführt wurde. In den nächsten Augenblicken hörte man heftige Schläge gegen das große Gittertor und das Klirren der Scheiben hallte in den weiten Räumen wider. Die massiven Tore gaben jedoch nicht nach. Unter dem Publikum, das von den Galerien in die übrigen Räume des Parlaments gelangt war, entstand große Aufregung. Die Leute stoben nach allen Richtungen auseinander. Bald darauf hörte man eine heftige Schießerei. Es war sofort erkennbar, daß auf das Parlament geschossen wird, und der Aufenthalt in der Säulenhalle und in den vorgelagerten Räumen war lebensgefährlich. Das Gewehrfeuer dauerte etwa zehn bis fünfzehn Minuten, die manchen Leuten zu einer Ewigkeit wurden. Die Mitglieder des Staatsrates bewahrten vollkommene Ruhe. Der Preßleiter Ludwig Brügel wurde durch einen Kopfschuß schwer verletzt, ein Projektil war oberhalb seines linken Auges eingedrungen. Mittlerweile war bekannt geworden, daß die „Rote Garde“ alle Tore des Gebäudes besetzt hatte. Nach einer Pause von einer halben Stunde wurde die Sitzung der Nationalversammlung, die anläßlich der Ansprache an die Menge unterbrochen worden war, wieder aufgenommen und die restliche Tagesordnung in aller Ruhe und ohne jeden Zwischenfall erledigt. Im Hause waren auch eine Reihe nichtdeutscher Abgeordneter anwesend, die längere Zeit das Gebäude nicht verlassen konnten; sie äußerten ihr schärfstes Mißfallen und Bedauern über diese Gewalttat. Unterdessen waren vor dem Parlament die Stadtschutzwache und Volkswehr aufgezogen. Staatssekretär Mayer empfing ein Mitglied der „Roten Garde“. Es stellte sich heraus, daß es sich angeblich nur um ein Mißverständnis gehandelt habe. Die ganz unsinnige Behauptung, daß aus dem Parlament scharf oder auch nur blind geschossen worden war, konnte durch nichts erhärtet werden. Die Roten Gardisten räumten sodann das Feld.

[…]

Die Rote Garde in der Redaktion der „Neuen Freien Presse“.

            In den Abendstunden erschienen Mitglieder der Roten Garde in der Redaktion der „Neuen Freien Presse“ in der Fichtegasse. Sie besetzten das Gebäude und erklärten, daß sie von nun an die Leitung des Blattes in die Hand nehmen würden. Diese Tatsache wurde durch ein Extrablatt bekannt gemacht, in dem es heißt: In Ausführung eines Beschlusses der kommunistischen Partei wurde heute nachmittags das Redaktionsgebäude der „Neuen Freien Presse“ durch Volkswehr und Rote Garde besetzt. Die „Neue Freie Presse“ wird bis auf weiteres unter der Kontrolle kommunistischer Redakteure erscheinen. Für vollkommenen Ruhe wird verbürgt. Die Gerüchte, daß die Rote Garde an der Schießerei beim Parlament, welche eine furchtbare Panik hervorgerufen hat, teilgenommen hätte, sind vollkommen erlogen. Es wurde aus dem Parlament blind geschossen. Gezeichnet: Osternig, Koniakowsky, Rote Garde, Hoffmann, Lux, Infanterie-Regiment Nr. 4.

            Zu einem späteren Termin wurden Verhandlungen mit den Gardisten eingeleitet. Volkswehr und Sicherheitswache war inzwischen aufmarschiert und die Rote Garde bewogen, das Haus zu verlassen. Bald darauf erschien eine zweite von der Roten Garde herausgegebene Extraausgabe, in der erklärt wird, die ganze Besetzung des Redaktionsgebäudes sei nur als warnendes Beispiel anzusehen, als Beweis dafür, daß die Soldaten und Arbeiter imstande seien, wenn sie wollten, die Macht an sich zu reißen. Das hätten sie der Polizei mitgeteilt und seien dann ruhig abgezogen.

            Ein kleines Aufgebot von Sicherheitswache ist zum Schutze des Redaktionsgebäudes zurückgeblieben.

In: Fremden-Blatt, 13.11.1918, S. 5.

N.N.: Der Umsturz (1918)

            Die Bevölkerung von ganz Österreich ist von fieberhafter Gärung ergriffen. Im Norden und im Süden erschallt befreiender Jubel über die Schaffung der neuen nationalen Staatsgebilde. Er ist nur zu begreiflich, sind doch die Tschechen und Südslawen der Unterstützung von seiten der siegreichen Entente sicher. Deutschösterreich hat sich viel zu spät auf sich selbst besonnen, und der Moment, da es von seinem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch macht, findet es in der denkbar gefährlichsten Situation. Unsere unmittelbaren Nachbarn sind uns recht wenig freundlich gesinnt. Die Absperrung der Lebensmittelzufuhren ist ein sichtbarer Beweis hiefür. Hinter diesen Nachbarn steht aber der Feind, mit dem wir seit fünfviertel Jahren im mörderischesten aller Kriege stehen. Die unglückliche Politik einer k.u.k. Regierung hat uns so weit gebracht, daß wir nun darauf angewiesen sind, unser Schicksal vom Gegner bestimmen zu lassen. Wie es beschaffen sein wird, ist noch in Dunkel gehüllt.

            Düsterer als die Zukunft ist aber die unmittelbare Gegenwart. Die Berichte aus dem Kriegspressequartier verkünden, daß das italienische Gebiet geräumt wird. Was das zu bedeuten hat, vermag die üppigste Phantasie kaum auszumalen. Der Verlust der besetzten Landstriche wäre noch das wenigste. Wir können ihn um so leichter verschmerzen, da ja die Freigabe der nichtdeutschen Provinzen bereits eine ausgemachte Sache ist. Dagegen ist zu befürchten, daß der Rückzug der Armee Erscheinungen auslösen wird, welche die Sicherheit und Ordnung des Hinterlandes aus das Schwerste bedrohen. Was wird geschehen, wenn für die zurückflutenden Soldatenmassen keine Nahrungsmittel vorgesehen sind? Die Zivilbevölkerung hungert sich von einem Tag zum anderen hinüber. Sie kann den durchziehenden Heeresmassen so gut wie gar nichts bieten. Der Hunger treibt aber den Gutmütigsten zu Taten der Verzweiflung…

            Wie eine drohende Gewitterwolke naht das Unheil immer näher. Wir vernehmen, daß die „Grünen Garden“ das Feld ihrer Schreckenstaten bis nach Steinbrück ausgedehnt haben. Auf den südlich gelegenen Bahnstrecken spielen sich schon jetzt furchtbare Szenen ab und in den allernächsten Tagen dringt die Welle der Auflösung aller ordnenden Bande vielleicht bis zu uns, wenn es uns nicht gelingt, ihr rechtzeitig einen Damm zu setzen. Es werden geradezu übermenschliche Anforderungen an die Spannkraft unserer Nerven gestellt werden. Wir werden ihnen nur gerecht werden können, wenn jeder einzelne kaltes Blut bewahrt und seine ganze Persönlichkeit in den Dienst des Gemeinwohls stellt.

            Der von den Vertretern aller Bevölkerungskreise eingesetzte Wohlfahrtsausschuß steht mit den militärischen Stellen in Verhandlungen, um entsprechende Sicherheitsmaßnahmen zu treffen. Jedermann, der die Stimmung unserer Soldaten und Offiziere kennt, weiß, daß sie mit Begeisterung bereit sind, sich der Sache des Volkes zur Verfügung zu stellen. Die k.u.k. Armee ist im Begriffe, sich in eine Volkswehr im vollsten Sinne des Wortes umzubilden, und wenn sie für ihre Aufgabe zu schwach sein sollte, sind die Arbeiter selbstverständlich bereit, ihre Reihen zu verstärken. Ihre Aufgabe ist es aber nicht, etwa einen auswärtigen Feind zu bekämpfen, sondern für die Aufrechterhaltung der Ordnung im Innern in diesen schweren Tagen Sorge zu tragen.

            Damit dies aber möglich sei, müssen alle Versuche von einzelnen Leuten, auf eigene Faust vorzugehen, mögen sie dabei auch von den besten Absichten geleitet sein, mit Entschiedenheit zurückgewiesen werden. Wir sind sonst keine Freunde allzu weitgehender Ordnungsmacherei. In dieser ernsten Zeit hängt aber alles davon ab, daß sich jedermann dem Willen derjenigen unterordne, die von dem Vertrauen der Bevölkerung getragen sind. Niemand soll sich durch die unruhige Zeit zu unüberlegten Handlungen hinreißen lassen. Durch solche Handlungen schaden wir uns nur selber. Die Bevölkerung möge wissen, daß trotz der eruptiven Erscheinungen, welche die Gründung des südslawischen Staates begleiten, nicht alle Fäden nach dem Süden abgerissen sind. Es zeigt sich vielmehr, daß auch die verantwortlichen Führer der Südslawen sich dessen bewußt sind, daß sie auch in Zukunft unsere Nachbarn sein werden und daß sie deshalb auch in ihrem Interesse handeln, wenn sie in ihren Handlungen möglichst einvernehmlich mit uns vorgehen. Über alle auftauchenden Differenzen kann und wird verhandelt werden, und der Bürgermeister von Marburg hat ein treffendes Wort ausgesprochen, als er in einer Aufrufe sagte: „Es ist unsere heiligste Pflicht, Ruhe und Ordnung zu halten und allen Hader und Zwist, welcher geeignet ist, die Verhandlungen zu hindern, zu bannen, da dieselben nur geeignet sind, der Bevölkerung den längst ersehnten Frieden vorzuenthalten.“ Darum noch einmal: Kühles Blut wie, wenn es sein muß, kühne Entschlossenheit, sind heute notwendiger denn je.

In: Arbeiterwille (Graz), 1.11.1918, S. 1.