Oskar M. Fontana: Der Fall Ferdinand Bruckner (1928)

Gleichgültig, ob die Literatur-Schupo Ferdinand Bruckner bereits gestellt und zur Strecke gebracht hat oder ob er noch einmal flüchten konnte —: der Fall Ferdinand Bruckner ist die größte Blamage des deutschen Kunstlebens. Weil er zeigt, daß die Neugier: „Wer ist Ferdinand Bruckner?“ stärker ist als die Frage nach seinem Werk. Man ist den betriebsamen, allzu sichtbaren Autor schon so gewohnt, daß man einen Dramatiker, der ein Element des Dichterischen: die Anonymität aufsucht, nicht vertragen kann, daß ihn aus seinem Dunkel aufzuscheuchen, alle Kräfte der Kunstreportage aufgeboten werden, daß sich an seine Erscheinung alle Reklamegierigen in Berlin und Wien heften, um nur noch eine Zeile des Druckerschwärze-Ruhms zu profitieren. Ein widerlicher Anblick. Er enthüllt wie nichts die Wichtigkeit des Marktes im heutigen Literaturbetrieb, er enthüllt, daß die Tat ganz nebensächlich ist, daß nur der Lärm entscheidet. Man will sehen und greifen, man will nicht ergriffen werden. Man kann einen Dichter nur noch als einen bürgerlichen Verdiener verstehen.

Nach dem Sinn seiner Sendung, nach der Qual seines Suchens, nach dem Glück seiner Annäherung an erkennende Gestaltung fragt niemand.

Ferdinand Bruckner ist vielleicht kein weltfremder Mensch, er ist — was sehr möglich scheint — einer, der gerade die Auffälligkeit der Unauffälligkeit, der Unsichtbarkeit als Reklamewert einkalkuliert hat. Aber wie hätte er nicht an dem Wert des selbstlosen Werkes irre werden, wie hätte er nicht das Spiel mit der Person als nutzbar lernen sollen! Seine Krankheit der Jugend lag jahrelang in den Theaterkanzleien. Kein, Verlag, der zugrunde ging, weil er jeder Beziehung, jeder Konjunktur gehorchte, vertrieb wohl Bruckner und sein Drama. Aber er druckte es nicht. Denn wer war Ferdinand Bruckner? Keine Clique reklamierte ihn. Dennoch spielten ihn ein paar Theater. Der Erfolg war beträchtlich. Aber weder reagierte darauf Berlin noch die Literatur.

Der Zufall einer Lücke im Repertoire brachte die Krankheit der Jugend endlich zu Hartung ans Renaissancetheater. Aber was als Verlegenheit für ein paar Tage gedacht war, wird ein ungeheurer Erfolg. Und sofort beginnt die Jagd der Verleger, der Theater nach Ferdinand Bruckner. Ihn, den zuvor niemand druckte, niemand in Berlin riskierte, bringt nun der größte deutsche Verlag, führt nun das repräsentativste Theater Deutschlands auf. S. Fischer und Max Reinhardt beginnen, Hand in Hand, zu „fördern“. Und ebenso augenblicklich will alles, muß alles wissen, was das Unwichtigste auf der Weilt ist: „Wer ist Ferdinand Bruckner?“

Es ist ganz in Ordnung, es gehört zu dieser Groteske eines Betriebs, dem das Werk selbst immer Nebensache war und ist, daß das neue vielbegehrte Schauspiel Ferdinand Brückners Die Verbrecher weit schwächer ist als das erste, so lange unbeachtet gebliebene Drama Krankheit der Jugend. Eine große Begabung sucht sich noch. Wer hilft ihr dabei? Das Geschrei geht nur darum: „Wer ist der Kerl, wer ist Ferdinand Bruckner?“ Handgranaten gegen sein Versteck! Er muß sich zeigen!

In: Tage-Buch, Nr. 45/1928, S. 1906.

Paul Hatvani: Wir haben keine Zeit! (1918)

            Wir haben keine Zeit. Wir sind Jugend. Jugend dauert nur zehn oder bestenfalls zwanzig Jahre. Diese kurze, schmerzlich-vergängliche Zeit ist da: Wir dürfen sie nicht unnütz vergeuden!

            … Jugend ist Geist: Nachher bleibt allenfalls ein soziologisch-orientiertes Bewußtsein als Erinnerung. Jetzt aber sind wir im Stande, die beglückende Gleichung „Jugend = Zeit“ mit dem entscheidenden Gleichnis „Geist-Tat“ zu ergänzen. Dieses Ganze ist uns Welt und Weltanschauung, Sendung und Beruf.

                Wir haben keine Zeit. Daher ist jedes Ornament überflüssig. Nicht mehr vor Metaphern beugen wir uns, sondern vor den Erscheinungen und Ereignissen dieser Welt. Zwischen dem „Ich bin“ des wachen Bewußtseins und dem Echo „Nihil“ der Welterkenntnis suchen wir unsern Sinn in menschlicher Hast. Die Schuld, müde zu werden, bedrückt uns. Der Geist darf nicht ermüden; sein erstes Gebot heißt Pflichtbewußtsein!

            Das Pflichtbewußtsein des Geistes nimmt uns alle Zeit weg. Es erzwingt die eiserne Ökonomie der Form. Unsere Form ist die Forderung, die Formulierung, das Manifest! Der Inhalt sind wir selbst. Wir, die Jugend des Geistes; wir, der Geist in dieser Zeit unendlicher Bedrängnis.

            Wir sind die Besinnung. Wir fühlen, was wir denken. Wir denken, was wir fühlen. Das Gleichgewicht zwischen Gedanken und Gefühlen hält uns schwebend aufrecht über den Leichenfeldern dieser Zeit – – –, die wir nicht haben!

            Wir haben keine Zeit. Wir versuchen nur, uns eine neue zu verschaffen. Aus den Ruinen der Gegenwart den Geist zu erretten, ist unsere Aufgabe. – Wir wollen ihn in eine neue Zeit, in eine bessere Zeit hinüberretten!

In: Das Flugblatt. Wien, März 1918, S. 11

Oskar Maurus Fontana: Programmatisches (1918)

            Gedichte? Dichtung? Ja! Gedichte! Dichtung! Diese Hefte Bekenntnis zum Dichter. Und weil, was Dichtung ist, schon ganz fremd ist, ein verlogener Begriff wurde, bei dem sich kein wohlerzogener Mensch etwas denken kann, schütteln alle klugen Leute ihre studierten Köpfe: im Krieg Gedichte?! Aber diese Weitläufigkeit, die von allen Schüsseln gekostet und gegessen hat, ist nicht Maß, ist nicht Ziel. Ihr wurde zur Gewohnheit, Dichtung als Ornament zu sehen, als den Luxus des Geistes. Die Dichtung diente als geschmückter Paravent, hinter dem die Schieber der Zeit sich verbargen und ihre dunklen Ehrengeschäfte besorgten. Und solche, die Dichter genannt wurden und werden, machten willig die „Mauer“ dem Wandschirm. Das war, ist Kultur, ist aber nicht Dichtung. Dichtung ist das Wahrhaftigste der Welt und der Dichter ist der menschlichste Mensch. Sie schleichen sich nicht an die Dinge, sie sind in den Dingen, sie sind hinter den Dingen. Sie sind die wirklich Wirklichen. Jede andere Wirklichkeit wird vor der ihren Staub. In der Flucht der Zeit sind sie die Retter des Ewigen, in dem Gemetzel der Gewalten sind sie die Stimme der Gerechtigkeit. Kein Politiker, kein Feldherr, nicht einmal der Mystiker kommt ihnen gleich. Wo der und der vor der Forderung des Tages erliegt, wo dieser im Erkennen ertrinkt, ist der Dichter Führer zur Seligkeit, ist er der unbedingt Tätige. Ja, indem der Dichter die Landschaft anschaut, wird er schon revolutionär gegen diese Kultur, deren Gefräßigkeit Kriege bracht. Der Dichter ist das Auge, der Mund, der Geist einer Erdteile umspannenden Menschheit. Der Dichter tut, wie das russische Volkslied sagt:

                        Sang so schönen Sang der Greise,
                        So gewalt’ges Lied der Alte,
                        Daß anfing das Meer zu lauschen,
                        Daß die schäum’gen Wogen lauschten
                        Und die tiefen Ströme lauschten
                        Und auch lauschten selbst die Ufer;
                        Sang so schönen Sang der Greise,
                        So gewalt’ges Lied der Alte,
                        Daß die gelben Ufer neigten
                        Sich das eine zu dem anderen.
                        […]

Dieses Tun ist nicht Ornament, ist nicht Luxus, ist tiefste Notwendigkeit. Daß es mißkannt, verworfen, verraten werden konnte, ist kein Beweis gegen die Dichtung, nur einer gegen schwache Dichter und vor allem einer gegen das Sein heutiger Gemeinschaften, weil sich dadurch ihr Parasitäres herausstellt, ihr alles Wirkliche überwuchernde Schmarotzerhaftigkeit.

Gewiß, wir werden nach dem Krieg den Politiker brauchen, aber nicht minder in einer ganz veräußerlichten Zeit den Dichter, dessen Weg von Innen zur ganzen Welt führt.

Wieder das Gefühl für Dichtung, für den Dichter zu wecken, ihre verantwortungsvollste Gewissensnotwendigkeit zu zeigen – das ist Ziel des Flugblattes (mit sehr bescheidenen Mitteln.) Man zweifle die Qualität des Gebotenen an – schön, damit kann man sich auseinandersetzen – aber man sage nicht höhnisch: In dieser Zeit Gedichte?! Oder man sage es, aber bleibe dann hübsch bei seiner eigenen Schäbigkeit und spiele nicht weiter den Freund der Künste.

In: Das Flugblatt, Wien: III/März 1918, S. 11

Iwan Goll: Moderne europäische Literatur (1925)

Das Wort „Europa“ beginnt nun endlich langsam in der Literatur die hochtrabende Bedeutung, die es vor zehn Jahren ungefähr noch hatte, zu verlieren und ganz natürlich zu wirken. Es war an der Zeit. In allen Ländern bevorzugen neugegründete Zeitschriften dieses Wort in ihrem Titel, und die alten, wie die „Neue Rundschau“ zum Beispiel, führen „europäische“ Rubriken ein. Der Krieg hatte die Länder in mittelalterliche Festungen verwandelt. Als langsam, sehr langsam die Barrieren fielen, ergriff jeden eine unersättliche Neugier, zu wissen, was der andere in der Zwischenzeit geschaffen hat. Und in diesem Stadium befinden wir uns noch heule. Mit einem schier unauslöschlichen Durst verschlingt man die Werke fremder Literaturen und vergißt oft dabei seine eigene. Das ist namentlich bei Deutschland verständlich, das jahrelang ganz allein auf sich angewiesen war.

Seine Nachbarn zu kennen und sein europäisches Wissen zu heben, ist gewiß die erste Forderung. Sie ist aber nicht die einzige. Als zweite kommt hinzu das europäische Gefühl. Und davon ist im deutschen Schrifttum noch wenig spürbar. So wenig, daß es trotz der sehr großen Dichter, die es besitzt, nicht viel Werke von europäischer Tragweite hat. Im Anfang des Ex­pressionismus, als auch Becher einen Lyrikband An Europa betitelte, und in den Ziel-Jahrbüchern war die Tendenz viel spürbarer als nachher. Die Revolution, statt sie zu öffnen, stutzte die Schwingen begeisterter Dichter, und die nahen Sorgen umnebelten die weiten Ideale. Heute? Der Expressionismus hat sich nicht hinausentwickelt. wie man es von ihm hätte erwarten müssen. Sein großer Fehler, ein sehr deutscher Fehler, war, sich im Abstrakten zu verirren und nicht den Mut gehabt zu haben, aus den großartigen Freiheits- und Extremitätsformeln sich in rein literarische abzukühlen, eine Kriegsindustrie in eine friedenswirtschaftliche umzuwandeln. Heute hat sich der Expressionismus totgelaufen und neben ihm, nicht einmal hinter ihm, marschiert eine (faute de mieux en couche sa famme) halbklassizistische Jugend. Das aber kommtdaher, daß niemand vom Ausland hat lernen wollen. Was die deutsche Wirtschaft so gut versteht, die Kunst und die Literatur hat es noch nie fertiggebracht, sich zu assimilieren. Die Sach­verständigen in der Malerei wissen es, daß ein Pariser Bad einen Maler gründlich stärkt. Und seit mehr als fünfzig Jahren gibt man den großen französischen Roman allen zum Vorbild und keiner oder ganz wenige profilieren davon. Es ist ja sehr schön, seine eigenen großen Rasseeigenschaften zu behalten, aber so eben sprechen wir erstens vom Roman, zu dem keine deutsche Eigenschaft befähigt, und zweitens von europäischer Literatur.

So weiß man auch noch viel zu wenig von den starken und bemerkenswerten Dichtungen, die in letzter Zeit in kleinen Nebenländern, in Jugoslawien, in Ungarn, in der Tschechoslowakei, in Rumänien und Spanien hervorsprießen und die alle nach einem europäischen Ideal tendieren. Dort überall sind ganze Sekten neuer junger Dichter erstanden, die ihre avantgardistischen Zeitschriften und Theorien haben und dabei sind, ein paar hohe Stockwerke am europäischen Turm mitzubauen. Sie stehen natürlich unter dem Einfluß der großen Zentralen. Paris, Rom. Berlin, Moskau, und manch ein Dichter, der Menschheitsdämmerung würde sich wundern, wie bekannt und wie kopiert er in Bukarest ist. Aber die wichtigste Beobachtung bei der Sache ist, daß der Expressionismus gegenüber den anderen Ismen den geringsten Einfluß ausgeübt hat. Europäisches Gefühl holt man sich, ganz natürlicherweise für alle Welt: in Paris. Die Ismen von Paris, die Schulen von Paris geben den geistigen Kurs an. Und wenn irgendein Ausländer irgendeine neue Idee oder Theorie, einen Ismus, zu propagieren hat, so trägt er ihn nach Paris, wie es Marinetti mit dem Futurismus, wie es die Spanier mit dem Kreationismus usw. getan haben. Man braucht absolut nicht die Achseln über diese Ismen zu zucken. Sie werden die Exponenten der heutigen Literatur bleiben, was man auch sage. Wer möchte heute die Größe des Impressionismus bezweifeln. Der Kubismus hat dieselbe Geltung.

Man lese doch lieber diese erste Literaturgeschichte der europäischen modernen Literatur nach: Litteraturas Europeas de Vanguardia, von Guillermo de Torre (Madrid, Caro Raggio, 1925). Ja so, sie ist auf spanisch geschrieben. Ja, heutzutage weilen die grundlegenden Dokumente und Studien in nebenstehenden Ländern geschrieben, die einen viel weiteren und objektiveren Überblicke über das, was in einer Hauptstadt geschieht, geben, als die Akteure selbst.

Gerade in Prag oder in Madrid ist es leichter möglich, daß einer den Geist von Paris und von Berlin amalgamiere und etwas Europäisches daraus mache, als in diesen Städten selbst, wo der Kämpfende geblendet ist. Gerade und nur in Madrid war es möglich, daß de Torre eine große Freske des heutigen dichterischen Schaffens in der Welt zusammenstellte. Er hat viele Zeitschriften gelesen, viele Ansichten gesammelt, deren Wert und Wirkung in seinem neutralen Schiedsturm auf den richtigen Generalnenner gebracht werden konnten. In Madrid braucht ein Literat keine Feinde zu haben, denn dort kann er dem nutzen und keinem in die Quere kommen. In Paris oder Berlin wird — auch mit Ismen — um das tägliche Brot und den ewigen Ruhm gekämpft. Da setzt es Haue. Da bleiben Rankünen. Und in Zukunft wird man sich mehr und mehr neutrale Kritikergerichte anschauen müssen.

Die Hauptkapitel des Torreschen Buches beschäftigen sich also mit der allerneuesten, der avantgardistischen Dichtung. Und er findet, daß unsere Zeit sich eine neue Ästhetik geschaffen hat, die man weder in eine romantische noch in eine rein klastische klassifizieren darf. Ihr Grundcharakter ist, vor allem für die romanischen Länder, die bisher den weitaus größten Stoff geliefert haben und sich in stetigem vulkanischen Ausbruch befinden: Kubismus, Dadaismus, Surrealismus lösten sich binnen zehn Jahren ab, eine sehr verfeinerte Sensibilität, ein starker Subjektivismus, ein Versuch, die neuen Werte der Zeit in die allgemein gültigen Formeln des Kosmos einzureihen und zu unserer Natur umzubiegen, und vor allem, diese „inquiétude“ der modernen Jugend, die manchen der jungen französischen Dichter dazu gebracht hat, von einem neuen „mal du siècle“, einem neuen Weltschmerz zu sprechen. Dies zwar mutet sehr romantisch an. Aber auf der anderen Seite stehen die objektiven, materiellen Theorien der Sprechkunst, die sich auf das rein Handwerkliche, das Gesunde in der Kunst beziehen. Hier verlangt die Lyrik nach einer extremen Reinheit, und zwar handelt es sich da nicht um die alte klassische gramma­tikalische Reinheit, im Gegenteil: fort von der Grammatik und zurück zum ureigenen Wort! ist die Parole. Le mots en liberté, ist die beliebte Formel vieler Dichter gewesen, von Apollinaire über Marinetti bis zu Majakowski. Reinheit ferner in dem Sinn, daß alles Gedankliche wie Unkraut aus der Lyrik gejätet werde und nur reine, bis aufs Urwort reduzierte Gefühle und Bilder gestaltet werden.

Auf 390 Seiten analysiert Guillermo de Torre (der selber einer der besten Dichter Jungspaniens ist, mit seinem Band: Helices) jede einzelne Bewegung und jede einzelne  Persönlichkeit, sammelt dann aber alles in allgemeine Formeln und legt selbst die Grundsteine der neuen Ästhetik. Einige Kapitelüberschriften werden hier am besten einen Begriff von den behandelten Themen geben: „Die Religion der Schnelligkeit“, „Geistige oder gefühlhafte Realität“, „Entmenschlichung der Kunst“, „Theorie der geistigen Ermüdung des modernen Menschen“, „Der Sieg der Metapher“, „Lob des Kosmopolitismus“, „Einfluß des Films auf die neue Literatur“ usw.

Dies Buch greift tief und weit. Es ist wirklich europäisch gedacht. Es sucht aus den Dichtungen so grundverschiedener Länder den einen bedeutsamen Sinn für unsere Zeit herauszudestillieren. Um so gewagteres Unterfangen, da die sogenannte europäische Literatur heute erst in ihren allerersten Anfängen steht und eine Reihe nichtromanischer Länder noch gar nicht genügend Zeit ge­habt haben, ihr ganzes Gewicht mit in die Wagschale zu legen.

In: Neues Wiener Journal, 15.9.1925, S. 3.

Max Ermers: Monarchische und republikanische Kunstpolitik (1925)

            „Ja, aber was die Kunstpflege und das Kunstverständnis anlangt, da muß wohl auch jeder Republikaner zugeben, daß die Monarchie uns weit voraus war.“ So hört man nicht selten Menschen sprechen, die zwar schon im Herzen vollwertige Republikaner geworden, immer aber noch vom Glanz der höfischen Feste, vom Reichtum der kaiserlichen Sammlungen, von der Pracht der Spanischen Reitschule, von den Galavorstellungen in Oper und Burgtheater, von den reichen Dotierungen durch die kaiserliche Schatulle träumen. Sie sprechen dann vom Mäzenatentum der alten Aristokratie, von den Sammlungen des Fürsten Liechtenstein, von den Galerien Lanckoronski, Czernin, Harrach, Schönborn, von Wleceks Prachtburg Kreuzentein, von der Miniaturensammlung der Bourgoings, von der Albertina und von den mehr oder weniger reichen Sammlungen des Bürgertum, das, wie überall, auch im Aufspeichern von Bildern, Skulpturen, Miniaturen, Waffen, Keramiken mit einem hohen Adel wetteiferte. Gewiß, und das kann niemand leugnen, auch das 19. Jahrhundert und das Zeitalter Kaiser Franz Josefs I., an das die sehnsüchtig zurückblickenden Lobredner zumeist denken, hat seine Kunstgeschichte gehabt, hat seine Talente hervorgebracht. Gewiß, Monarchie und Aristokratie wußten sich ihrer manchmal zu bedienen. Quantitativ vielleicht sogar ausgiebiger, denn irgendwann. Aber die Kunst dieser Zeit, soweit sie in höfische Dienste treten kann, war von jener tiefinnerlichen Funktion, die sie Jahrtausende ausüben durfte, zu einer ganz äußerlichen dekorativen Angelegenheit herabgesunken, gerade gut genug, um der alternden Monarchie und der absterbenden Klasse der Feudalität die Blößen zu decken und den Abstand zum aufsteigenden Bürgertum noch einigermaßen zu wahren.

            In Wirklichkeit aber fehlte den oberen Hundert und Tausend jene Sicherheit des Spürsinns in der Wahl der Künstler, die der Epoche äußeren Glanz verleihen durften, und das unterscheidet sie gründlich von ihren Vorläufern in den vorigen Jahrhunderten. An die Stelle von Versailles und Schönbrunn, die noch voll des echten Glanzes, treten die romantischen Kitschburgen von Neuschwanstein und Laxenburg. An Stelle der Hofmaler Raffael, Holbei, Dürer und Rubens treten die Hof- und Fürstenmaler Anton v. Werner, Winterhalter, Blaas und Angeli, Gerade bei uns in Österreich hat dieser äußere Kunstprunk die größten Verwüstungen angerichtet und es ist interessant, wie sich, auch ohne den Niedergang der Monarchie, d.h., vor ihr und innerhalb ihrer Anhängerschaft, das Urteil über jene Kunstpolitik geändert hat, die noch zu Lebzeiten ihre begeisterten Soldschreiber hatte. Von der Ringstraße, seinerzeit als Glanzstück der franziscojosefinischen Kunstpolitik angesehen, schweigt man gern still. Die Städtebauer wissen, daß sie eine verfehlte Prunk- und Auffahrtstraße war, die Architekten betrachten sie mit Recht als ein kunsthistorisches Raritätenkabinett, in dem sich die vier „Baubarone“, wie jene Zeit bezeichnenderweise Ferstel, Schmidt, Hansen und Hasenauer nennt, griechisch-gotisch-renaissancisch austoben durften. Dabei hat diese Epoche, trotz ungeheurer Geldmittel aus dem Stadterweiterungsfonds, nicht einmal die moralische Kraft gehabt, ihre Projekte auszuführen. Votivplatz, Museumsplatz, Heldenplatz sind als Plätze Torsi geblieben.

An Stelle wirklicher Museen, die die Schätze der Vergangenheit bergen und sichtbar machen konnten, hat man uns Prunkpaläste hingestellt, bei denen die monumentalen Treppenhäuser die Hauptsache waren. Für diese Treppenpracht riß man den Canovaschen Theseus aus dem Tempel, mobilisierte Makart und Munkacsy für Deckenmalereien, die ihnen nicht zur Ehre gereichen. Ob die Museumsräume brauchbar seien, diese Frage stand an dritter Stelle— mit welcher Kon­sequenz. das weiß man. Gerade über dieses Kapitel monarchischer Kunstpolitik sollte man einmal die jüngste Schrift des Grafen Lanckoronski vornehmen, um zu wissen, wie selbst ergebene Anhänger des monarchischen Re­gimes über dessen Kunstpolitik denken. Das Maria- Theresien- Denkmal zwischen den Museen setzte dieser Kunstpflege die Krone auf. Fast noch schlimmer ist dann alles, was im neuen Burgtrakt geleistet wurde, vor dessen Vollendung uns ein glückliches Schicksal bewahrt hat. Aber die Riesensummen des Stadterweiterungsfonds wurden für diesen Riesenkitsch vertan, ohne daß auch nur ein Berufener die Stimme zu erheben gewagt hätte. Den würdigen Schlußstein dieser Bautätigkeit bildete dann das Kriegsministerium. «Nicht anders erging es der Malerei. Von der gestrichenen Pension des Realisten Waldmüller bis. zur von Franz Ferdinand gestrichenen Professur Egger-Lienz („weil nach Anblick solcher Bilder niemand mehr einrücken würde“) führt ein direkter Weg. Nur die Schlachtenmaler hatten ihre gute Zeit.

Und was Franz Josef selbst, dieser ansonsten so liebenswürdige Ausstellungseröffner, von

seinen Bilderjagden heimbrachte, war niemals geeignet, die Kunst zu fordern. Unvergeßlich seine entrüstete Abwendung von Segantinis Bild: Zwei Mütter. Der unglück­liche Maler hatte es gewagt, die Kuh, die gekalbt hatte, und die arme Häuslerin als Mütter nebeneinander zu stellen. Und nun gar erst die Bildhauerei.

Von den großen österreichischen Plastikern wurde keiner herangezogen. Von Metzner bis

Mestrovic— blieben sie ohne Aufträge. An allen Denkmälern darf sich nur die Mittelmäßigkeit und Untermittelmäßigkeit breit machen. Und das Kunstgewerbe? Einmal kam einer an der Jahrhundertwende, der die Gesundung versuchte. Der Hofrat Scala. Ein

Erzherzog hat ihn hinausintrigiert und unser Kunsthandwerk krankt noch heute an seiner

Hinausintrigierung.

Nein und nochmals nein. Es war keine Heldenepoche höfischer Kunstpflege, die Habsburgerzeit des 19. Jahrhunderts. Die großen Sammlungen des Adels, Erbgut aus früherer Zeit, blieben für das große Publikum ohne Zugänglichkeit und ohne Bedeutung, das

Bürgertum kopierte schlecht und recht die Sammelpolitik der Aristokraten, indem es kaufte und verkaufte, im übrigen aber den leeren Prunkwahn der Monarchie nach­zuahmen suchte. Das Wiener Rathaus und der berühmte Makartsche Festzug sind die ungewollte bürgerliche Parodie der großen Vorbilder. Das große Volk ging leer aus. An keinem einzigen Punkte setzte die Monarchie die breiten Massen mit der lebendigen, taufrisch sprudelnden Kunst ihrer Zeit in lebendigen Kontakt. Diese existierte für den Monarchen nicht, er wußte nichts von ihr, und wenn ja, dann war sie für ihn „Rinnsteinkunst“.

Soweit die Kunstpflege oder — wie man eigentlich sagen müßte der Kunstbetrieb und die Kunstausnützung in der Monarchie. Und nun zur Republik.

„Was würden Sie für dis Kunst tun, wenn Sie in Ihrem Lande Minister der schönen Künste wären?“ fragte man einmal Ferruccio Busoni. „Ich würde die Wasserkräfte aus­bauen“ war die lakonische Antwort. Diese Einstellung zum Kunst- und Massenerziehungsproblem ist für eine ganze Reihe von Päda­gogen und Künstlern charakteristisch. Alles, was einer künstlichen Überfütterung des großen Publikums mit billigen Symphoniekonzerten, mit Musteroperettenaufführungen, mit Museumsführungen, Verpflanzung moder­ner Kunstwerke in proletarische Elendswohnungen, kunstgeschichtliche Vorträge und dergleichen ähnlich sieht, erscheint ihnen verfehlt und gefährlich. Die Gesundung des Ge-//

samtzustandes eines Volkes und insbesondre seiner Wirtschaftsverhältnisse erscheint ihnen

als der einzig mögliche Weg, um an Stelle eines künstlerischen Firnisses zu einer wahrhaft künstlerischen Durchdringung der Volks­massen zu kommen. Kein Zweifel, der Weg, der gleichzeitig der Weg zur sozialen Republik ist, ist ein guter, und irgend einmal wird er schon zum Ziele führen. Aber wer hat genügend Geduld, ihn zu gehen? Wer genügend Gemütsruhe, die Häßlichkeiten, die teils als Verfalls­erscheinungen des alternden Europa, teils als Amerikanisierungserscheinungen unseres Kontinents täglich auf uns einströmen, zu ertragen? Schließlich: der.Kunstminister kann nicht alleSorge dem Volkswirtschaftsminister über­lassen.

Gewiß: eine große republikanische Kunst­epoche, die das ganze Leben der Gemeinschaft und der einzelnen bis ins tägliche Leben künst­lerisch verklärt, kann nicht mit Rezepten irgend welcher Art verwirklicht werden. Dazu bedarf es jener großen künstlerischen Individualitäten, die wie in einem Brennpunkt das ganze Leid und die ganze Sehnsucht ihrer Zeit in sich konzentrieren und durch die Fülle hinreißender Werke die Gefolgschaft der Nation erzwingen. Ein Zeitalter Phidias oder Michelangelos kann nicht aus dem Boden gestampft werden.

Was aber geschaffen werden kann, das sind die äußeren Vorbedingungen. Solange die Menschen in schmutzigen Städten, in elender Luft und an trüben Flüssen leben, meinte ein­mal Englands großer Kunstreformator, John Ruskin, solange sind alle Bestrebungen, ihr ästhetisches Niveau zu heben, illusorisch. Er hätte noch weitergehen können in seiner

prophetischen Verkündigung. Solange die Menschen in ihren sonnenlosen, überfüllten,

schlecht gereinigten mit Urvätergerümpel angestopften Wohnungen leben werden, ist jede

Kunsterziehung unmöglich. Solange unsere Kinder in den monotonen Zwangsgefäng­nissen unserer Schulräume ihre disziplinier­ten und bewegungslosen Jahre absitzen müssen,

Arbeitslosigkeit und Daseinssorge um die Familie ihr Gleichgewicht erschüttert, so­lange sie sich einem ungewissen Alter der Ver­armung entgegenschreiten sehen, solange sind

sie für Kunstgenüsse unzugänglich… es sei denn, das Kunstwerk spiegle ihre eigene Not,

ihre Probleme, ihre Leiden, ihre Hoffnungen wider… In diesem Falle stürzen sie dann

meistens von der Skylla in die Charybdis, erleben statt Kunst und Dichtung politische

Karikatur und gereimte Leitartikel.

Wie gering der erzieherische Wert der Kunst ganz allgemein veranschlagt wird, in

Europa und Amerika, das zeigt sich am besten daran, daß eigentlich kein einziges Land, mit

der halben Ausnahme von Rußland, systematische Kunstpolitik treibt, ja an sie kaum denkt.

Kunststellen aller Parteien und Kunstwarte der Gebietskörperschaften tauchen zwar allerorten auf, ober von keinem hat man schon ein systematisches Programm erblickt.

Man verhütet das Allerschlimmste und wurschtelt im Traditionellen fort. Alle Städte

des alten und des neuen Kontinents wachsen mit rasender Schnelligkeit. Aber hat man davon gehört, daß ihr Wachstum durch irgend welche künstlerischen Prinzipien planvoll nach bestimmten kunsterzieherischen Zielen diri­giert werde? Ohne Übertreibung darf man

sagen, daß man das kunsterzieherische Wollen einer Stadt von ihrem Generalregulierungsplan mit seinen Straßenführungen, Platz­gestaltungen, lichten, schmutzlosen Gartenvororten, Grünflächen, Sonnenbädern, Strandbädern, Kindersiedlungen usw. ablesen könne. Aber welche Stadt hat sich schon zu solchem planvollen Zukunftswollen aufgerafft? Wohnreform ist der zweite Pfeiler einer vorbereitenden Kunsterziehung, die heute schon einsetzen kann. Aber welche Stadt, welches Land hat seine Wohnungspolitik auf äußere Schönheit der Architektur, auf innere Schön­heit der Bequemlichkeit, der guten Brauchbarkeit, der Gesundheit, des sinnvollen, erzieheri­schen Mobiliars, der zwangsläufigen Sauberkeit abgestellt? Welche Stadt ergänzt ihre Wohnungspolitik durch schön gebaute, geschmackvolle Erholungsheime und Klubhäuser, die die Kraft-, Zeit- und Geldvergeudung der Wirtsstuben völlig paralysieren? In Letchworth und Welwyn, die aus dem jungfräulichen Ackerboden gestampft wurden, kann man solche Heime finden, aber sonst…? Die sinnvolle Schule ist der dritte Pfeiler der Kunstvorbereitung. Die neue Methode, die die Kinder Hand anlegen läßt an alles, was lern­bar ist, die in Ton und Buntpapier und Pastell arbeiten läßt, ist gewiß ein guter Anfang. Aber so lange nicht die gesamte Jugend durch die gewaltigen Revolutionen der sinnerwecken­ den, aktivierenden Montessori-Schulen und freien Schulgemeinden hindurchgegangen ist, ist sie für künstlerische Erlebnisse nur höchst primitiv vorbereitet. Mit der Jugend muß be­gonnen werden, wenn das Alter schon nicht mehr zu retten ist, diese tiefste Erkenntnis aller Kunsterziehungspolitik müßte an der Spitze jedes Kunsterziehungsprogramms zu lesen sein.

Körperliche Entfaltung— der vierte Grundpfeiler: Hier haben die Franzosen, die Schweizer und Amerikaner schon alles vor­bereitet, was geeignet ist, durch harmonische

Entfaltung zu neuer Werteinschätzung des sich fühlenden menschlichen Körpers zu kommen. Unsere Körper sind durch Schulbank, Bureau und Werkstätte verkümmert und nur

mehr aus Antikensammlung und Gipsmuseum ersehen wir ahnend entschwundene

Möglichkeiten. In der harmonischen Körper­kultur bereitet sich eine neue künstlerische

Revolution der Menschheit vor, die der Malerei, der Plastik, dem Drama, dem Tanz und dem öffentlichen Fest unerhörte Entwicklungen sichert. Wir aber drillen noch an tausend Orten die Weisheiten des Turnvaters Jahn. Für Schulreform und Kinderfreunde eröffnen sich hier außerordentlich« Perspek­tiven der Kunsterziehung, denen wir mit unseren wenigen Arbeiterstrand- und Sonnenbädern nur sparsam vorgetastet haben. Soweit die Vorbereitung unserer Sinne, unserer Körper, unserer Seelen, deren wir heute schon fähig sind.

Und vollends muß man sich darüber ins Klare kommen, daß unsere heutigen Scheidun­gen im Kunstschulwesen völlig veraltet sind. Eine Künstlergeneration wächst auf der Aka­demie heran, die dem Kunstleben unserer Ge­neration völlig entfremdet ist, und Rettung ist

hier nur durch einen Zusammenschluß der niedrigen und hohen Kunstschulen, des Kunst­gewerbes und der reinen Künste in eine ein­heitliche Erziehungsanstalt möglich. Dem

Museumsbetrieb, der gewöhnlich mit Führungen, Umhängungen, Sonderausstellungen ins

Zentrum der Kunsterziehung der Republik ge­stellt wird, gebührt lange nicht diese Aufmerk-

ämkeit. Gewiß, was vorhanden ist, soll konserviert und zugänglich sein, auch erweitert

werden. Ein Museum für Antiken, für Plasti­ken, für Naturvölkerkunst, für die städtischen

Sammlungen und vor allem für die schaffende Gegenwart werden wir auf die Länge der Zeit

nicht entbehren wollen. Aber, immer müssen wir uns vor Augen halten, daß Museumsbetrieb Wissenschaft ist und das musealisierte Kunstobjekt sich niemals an Wirksamkeit mit den Werken vergleichen kann, die an lebendigen Orten zeitgemäßen Seins und Erlebens aus­genommen werden. Hier klaffen Welten.

Wie Dichtung und Theater, Musik und Kino helfen können, das Leben der Massen künst­lerisch zu durchdringen, mögen Berufenere sagen. Das meiste, was auf diesem Gebiete

unternommen wurde, erscheint als tastender Versuch, der fehlschlug. Republikanische Kunstpolitik großen Stils, die diese gewaltigen Kräfte nicht als bloßen dekorativen Aufputz

eines Volkes gelten lassen will, sondern als Mittel der Erhöhung des individuellen und

gemeinschaftlichen Lebens, ja als Mittel, die fehlende innere Gemeinschaft von Mensch zu

Mensch, von Volk zu Volk erst zu schaffen, republikanische Kunstpolitik, wird diesen großen

soziologischen Funktionen ihren rechten Platz anweisen. Alles, was heute auf diesem Gebiete versucht wird, ist gutgemeinter Dilettantismus und Mißverständnis.

Unsere Sehnsucht aber geht dahin, daß es gerade unserer Stadt mit ihrer alten Kultur und ihrem politischen Fortschritt vergönnt sein möge, auch für das neue Verständnis, das

einer republikanischen Kunstpolitik gegenüber überall in Europa wird einsetzen müssen, die

Vorbedingungen zu schaffen.

In: Der Tag, 25.12.1925, S. 28-29.

Martina Wied: Reportage (1929)

Das ist nun der letzte Schrei der literari­schen Modenwelt, Anwendung des Begriffes „neue Sachlichkeit“ auf das Gebiet des Schrifttums, sprachlicher Bauhausstil mit der Nebenlösung, alle geistige Existenz in die Unwohnlichkeit eines Wartesaals zu verbannen, sie ambulant zu machen, unstät, zum Aufbruch bereit, in eine Vorläufigkeit geschoben, die Rückblick nicht verstattet und Behagen an der Gegenwart nicht aufkommen läßt; — ja, es manifestiert sich darin recht eigentlich ein heroischer Entschluß zur Un­behaglichkeit, ahasverischer Zwang zum Wan­dern, weil der wegmüden Kunst die Ruhestätte verwehrt wurde.

Dieser Wille zur Reportage entspricht, wie alles Heutige, einer Negation. Es steckt Auflehnung dahinter gegen jegliche Art von Im­pressionismus und Expressionismus, gegen alle stilisierende Vergewaltigung des Seienden,— die Willkür von Dada und Surrealisme mit ein­geschlossen; — Respekt vor der Realität lebt darin und der demütige Wunsch, sie, die alle künstliche Schöpfung an Großartigkeit, Wandel­barkeit übertrifft, unverändert festzuhalten.

Das Schriftentum der nächsten Epoche wird sich also, nach diesem Programm, die Leistungen des photographischen Apparates und des Mikrophons zum Beispiel nehmen und sich ihnen anzugleichen versuchen. Ein höchstes Maß von Entpersönlichung, ein Ausschalten des Berichten­ den zugunsten des von ihm Geschauten und Be­obachteten, das Streben des Reporters, seinen Blick ungetrübte Klarheit einer Linse — die nicht zufällig auch „Objektiv“ heißt — seiner Hand unbeirrbare Sicherheit eines Registrier­apparates zu geben, ist hier Voraussetzung. Wir wissen nun aber recht genau, daß für das Zu­standekommen einer guten Photographie oder einer vollkommen klaren phonetischen Übertragung außer Lichtstärke der Linse und Empfäng­lichkeit der Membran noch einige andere Mo­mente in Betracht kommen: die Einstel­lung beispielsweise und, vielleicht auch ein klein wenig, der künstlerische Geschmack der Person, die den Bildausschnitt mit technischen Mitteln abgrenzt; der Wohlklang und die Tragkraft der Stimme, die vor dem Mikrophon spricht oder singt. Die ange­strebte vollkommene Entseelung und Entpersönlichung läßt sich also nicht einmal in Bezug auf technische Hervorbringungen, nicht einmal in Hinsicht auf die Leistungsfähigkeit einer Ma­schine, die Geschwindigkeit eines Aeroplans, ganz durchsetzen; es bleibt ein Erdenrest von Indi­vidualität zu tragen peinlich, auch die Reportage wird sich mit ihm einrichten müssen, sie kann sich nicht auf die Plattform aus Asbest zurückziehen, um allen menschlichen Gebrechen entrückt zu sein.

Nehmen wir nun einmal irgend ein Ereig­nis unter das Objektiv des Reporterauges: Bei­spielsweise den Brand einer Fabrik. Es bestehen da zwei Formen der sprachtechnischen Aufnahme— entweder die Möglichkeit, das Ereignis auf sein Typisches, immer Wiederkehren­des, auf sein Skelett zu reduzieren: dann genügt eine sachliche Feststellung, die alle anderen erübrigt (wie unter dem Fascio das Regierungs­organ alle anderen Journale überflüssig macht), oder, als zweite Möglichkeit, das Einmalige, nie Wiederkehrende des Ereignisses festzuhalten; das ergäbe nun, bei sechs verschiedenen Bericht­erstattern, sechs gänzlich verschiedene Berichte, die vielleicht daran zweifeln lassen könnten, ob es sich jedesmal um das gleiche Ereignis handelt? Je scharfsichtiger nämlich, je eindrucksfähiger, je wachsamer der Reporter ist, um so weniger wird, was er sieht, dem von Andern Gesehenen gleichen! Und dabei handelt es sich hier um ein Elementar­ereignis, dem nichts  unterschoben, das durch keine politische, religiöse, philosophische Überzeugung des Betrachtenden in seiner Erscheinung und Auswirkung verändert und verfälscht werden kann — wohl aber durch ein paar ganz primitive Tatsachen: ob der Betrachtende gut geschlafen, ausreichend gefrühstückt hat, ob er nicht durch den Rauch der Brandstätte in seiner physischen, nicht durch private Erlebnisse in seiner geistigen Seh­kraft beeinträchtigt war — weil, all seinen An­strengungen zum Trotz der Reporter doch immer — wenn diese Neubildung gestattet sein möchte — durch ein Subjektiv blickt!

Der geneigte Leser, der ja weit voraussehen­der ist, als die Mehrzahl der Schreibenden es je wort [Orig!] haben möchte, wird längst erkannt haben, wo hinaus ich mit alledem will: daß es mir darum geht, begreiflich zu machen, es gäbe kein romantischeres, kein Don Quichote-ähnlicheres, kein tollkühnerer Unterfangen, als die Bemühung um eine sachlich einwandfreie Repor­tage! Es sei, vom Herodot bis zu den No­vellen von Paul Ernst, immer Absicht des guten Auges und der sicheren Hand gewesen, Wirk­lichkeit wiederzugeben, so genau, so leidenschaftslos, so unpersönlich, wie es gerade die große Persönlichkeit in ihrer Schöpferhaftigkeit sich am ehesten vornehmen darf. So betrachtet sind ja die Werke der italienischen No­vellisten, der Robinson Crusoe, der Grimmelshausensche Simplicius, sind die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter, Stendhals No­vellen, Manzonis Promessi sposi, der Michael Kohlhaas und das Erdbeben in Chile, Madame Bovary, das Gesamtwert Marcel Prousts — Reportage; die Reihe gestattet viele Ergänzun­gen, ja, alle Dichtung entstammt vielleicht nur dem verzweifelten Bemühen um vollkommene Wiedergabe des Wirklichen, also um vollkom­mene Reportage; eine Bestrebung, die schließ­lich doch illusorisch bleibt durch die unüberwind­liche Eigenkraft des Individuums, die un­gebrochene Lichtstärke des „Subjektivs“.

Wir brauchen uns also nicht allzusehr vor dem literarischen Bauhausstil zu graulen. Reportage hat ihr Gutes, sie ist Wille zur Säuberung des geistigen Haushalts von Staubfängern, Brokatbehängen und aus Stilblüten ge­bundenen Makartbuketts. Wille zur sprachlichen Nüchternheit, zur Ehrlichkeit, Genauigkeit, Treue gegen das Wirkliche — das ist eine adelige Absicht, der gerade der revolutionäre geistige Mensch seine Anerkennung nicht versagen wird.

Nun kann aber freilich irgend einer von den jungen Leuten kommen, die das Wort Reportage in Kurs gesetzt haben und mir erklären, ich hätte seinen Sinn und seine zeitgemäße Bedeutung völlig mißverstanden: Reportage sei nichts an­deres, als was die „New- York Sun“ oder die „Chicago Tribune“ ihren Lesern vorzusetzen für gut befinden! Das soll mir auch recht sein, denn in diesem Fall brauche ich mich an keiner Apologie des neuen Schlagwortes mehr zu versuchen und darf, wenn ich mich durchaus am amerikanischen Muster bilden soll, wieder ein­mal Edgar Allan PoesPhanta­stische Geschichten“ lesen: die zuverlässigste Reportage über das unzuverlässige Wesen des Genies.

In: Wiener Allgemeine Zeitung, 22.10.1929, S. 6.

Karl Tschuppik: Goethe, ein Zwischenfall ohne Folgen (1932)

Es wird heute und morgen nicht an tausenden Versuchen fehlen, die sich darum bemühen, das Bild Goethes zu dem Bilde der deutschen Gegenwart in eine praktisch-politische Be­ziehung zu setzen. So grob dies Beginnen scheinen und jeden zarteren ästhetischen Sinn verletzen mag, so darf es doch fordern, ver­standen und als Zeichen einer allgemeinen Not und vielleicht auch Scham erkannt zu werden. Wie anders könnte sich auch die um­fassendere Anteilnahme an dem Gedenken ausdrücken, als durch ein Verlangen, welches in die Frage mündet, ob es eine Berührung mit dem Geiste Goethes gibt und wie weit sie reicht?

Als vor dreiundachtzig Jahren die hundertste Wiederkehr des Geburtstages Goethes den deutschen Kalender schmückte, ging dieses Datum an der Nation fast spurlos vorüber; es versank in der Grabesstille der Gegenrevolution, die eben mit dem Versuche der Europäisierung des deutschen Bodens er­barmungslos aufgeräumt hatte. Der hundertundfünfzigste Geburtstag fiel in eines der üppigen Jahre des wilhelminischen Zeitalters. Es war ein Fest der Würden, bei dem der Optimismus der neudeutschen Reichsherrlichkeit Goethes Büste bekränzte. Es war eine Huldigung vor der deutschen Bibliothek, der man den Gruß nicht verweigerte, die aber als Requisit aus Kindheitstagen in dem Glanz der Gegenwart entbehrlich schien. Die angstvolle Ahnung, daß der Mißbrauch des Erfolges nach 1871 die Absage an den deutschen Geist zur Folge haben werde, hatte sich erfüllt. Dem Gebildeten genügte es, Goethe als Besitz zu empfinden; er suchte das Kleine und Alltägliche aus dessen Leben, um seiner eigenen Kleinheit und Alltäglichkeit eine Weihe zu geben, er verniedlichte ihn und paßte ihn dem eigenen Behagen an, womit er meinte, den Sinn der Goetheschen Har­monie gefunden zu haben.

Es wäre nicht das schlechteste an dieser Zeit, wenn Goethes Todestag den Anreiz dazu gäbe, die Frage nach seiner Geltung in der deutschen Gegenwart ohne Selbstbelügung zu beantworten. Jede solche Betrachtung // wird von einem Gedanken ausgehen müssen, den am besten Nietzsche in Worte gefaßt hat, als er den Begriff „deutscher Klassiker“ auf dessen Lebendigkeit prüfte. Ihm schien es, daß die deutsche literarische Begabung nur dreißig Jahre tot zu sein und als erlaubte Beute öffentlich dazuliegen brauche, um unversehens plötzlich als Klassiker die Trompete der Auferstehung zu hören. Er sah in dieser Totenverklärung das eigentliche Begräbnis, gestand aber den Deutschen zu, daß sie, ohne sich dessen schämen zu müssen, von den sechs großen Stammvätern ihrer Literatur fünf als veraltet ansehen dürfen: Klopstock, der schon bei Lebzeiten auf ehrwürdige Weise ver­altete; Herder, der das Unglück hatte, daß seine Schriften immer entweder neu oder veraltet waren; Wieland, der als kluger Kopf dem Schwinden seiner Geltung durch den Tod zuvorkam; Lessing, der vielleicht noch unter jungen und immer jüngeren Gelehrten lebt; und Schiller, der aus den Händen der Jünglinge in die der Knaben geraten ist. Nietzsche schreibt es gewissen Tugenden zu und er hat darin vor den philologischen Schönfärbereien recht! —, daß diese Fünf in der Gunst zurückgedrängt worden sind: das bessere Wissen und die größere Achtung vor dem Wirklichen, also Tugenden, welche gerade durch diese Fünf erst wieder in Deutschland angepflanzt wurden, haben auch zu deren Vergessen beigetragen; sie stehen als hoher Wald über den Gräbern der Fünf und breiten neben dem Schatten der Ehrfurcht auch etwas vom Schatten der Vergessenheit darüber.

Nur von Goethe sieht er ab, nur ihn nimmt Nietzsche aus; Goethe gehöre, so sagt er, in eine höhere Gattung von Literaturen, als „National-Literaturen“ sind: deshalb steht er auch zu seiner Nation weder im Verhältnis des Lebens, noch des Neuseins, noch des Veraltens. Nur für wenige hat er gelebt und lebt er noch: für die meisten ist er nichts, als eine Fanfare der Eitelkeit, die man von Zeit zu Zeit über die deutsche Grenze hinüber bläst. Goethe ist, so faßt Nietzsche sein Urteil zusammen, in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen.

Das ist die Wahrheit, die kein Ännäherungsbedürfnis zu trüben vermag. Wer wäre auch imstande, in der deutschen Politik der letzten hundert Jahre ein Stück Goethe aufzuzeigen; wem gelänge es, in der Gestaltung des deut­schen Lebens dieser Zeit einen Hauch Goetheschen Geistes aufzuspüren? Bei solchem Be­mühen wird jede Kunst, jede Deutung ver­sagen. Es genügt, sich das Bild der deutschen Geschichte vor Augen zu halten, um zu ver­stehen, daß Goethes Haus abseits von jenem Wege stand, den sein Volk zu gehen gezwun­gen war. Als der junge Goethe in seiner Hei­matstadt das altfränkische Schaugepräge der Kaiserkrönung schaute, war die Herrlichkeit des alten Reichs eine farbenreiche Täuschung, hinter der sich die nackte Tatsache verbarg, daß die Deutschen seit dem Westfälischen Frieden aus dem Wettkampf der großen Mächte aus­geschieden waren. Noch immer empfing der kaiserliche Oberlehnsherr die Huldigung seiner knienden Untertanen und übte die Gerichts­barkeit durch seinen Reichshofrat; noch immer schwenkte der Herold bei der Krönung das Kaiserschwert nach allen vier Winden, als ge­horche die Christenheit dem Befehl des Doppel­adlers; noch sprach das Reichsrecht mit feier­lichem Ernst von den Lehen des Reichs, die auf den Felsterrassen von Genua und in Toscana lagen. Die ganze zeremonielle Herr­lichkeit des deutschen Kaisertums war aber, wie es Treitschke sagt, ein Mummenschanz, ebenso lächerlich, wie das Schwert Karls des Großen, das den böhmischen Löwen auf der Klinge trug. Es gab keinen deutschen Staat, es gab keine deutsche Nation. Das Reich be­stand aus einer Unzahl souveräner Landes­obrigkeiten, Königen, Fürsten, Reichsrittern, Grafen, Bischöfen und kleinen Stadtrepubliken, aus einem Chaos von Widersprüchen, in welchem jede Institution des Reichs ihren Sinn, jedes Recht seine Sicherheit verloren hatten. Außerhalb des Reichs, auf dem Bo­den eroberten Slawenlands, wuchs die neue Macht Brandenburg-Hohenzollern.

Es gibt eine borussische Literatur-Legende, die sich auf eine beiläufige Bemerkung Goethes beruft, wonach die deutsche Dichtung ihren ersten und wesentlichen Auftrieb von Friedrich dem Großen und den Schlachten des Sieben­jährigen Krieges empfangen habe. Es ist müßig, darüber zu streiten, wie Goethe jene berühmt gewordene Stelle gemeint hat. Da Friedrich die deutsche Literatur verachtet und auch Goethe nicht mit abfälligem Urteil verschont hat, bleibt nur die Deutung, daß diese königliche Verachtung sich als ein förderndes Element erwiesen habe. Daran ändert auch Lessings Minna nichts, und gerade die geborenen Preußen, Klopstock, Herder und Winckelmann, suchten je eher, je lieber den Staub der Heimat von sich zu schütteln; Klopstock floh nach Dänemark, Herder nach Rußland, Winckelmann rettete sich nach Sachsen und von dort nach Rom. Nur die Unkenntnis der deutschen Geschichte und die spätere Glori­fizierung Friedrichs haben den Glauben er­zeugt, daß dieses eigenartigen Mannes Taten der Auftakt gewesen seien zu einem sinnvollen Lauf der Preußischen Historie, der in die Siege von 1866 und 1870, endlich in die Grün­dung des Hohenzollernschen Kaiserreiches mün­dete. In Wahrheit war die Schöpfung Fried­richs II. von kurzer Dauer; sie verfiel nach einem Tode und zerbrach völlig auf dem Schlachtfelde von Jena und Auerstädt. Das andere Preußische Heer, das vom Geiste Scharnhorsts und Gneisenaus belebt, vom Mißtrauen des Königs begleitet, später dazu beiträgt, die Macht Frankreichs zu beugen, hat mit der Schöpfung Friedrichs allenfalls die alten Märsche gemein, sonst aber nichts.

Nach der Französischen Revolution bis zu den Befreiungskriegen schreitet eine Gestalt durch die deutsche Welt, die Goethes Blick ganz anders angezogen hat, als Friedrich II.: Napoleon. Goethes Verehrung für Napo­leon, nicht erst vom Tage der Begegnung in Erfurt an, ist eine so unumstößliche, durch Aufzeichnungen und Gespräche belegte Bestimmtheit, daß es vor ihr nur eine Ent­scheidung gibt: sie zu begreifen und zu be­jahen, oder sich entrüstet abzuwenden. Und hier scheiden sich denn auch die Geister. Nicht zwar, als ob auf der einen Seite der Patrio­tismus und seine Geschichtschreibung, auf der andern der dem Westen zugewandte Radika­lismus stünden: hier finden sich Ludwig Börne und der Turnvater Jahn, Humboldt und Ernst Moritz Arndt, Mundt und Menzel auf einer Linie. Hätte Goethe an Napoleon „den größten Verstand gelobt, „denn je die Welt gesehen“, oder ihn „einen der produktivsten Menschen“ genannt, „die je gelebt haben“, es wäre ihm verziehen worden: auch die unpazifistische Gesinnung in dem Gedicht Politika, in dem Gott die Verlesung der Sünden Napo­leons mit den Worten abschneidet:

„Wiederhol’s nicht vor göttlichen Ohren!
Du sprichst wie die deutschen Professoren.
Wir wissen alles, mach‘ es kurz!
Am Jüngsten Tag ist’s nur ein …“

Es war nicht dies und war nicht Goethes Abkehr vor der patriotischen Erhitzung, was Humboldt zu dem Tadel verleitete, „Egois­mus. Kleinmut und zum großen Teil Menschenverachtung“ trügen zu „Goethes Gleich­gültigkeit für alles Deutsche bei“. Goethe trennte von seinem Volke der unbeirrbare Blick in die Wirklichkeit der deutschen Welt. Er sah an Napoleon den „do­minierenden Genius“ und die „Tyrannis wirklicher Kulturforderungen“ bei seinem Volke ein heroisches Bemühen, ohne die Aussicht auf ein wirkliches Ziel. Es ist trotz der eifrigen Pflege und der ansehnlichen Entfal­tung des „historischen Sinns“ bis heute noch nicht geglückt, ein nur halbwegs wahres Bild der deutschen Befreiungskämpfe zu erhalten, ihrer treibenden Kräfte, dem klaren und dem unklaren Wollen, das aus dem Prügelsoldaten von 1806 den freiwillig kämpfenden Land­wehrmann von 1813 gemacht hatte. Es war eine deutsche Revolution. Verwunderlich in ihrem Widerstreit rumorender Gedanken und Gefühle, rührend in der Einfalt und Ver­trauensseligkeit des deutschen Menschen, trostlos am Ende bei dem Betrug, der an den Kämpfern begangen wurde: „die größte Zech­prellerei der Geschichte“. Wie die Reform des preußischen Staates auf halbem Wege steckengeblieben war, so blieb der König alle Ver­sprechungen schuldig, die er in dem Aufruf von Kalisch feierlich gegeben hatte. Goethe war während dieser Zeit in die Geschichte des chinesischen Reiches vertieft.

Ist es ersprießlich weiter zu denken und danach zu fragen, was Goethe hundert Jahre später gesagt, was er getan hätte? Die Ver­ächter der Wirklichkeit haben der deutschen Katastrophe ihre Deutung gegeben. Sie prei­sen die Verschwommenheit des Denkens als heilige „Anti-Ratio“; das höchste Gut, die Vernunft, mißachtend, folgen sie, scheuen Pfer­den gleich, ihrem dunklen Drang. Sie nennen’s „faustisch“. Nicht wissend, daß Goethe diesen Typus noch in der subtilsten Ausgabe gehaßt, und wie die Pest gemieden hat.

Goethes Auge sucht noch immer die Aufhellung Deutschlands.

In: Der Tag, 19.3.1932, S. 1-2.

Oskar Ewald: Kulturperspektiven (1921)

Zu den am meisten gelesenen neuesten Büchern in deutscher Sprache gehört das Reisetagebuch eines Philosophen, dessen Verfasser Hermann Keyserling ist. Neben Spenglers Untergang des Abendlandes hat es wohl in Deutschland die stärkste und allgemeinste Wirkung geübt. Aber nicht allein aus diesem äußerlichen Gesichtspunkt des Erfolges werden beide Werke so häufig in Verbindung gebracht; es mangelt auch nicht an inneren Zusammenhängen. Beide stellen große Kulturperspektiven auf. Spengler spricht vorwiegend als theoretischer Geschichtsphilosoph, dem es freilich auch nicht an Phantasie und Intuition mangelt; Keyserling spricht in seinem Reisetagebuch aus unmittelbarer Anschauung. Keyserling, ein baltischer Graf, in dessen Familie einst Kant eine Hauslehrerstelle versehen hatte, ist in der philosophischen Literatur keine neue Erscheinung. Eine Reihe interessanter, wenn auch in vielen Punkte anfechtbarer Schriften ist bereits aus seiner Feder hervorgegangen. So: Das Gefüge der Welt, Unsterblichkeit, Schopenhauer als Verbilder, Prolegomena zu einer Naturphilosophie. Scheinbar hat sich Keyserling erst in seinem letzten Werk so recht gefunden. Auf der ersten Seite des zweibändigen Werkes lesen wir als Motto das geistreiche Paradoxon: „Der kürzeste Weg zu sich selber führt um die Welt herum.“ Sehr schön erzählt der Verfasser im ersten Kapitel, was ihn zu der Weltreise veranlaßt hat, deren Haupteindrücke er in tagebuchartigen Aufzeichnungen festhält.

„Seitdem ich erwachsen bin, bedeuten Eindrücke als solche mir wohl nichts mehr; mein Geist gewinnt nicht mehr durch bloße Stoffaufnahme. Dafür reagiert er jetzt als Ganzes verschieden, je nach den Umständen, innerhalb deren er sich befindet, und dieses Verschiedenwerden erschließt mir Seiten der Wirklichkeit, zu denen mir früher jeder Zugang fehlte. Dem Unwandelbaren kann die Welt, seitdem er erwachsen, allerdings nichts nützen. Je mehr der sieht, erlebt, erfährt, desto oberflächlicher wird er, weil er mit Organen, die bloß auf einen Ausschnitt der Wirklichkeit zugeschnitten sind, nun vielen gerecht werden will und so notwendig falsche Eindrücke gewinnt; dem ist es besser, er bleibt in seiner Sphäre. Der Plastische hingegen, den jedes neue Milieu, dessen Eigenart entsprechend, verwandelt, kann nimmer genug erleben, denn er geht aus jeder Metamorphose vertieft hervor. – So trete ich denn eine Weltreise an. Europa fördert mich nicht mehr. Zu vertraut ist mir schon diese Welt, um meine Seele zu neuen Gestaltungen zu zwingen. Und dann ist sie auch zu beschränkt. Ganz Europa ist wesentlich eines Geistes. Ich will in Breiten hinaus, wo mein Leben ganz anders werden muß, um zu bestehen, wo das Verständnis eine radikale Erneuerung der Begriffsmittel verlangt, wo ich möglichst viel von dem vergessen muß, was ich ehedem wußte und war. Ich will das Klima der Tropen, die indische Bewußtseinslage, die chinesische Daseinsform und viele andere Momente, die ich gar nicht vorausberechnen kann, umschichtig auf mich einwirken lassen und zusehen, was aus mir wird.“

Es muß gesagt werden, daß die Erwartungen, die diese Sätze wecken, in dem Inhalt des Buches größtenteils ihre Erfüllung finden. Keyserling besitzt eine außerordentliche Gabe der Einführung, er besitzt jene Mischung künstlerischer Anschauung und philosophischer Reflexion, die ihn befähigt, vieles und verschiedenartiges zu erleben und sich zugleich über das Erlebnis Rechenschaft zu geben. Es ist staunenswert, wie er sich in die uns so fernen und fremden Atmosphären des Orients, Indiens und Chinas hineinzuversetzen vermag. Diese Begabung ist nicht völlig einwandfrei; man kann sich zuweilen des Eindrucks nicht erwehren, als entgleite einem in diesen unaufhörlichen Verwandlungen alles Feste und Allgemeingültige; als sei die Fähigkeit, so viele Milieus zu verstehen, so viele Kostüme zu wechseln, mit dem Preise einer einheitlichen, in sich gegründeten Persönlichkeit bezahlt. Gleichwohl ginge man fehlt, wenn man in dem Verfasser lediglich einen differenzierten Stimmungsmenschen, einen genialen Impressionisten sehen wollte. Er ist ein wirklich universaler Mensch, der um den Kern seines Wesens eine Mannigfaltigkeit von Lebensgeschichten zu bauen weiß, an denen alle mögliche Kulturen und Weltansichten ihren Anteil haben. Im Grunde aber bleibt er sich und seiner Welt treu. Vor dem Durchschnitt philosophischer Systembildner, in deren Spuren zu treten er verzichtet, hat er vieles voraus: vor allem das Vermögen, hinter die Systeme zu blicken, die Gesetze ihrer Bildung zu erforschen. Er weiß, daß der menschliche Geist ebenso wie die Natur zu reich ist, um sich auf eine Form, auf eine Methode des Denkens und Lebens festlegen zu können. Und er findet im Orient, zumal in Indien, eine Mannigfaltigkeit von Anschauungen, die bloß dem einseitigen Theoretiker widerspruchsvoll erscheinen, in Wahrheit aber jener tropischen Fülle der Natur entspringen, die sich im Innern wie im Äußern, in der Vegetation wie im Gedanken kundgibt. Daher die Toleranz, mit der die Inder selbst die verschiedenartigen religiösen und philosophischen Standpunkte gelten lassen. Sie sehen darin bloß Ausdrucksmittel oder Symbole, und was hat es für einen Sinn, sich dem Unergründlichen gegenüber an ein einziges Symbol zu binden? Wir sind im Abendland noch recht weit von dieser Weisheit entfernt; es hat Jahrhunderte gedauert, bevor sich die Idee der Duldung hier durchsetzen konnte. Man könnte sagen, daß Keyserlings Reisetagebuch ein wertvoller Beitrag zu der Literatur der Aufklärung ist, die auch heute noch keineswegs abgeschlossen ist; umsoweniger, als der Weltkrieg einen furchtbaren Rückfall in die Finsternis früherer Zeiten bedeutete. Hat doch in ihm die Unduldsamkeit, der mangelnde Sinn für fremde Art und Ausprägung einen Höherpunkt erreicht! Um so bedeutungsvoller erscheint es, daß jetzt Bücher die Öffentlichkeit beherrschen, die diese Enge der Perspektiven sprengen und ganz ins Weite einer Universalkultur streben. Spengler und Keyserling sind bei aller sonstigen Verschiedenheit hierin einig. Beiden erscheint die Kultur des Abendlandes nicht als die Kultur schlechtweg, sondern als eine mögliche Form neben anderen Möglichkeiten. Der Eigendünkel des Europäers erhält von ihnen eine gründliche Zurechtweisung und seine angemaßte Stellung im Mittelpunkt der Welt wird durch die Tiefe und Unerschöpflichkeit des Orients widerlegt. Wir können darin wohl ein Zeichen der Zeit erblicken. Hoffentlich ist dergestalt wenigstens in den Kreisen der Ernstzunehmenden endgültig nun jene Stimmung überwunden, die so intensiv den Krieg gefördert hat und einen besonders wirksamen Ausdruck in Chamberlains weitverbreiteten Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts erhält, einem Buch, das bekanntlich die geistige Produktivität als alleiniges Rassemerkmal der Indogermanen hinstellt. Bezeichnend genug hat der Verfasser in seinen Kriegsschriften diese Theorie noch mehr verengt und allen höheren Wert der deutschen Nation vorbehalten. Keyserling, der ursprünglich von Chamberlain ausging, ist weit über ihn hinausgewachsen; man kann sagen, daß er dessen Wegrichtung geradezu umgekehrt hat. Er besitzt viel mehr vom alten Klassizissmus nd bleibt der echten, ungefälschten deutschen Bestimmung, sich verstehend in fremde Art einzusenken, treu. Der mit der modernen Geistesgeschichte einigermaßen Vertraute weiß, wie innig sich hier auf Schritt und Tritt Eigenes mit Fremden verbindet. Seit der Renaissance bilden französische, italienische, englische und deutsche Kultur mehr und mehr ein untrennbares Ganzes, dem sich nunmehr auch der skandinavische und slavische Geist einzuschmelzen beginnt. Weniger bekannt ist der Anteil, den Ostasien besitzt. Längst, ehe die chinesischen und japanischen Malereien das Auge der europäischen Impressionisten entzückten – schon vom siebzehnten Jahrhundert an – waren Jesuitenmissionen im Fernorient tätig und lernten dort die gewaltigen Werke Laotses und Konfutses kennen. Ihre Berichte erregten in Europa viel Aufsehen und gewannen einen starken Einfluß auf die großen Schriftsteller der Aufklärung, zumal auf Montesquieu und Voltaire, in deren Werken wir zahlreichen Hinweisen auf chinesische Verhältnisse und Einrichtungen begegnen. Ein moderner, in England herangebildeter Chinese, Ku-Hung-Marg, hat in einer anregenden Schrifte Chinas Verteidigung gegenüber europäischen Ideen diesen Zusammenhang hervorgehoben und erwartet auch für die Zukunft eine wachsende Einflußnahme seiner Nation auf die Westkulturen. Er meint, daß die europäischen Versuche, in China Fuß zu fassen, zu diesem entgegengesetzten geistigen Ergebnis führen würden. Dies ist sicherlich einseitig geschaut, aber der Wahrheitsgehalt ist nicht in Abrede zu stellen. Die Harmonie zwischen dem äußeren und dem inneren Menschen ist im fernen Orient besser verwirklicht als bei uns, weil der Pflege des Lebens dort eine größere Sorgfalt zugewendet wird. Hieraus ergibt sich ein besseres Gleichgewicht von Zivilisation und Kultur. So ist es begreiflich, daß in Zeiten allgemeinen Zusammenbruchs wir nach diesen so wesentlich anders gearteten Menschen und Lebensformen als nach neuen Vorbildern ausschauen. Das endgültige Resultat solcher Ausgleiche und Verbindungen läßt sich nicht annähernd vorausbestimmen; genug, daß sie vollzogen werden. Es besteht keine Gefahr, daß irgend eine Eigenart zu kurz komme. Es ist vielleicht nicht so sehr ein Sieg der Weißen über die Gelben oder umgekehrt zu befürchten, aber ein Sieg der Menschheitsidee, die bisher hinter jeder großen Leistung stand, zu hoffen.

In: Arbeiter-Zeitung, 27.3.1921, S. 10.

D[avid] B[ach]: Revolutionskabarett. (1921)

Jedesmal am Wendepunkt der Zeiten bilden sich eigen Ausdrucksformen für das, was dem Masseninstinkt gesagt sein will und seine abgeschlossene, der Aktualität entrückte Kunstform noch nicht gefunden hat, vielleicht auch gar nicht finden kann. Heute nennt man all das, was nirgends sonst untergebracht werden kann, Variété, Kabarett und glaubt was Besonderes zu tun, wenn man das Wort „Künstler voranschickt. Aber das bürgerlich-freiheitliche Studentenlied vor hundert Jahren war auch etwas, was in seine Kunstrubrik passen sollte und doch seine großen Werte besaß, auch künstlerische, sicherlich agitatorische. Wenn das schönste Freiheitslied jener Zeit, das uns heute sehr philisterhaft ledern dünkt verboten wurde, so war’s ein Attentat gegen die Kunst, wenn man will, vor allem jedoch ein Angriff gegen seine unerwünschte agitatorische Kraft. Die moderne Großstadt hat seine Volkslieder mehr, wohl aber Hunderte von Liedern, die das Volk – leider – singt, und einige ganz wenige, die es singen könnte oder die es zumindest anhören müßte, weil sie der unverdorbenen Empfindung des Volkes entsprechen. Solche Lieder gedeihen nicht im Konzertsaal; sie kommen von der Gasse, von der politischen Versammlung und gehören als Kunstprodukt auch in ein Lokal, das dem Zusammenhang mit der Unmittelbarkeit des täglichen Lebens nicht ganz entrückt ist. Solche Lokale sind heute fast nur auf das Bedürfnis des Schieberpublikums zugeschnitten. Doch manchmal passiert etwas Seltsames…

Wirkliche Künstler aus Berlin nämlich bilden jetzt im „Pan“ das Kabarett „Größenwahn“. An sich will dies noch nichts besagen, denn eine berühmte Iphigenie Wiens ist monatelang in einem Nachtcafé aufgetreten, um in einer Nachtcaféausgabe der jetzt ohnehin nicht übermäßig hoch stehenden Operette zum Entzücken aller Schieber das Wort „Rebbich“ auszusprechen. Doch was die Berliner Gäste – sie sind fast alle schon in Wien bekannt, Rosa Valetti (ehemals Volksbühne), Jakob Tiedtke (ehemals Burgtheater), auch Sita Staub – bringen, das macht ihre Besonderheit aus. Da singt die Valetti ein Lied Warum sind wir arm? und die Revolution steigt drohend auf, dann das Rote Lied – und die Revolution marschiert. Der zahlungsfähige Spießer, der sich soeben an einem trotz Tiedtke und den anderen höchst unbedeutenden, vom üblichen Variétéschema kaum abweichenden Einakter höchlichst ergötzt hat, rutscht bei diesen Liedern verlegen hin und her und weiß nicht, wie ihm wird. Denn die Zeiten, da sich eine untergehende Gesellschaft an den Gesängen ihres Unterganges ergötzte, wie die französischen Aristokraten an Beaumarchais, sind noch nicht wieder da; dazu fehlt es den Herrschern von heute denn doch zu sehr an Kultur, und wäre es auch nur die des Absterbens. Besser scheinen sich diese Variétébesucher mit einem zweiten Einakter abzufinden, der Die Ohrfeige heißt. Der ist nun freilich an sich schon höchst lustig und hat für dieses Publikum manche Zugänge, da er anfänglich der „Partie Klabrias“ ein wenig ähnlich schaut. Aber in Wahrheit ist er eine blutige Verhöhnung des feigen Spießer- und Schiebertums und so wird er insbesondere von Tiedtke und Frau Valetti ganz bewunderungswürdig gespielt.

Das ist noch nicht alles. In diesem Kabarett – es heißt übrigens „Größenwahn“ nur deshalb, weil es in Berlin im Café des Westens auftritt, in der Berliner Nachfolge des Wiener Cafés Griensteidl -, hier also werden Lieder gesungen, welche für Deutschland die Entdeckung des Lumpenproletariats bedeuten. Ja, auch hier sind Menschen, und unter aller Verkommenheit zuckt ein menschliches Herz. Die Franzosen kannten solche Lieder längst, Aristide Bruant, die Yvett Guilbert haben sie gesungen, jener auch gedichtet. In deutscher Sprache gab es dergleichen nicht; ein großer Ahnherr dieser neuen Reihe ist übrigens Wedekind, dessen Lieder die Wiener Polizei natürlich verboten hat, wahrscheinlich, um ihn vor dem Schieberpublikum zu retten. In Wien gibt’s dergleichen Lieder gar nicht, wie wir ja auch keinen Zeichner wie Zille haben, der als Maler den Rand der Großstadt entdeckt hat. Wir sind zu prüde, zu zimperlich; war doch mancher Arbeiter schon erstaunt, als Arbeitervorstellung eine Dichtung Liliom zu sehen, deren Held ein dem äußeren Anschein nach nicht gerade übermäßig edler Lumpenproletarier ist. Die Berliner greifen ganz unsentimental zu. Das „Dornröschen vom Wedding“ ist wahrhaftig sein „süßes Mädel“, aber ein Menschenkind, gruselig erheiternd in ihrer nach ein bißchen Glück schmachtenden Verkommenheit. Eva Brock singt diese und ähnliche Lieder ganz prachtvoll. Daneben wirken die Lieder, die Käthe Kühl sehr nett vorträgt, weit schwächer, sie schmecken doch zu sehr nach dem Lumpenproletariat im Literaturcafé.

Aber als Ganzes müßte dieses Kabarett, das als solches ebenfalls ein Ausdruck der Revolution ist, in der wir leben, vor allem Widerhall bei den Arbeitern finden. Es muß möglich sein, den Künstlern hierzu die Gelegenheit zu schaffen.

In: Arbeiter-Zeitung, 15.5.1921, S. 4-5.

O.M. Fontana: Werden der Dichtung. Versuch einer Selbstanalyse (1929)

Die neuere, wieder aus Spezialfertigkeiten und Einzelwissen zu einer geistigen Zusammenfassung strebende Medizin hat für das rätselhaft Bestimmende und Beharrende im Menschen den Ausdruck: Tiefenperson gefunden. Was macht nun den Dichter? Daß diese Tiefenperson, die im sogenannt normalen Menschen taubstumm bleibt, im Dichter zu hören und zu reden vermag. Wie diese Tiefenperson wird und ist, ergibt sich aus der Konstitution des Individuums und ist aus ihr wissenschaftlich eindeutig abzuleiten. Aber unableitbar, ein Geheimnis – warum die Tiefenperson in jenem taubstumm bleibt, in diesem hört und spricht. Auch so: ich (oder mir lieber: ein anderer) vermag zu sagen, aus welchen Lebensvorgängen heraus, kurz: wie ich dichte und in welcher Weise dieses Gedichtete dem

Ganzen meiner Person entspricht. Aber warum ich dichte, gerade ich in der Reihe meiner Ahnen – wer kann das sagen, besonders im Westen der Kultur, wo jeder glaubt, glauben muß, mit ihm beginne das Leben neu.

Soviel über die Gründe des Dichtens, über sein Geheimnis. Seinen Erscheinungen läßt sich mehr und auch mehr an der Oberfläche Liegen­des abgewinnen. Etwa die Frage: was ist zuerst beim Dichten da – das Gesicht eines Menschen oder seine Seele? Ich kann darauf nur ant­worten: je nachdem, einmal ist es dieses, das andere Mal jenes. Ein Gesicht, dem ich begegne, vermag mich zu verstören und tagelang zu be­schäftigen. Es geht in mir unter, um in neuer Form, mir unbewußt, wieder zu erstehen. So entstand mein Roman Erweckung. Begegnung eines Verlorenen war seine erste Keimzelle. Einen seelischen, einen geistigen Inhalt bis an sein Ende durchzugehen – ich weiß weniges, was für mich verlockender ist. So wurde der Roman, an dem ich jetzt arbeite und der Weiter leben heißt. Er wurde aus der Erkenntnis und dem Durchdenken jener Situation und jenes Lebens­inhalts, die mich und meine Gefährten des Schick­sals bestimmten und bestimmen: unsere Jugend und unser Mannestum.

Wie aber Darstellung immer Gestalt werden muß – das ist der Kampf des Dichters. Ein langer zäher Krieg, in dem große Siege oder Durchbrüche sehr selten sind, in dem es um ein kleines Grabenstück Welt oder Mensch geht. Ich möchte sagen: an seinen inneren Niederlagen wächst der Dichter. Er wird von ihnen nicht er­drückt, er muß sie überwinden. Das gibt ihm Kraft der Erneuerung, das ist seine Wintererde. Dichter ohne diese Inneren Niederlagen gehören jenem Jungentypus an, in dem der Frühlingssaft dichtet und der mit 35 Jahren vertrocknet, erledigt ist.

Wie einer Gestalt, einer Vision, einer Er­kenntnis Welt zuwächst, wie sich dieses Absolute der Tiefenperson mit der Vielfalt der Er­scheinungen mengt, die wir beglückt Leben nennen – das ist das Erlebnis des Dichters. Und auch: wie das von ihm Gedichtete Eigenleben gewinnt, wie sein fiktiver Mensch irgendwohin zu gehen beginnt, wo ihn der Dichter überrascht wiederfindet, und wie eine Idee sich zu ihrer letzten Konsequenz durchringt und den Dichter mit sich reißt. Das sind Dinge, die der Dichter mit sich selbst auszutragen hat, die den Betrachter nicht küm­mern, die aber über Glück oder Unglück, über Gelingen oder Mißlingen eines Werkes ent­scheiden.

Der Kampf des Dichters geht nach zwei Fronten, nach einer geistig inhaltlichen und nach einer formalen. Das Gehörte und Geschaute muß nicht nur Leben bekommen, es muß auch die Grenzen des Lebens erhalten, in denen es jenseits des Chaos, der Anarchie sich erfüllen kann. Ich glaube nicht, was sehr viele und sehr anerkannte Dichter glauben, es gebe feste Formen, in die alles gegossen werden könne. Es genüge zum Bei­spiel in der Epik bei A zu beginnen, um in der Reihe des Alphabets notwendig Z zu erreichen. Ich glaube, daß jedes Leben anders ist und daß darum jeder Roman, jede Geschichte anders sein muß. Ein Baumblatt ist ein Baumblatt, aber jedes ist anders gewachsen. Von innen her. Auch die Form einer Dichtung kann nur vom Inhalt her bestimmt sein. Ich habe darum in meiner

Erweckung dem Aufbrechen verhärteten Menschenseins die knappe große Sinnbildlichkeit

zu geben versucht, die jener ewige innere Vorgang beansprucht. Ich habe in dem Roman von der Insel Elephantine (Katastrophe am Nil) eine Gesellschaft innerhalb ihres Zusammenbruchs an­schauen wollen und sie darum in eine flackernde, nervöse Bilderfolge gestellt. Ich habe in dem Roman Gefangene der Erde den Weg eines Menschen, der den der Menschheit wiederholt, den Weg von der Schönheit des Barbarentums über den Zwiespalt der Zivilisation bis zur Schönheit seelischer Menschhaftigkeit durchschreiten wollen. Wie konnte ich den anders erzählen, als indem ich di« Stationen dieses Wegs, die Unbefriedigung, das Sucherische bis zur letzten Mündung immer wieder und in vielen Spielarten sichtbar machte!

Wann ist eine Dichtung fertig? Ich glaube: nie. Wie die Erde, die Welt, der Mensch ja auch nie fertig ist. Nur die schlechte Dichtung ist fertig. Der Schöpfung fehlt immer der i-Punkt. (Der Wahn, ihn setzen zu können, macht alles Menschenwerk so glückhaft und tragisch zugleich.) Die Schöpfung ist niemals und nirgendwo Kalli­graphie. Die Dichtung sollte es auch nie sein wollen. Wenigstens ich hüte mich davor. Ich glaube: die Dichtung, die wirklich Dichtung ist, bleibt immer im feurig flüssigen Zustand. Nur das erhält sie am Leben, nur das läßt die späte­ren Zeiten zu ihr wiederkehren und, sich in ihr spiegelnd, sich selber wiederfinden. Darum ist nicht der Staub der Bibliotheken, nicht die Literaturkritik oder Professorengeschichte, nicht die Klassikerausgabe jüngstes Gericht des Dichters und der Dichtung, sondern nur das Leben selber, das der Dichter, so er einer ist, immer will und

bis an seinen Grund erlebt. Nichts scheint mir lächerlicher als der Versuch, für „gesammelte

Werke“ zu schreiben.

Ich liebe die Zeit, weil ich in ihr schwebe wie eine winzige Mücke im Licht. Ich liebe die ewigen Dinge, weil sie allein dem Menschen die Kraft zum Höchsten geben: zu lieben. Im Ersten und im Letzten glaube ich, nicht das Individuelle macht den Dichter groß und gültig, sondern das Anonyme.

In: Wiener Allgemeine Zeitung, 16.4.1929, S. 5.