Béla Balazs: Das entfesselte Theater

             Gelt, das klingt gefährlich? Das klingt nach Unbändigkeit und Wahnwitz, nach Revolte gegen alle Gesetze und Regeln, nach formlosem Sturm und Drang. Ein entfesseltes Theater! Was stellt man sich dabei vor? Die Phantasie bricht aus seinem Kulissenkäfig und rast durch die Straßen der Nüchternheit? Das Spiel schwillt an, steigt über die Dämme der isolierten Kunststätte und überschwemmt den Ernst des Lebens. Eine brausende Sturzflut von Masken und Kostümen ergießt sich mit Harfenklang und Schellengeläute – entfesselt – über die philiströse Ordnung des Alltags.

             Es klingt nur so, es scheint nur so, Tairoff, der Direktor der Moskauer Künstlerspiele, der seinen Reformversuchen diesen populär gewordenen ausdrucksvollen Namen gab, ist kein zügelloser Stürmer und Dränger, der alle Gesetze verachtet. Im Gegenteil. Er ist ein streng-dogmatischer Ästhet. Wenn er ein Revolutionär ist, so ist er ein doktrinärer wie die Kommunisten, denen er angehört, die nach den Vorschriften eines gelehrten Buches die Welt neuschaffen wollen. Er könnte auch ruhig sagen: ich bin nicht gekommen, das Gesetz zu zerstören, sondern um es durchzuführen. Tairoff, der prominenteste Vertreter der neuesten Bühnenreformbewegung, der Schöpfer des „entfesselten Theaters“, ist ein fanatischer Pedant.

             Denn was meint er eigentlich mit der Entfesselung des Theaters? Er meint die Befreiung von der Diktatur der Literatur. Das Theater, sein Theater, will nicht mehr dienend die vorgeschriebenen Wege des vorher geschriebenen Dramas gehen. Es will nicht mehr bloß Kanzel der Dichter, unselbständiger Dolmetsch außerhalb stehender Schriftsteller sein.

             Das Orchester meutert und empört sich gegen die Partitur, will autonom, aus seinem eigenen Element, spontane Gestalten schaffen. Das Theater soll nicht mehr Ausschank der Literatur sein, sondern ursprüngliche Quelle einer eigenen, selbständigen Kunst werden.

             So ungewohnt diese Absicht auch heute ist, ist sie nichts weniger als neu und unerhört. Bekanntlich ist das Theater älter als das geschriebene Drama, das nur als nachträgliche Kodifizierung und Regelung der allgemein üblichen Stegreifspiele entstanden ist. Die Stücke der Commedia dell’ arte waren keine Literatur, und selbst Shakespeares Dramen sind zum Teil auf der Bühne entstanden. Neu ist also diese revolutionäre Idee nicht. Noch weniger aber ist sie anarchistisch und wider das Gesetz. Vielmehr wird mit ihr die pedante Durchführung eines alten akademisch-ästhetischen Dogmas bezweckt. Es ist das ästhetische Dogma vom „reinen Stil“, von der materieechten, ungemischten Kunst. Denn ein Gemälde etwa, das musizieren täte, oder eine Statue, die Verse sprechen könnte, wäre doch ein grauenhafter Kitsch. Und hat man nicht ästhetische Bedenken gehabt gegen Textillustrationen oder gegen die Oper, gegen diese Mischform von Musik und Drama? Hat man sich nicht ereifert gegen die „literarischen“ Bilder, die irgend einen erzählbaren Inhalt haben? Ja, die Forderung einer reinen, ungemischten Kunst schien ein unbezweifeltes, ästhetisches Dogma zu sein, wiewohl sie auf keinen steinernen Tafeln geschrieben stand. Auch ging man nicht soweit in der Konsequenz, etwa dem Lied die Existenzberechtigung abzusprechen und zu behaupten, Schubert, Schumann, Brahms, Wolff wären Kitscheure, weil sie Musik mit Literatur mischten. Es kommt eben darauf an, ob dabei durch eine wirklich „chemische“ Mischung ein organisches drittes Ding entsteht. Und man kann wohl kaum leugnen, daß dies bei der Mischung von geschriebenem Drama und Bühnenpantomime in vielen Fällen restlos gelungen ist.

             Und doch scheint die Freiheitsbewegung des Theaters um sich zu greifen. Die selbsttätige Bühne in der Form von Balletts, Pantomimen und Sprechchören (bei denen das Wort lediglich nur als akustische Masse mit den Form- und Farbwirkungen kombiniert wird) ist ohne Zweifel aktuell geworden. Das muß außer den besagten ästhetischen Bedenken tiefere Gründe haben. Gewiß ist ein so unliterarisches, autonomes, „entfesseltes“ Theater eine sinnvolle und berechtigte Kunstgattung. Aber daß sie just in unseren Tagen modern wird, das wird mit Dingen zusammenhängen, die außerhalb der Ästhetik liegen.

             Warum kommt man heute vom Worte ab? Warum ist man heute mehr für dekorative Schaustellungen als früher? Das kommt daher, daß das Wort heute nicht mehr zielsicher ist. Dichter und Schauspieler wissen nicht mehr, ob ihr Wort auch richtig verstanden wird. Die geschlossene bürgerliche Kulturgemeinschaft hat aufgehört. Man ist nicht mehr intim unter sich, wie man es seinerzeit in den fürstlichen Theatres parés und auch später im Kreise der gebildeten Patrizier war. Soziale Schichten haben sich verschoben, Klassen und Stände sind durcheinandergewürfelt. Das Publikum ist nicht mehr homogen; es ist ein zufälliges, und man weiß nicht mehr, zu wem man spricht. Was der eine versteht, muß dem anderen fremd klingen. Will man also das Theater für die breite Öffentlichkeit retten und doch auf einem artistischen Niveau erhalten, so greift man eben zu den dekorativen Schaustellungen. Denn diese sind nicht so präzisen Sinnes wie das Wort. Man kann sie auslegen, stimmungsgemäß, je nach Anlage, und subjektiv verschieden deuten. Jeder holt sich daraus, was ihm entspricht. Die unbegrenzte Möglichkeit des Mißverständnisses bürgt für allgemeine Wirkung.

             Das entfesselte Theater deutet eine Freiheit aus Not. Hier ist eine Kunst wieder einmal frei geworden, wie ein Vagabund, der seine Heimat verloren hat.

In: Der Tag, 1. November 1924, S. 2.

Ernst Lothar: Gegenwart und Zukunft des Theaters. Kritik und Prognose.

Wir beginnen heute mit der Veröffentlichung des Vortrages, den Ernst Lothar in Deutschland und der Czechosowakei gehalten hat. (Anm. d. Red.)

             Das Wort Theaterkrise ist ein Schlagwort geworden, dessen Schlagkraft die Vernunft zu Fall zu bringen und eine Panik zu erzeugen droht, worin die Begriffe wanken und nichts als steriler Pessimismus oder Nutznießertum der Desperation aufrecht bleibe. Da ist es an der Zeit, sich klar zu machen, was an dem alarmierenden Schlagwort wahr, was übertrieben, was mißverstanden daran ist. Und ob ihm tatsächlich der ganze Schrecken innewohnt, den ihm die Krisenlustschnapper nachsagen.

             Daß es bedrohlich um die Gegenwart des deutschen Theaters steht, leugne ich nicht. Und ich will, ärztliche Gepflogenheit annehmend, die Symptome der Krankheit nennen, bevor ich mich zur Diagnose und damit zur Therapie vorwage. Eine Anamnese ist zu fordern, Geschichte des Krankheitsverlaufes, wie von jedem Patienten, der Heilung sucht; beides, das Leiden, das Geheiltwerdenmüssen, trifft ja auf das kranke Gegenwartstheater und insbesondere auf das Schauspielwesen, dem meine Ausführung gelten, zu. Welche Symptome zeigt der Patient? Gestatten Sie mir, die Dinge nicht nur beim Namen, sondern sogar bei Ziffern zu nennen und auf jede Ziffer einzeln zurückzukommen:

             Erstens: das heutige Schauspieltheater ist zum Schauspielertheater (und zum Regisseurtheater) geworden, wodurch die geistige Situation des Theaters Schaden litt; zweitens: das Schauspieler- und Regisseurtheater wurde zum Prominententheater, wodurch das Ensembletheater, aber auch (mit der geistigen Kontinuität) die wirtschaftliche Prosperität des Theaters Schaden litt; drittens: dieses Theater folgerte aus der Geschäftsstockung, daß es Geschäftstheater zu sein habe; viertens: es bekämpfte und bekämpft die ihm durch den Tonfilm erwachsenen Konkurrenz mit absolut untauglichen Mitteln.

             Erstens: Die geistige Situation des heutigen Theaters hat sich grundlegend geändert. Als Max Reinhardt, zu dessen überzeugten Anhängern ich zähle, soweit es sich um die schauspielerische Regenerierung des Theaters und seiner Erlösung vom Pathos der Verstellung handelt, im Vorjahr jubilierte, sagte er öffentlich: „Das Theater von heute gehört dem Schauspieler.“ Dieser verlesene, also keineswegs einer Bankettimprovisation überlassene Trinkspruch klang wie ein Urteilsspruch. Er war einer. Er sprach der geistigen Bedeutung des heutigen Theaters das Urteil und – verurteilte sie, ohne es zu wollen. Denn vom Standpunkt des Jubilars Max Reinhardt angeschaut, erschien dieser Zustand nicht beklagenswert. Er, Schauspieler von Geblüt, Schauspielerführer von Genie, konnte nicht anders als, indem er der Wahrheit die Ehre gab, den Schauspielern die Ehre geben. Sie, die Schauspieler, waren es, die in ihm gefeiert wurden; sie, die Schauspieler, an die der Erinnerungsglanz sich knüpfte, mit dem der Name Reinhardt zum Theaterhimmel steigt. Sonderbar, daß fast niemand aus diesen Bankettworten heraushörte, was sie waren: die solenne öffentliche Erklärung der Diktatur, der die private längst vorangegangen war. Mit den Worten: „Das Theater von heute gehört dem Schauspieler“, hatte der größte Schauspielerdirektor der Gegenwart die Abdankungserklärung des Bühnenautors und die Herrschaftsübernahme durch die Schauspieler verkündet. Nicht zufällig – in jener geheimnishaften Vorahnung, die ihm eignete und ihn die spirituellen Zusammenhänge so seherisch durchschauen ließ – hatte der zu früh abgerufene Hofmannsthal für Reinhardts neues Wiener Theater 1924 schon den Namen gewählt: „Die Schauspieler im Theater in der Josefstadt, unter der Führung von Max Reinhardt“, ein scheinbar preziöses Firmenschild, das trotzdem jene Entwicklung vorausnahm und in Worte faßte: in diesem Aushängeschild sind die Schauspieler Firmeninhaber und der Dichter zeichnet für das Unternehmen nicht einmal mehr per Prokura.

             Meine Damen und Herren, diese Entwicklung war der Keim des Uebels. Sie stellte zu einer Zeit, als das Wort Tonfilm ungekannt und die wirtschaftliche Stagnation noch nicht von solchem Weltumfang wie heute war, das Theater auf eine Grundlage, die es nicht tragen konnte und daher nicht ertrug. Nichts gegen die Magie des Schauspielerischen! Faszinierter Freund und Beurteiler jeder mimischen Bedeutung, überzeugt davon, daß das Glück des Theaters Verwandlung des Zuschauers durch Illusion ist, fände ich mich in der lächerlichsten Rolle, wollte ich diese Bedeutung auch nur mit einem Worte schmälern. Mit allen Worten dagegen will ich sagen, daß die Ueberbedeutung die man dem Schauspieler und die der Schauspieler sich gegenwärtig zuerkennt, ihm nicht zukommt. Deshalb nicht, weil sie zu der falschen Rechnung führt, welche das Dargestellte zur Null, den Darsteller zur Unendlichkeit macht und uns hinbringt, wo wir halten: zur Schauspielerdiktatur über den Autor.

             Hier meldet sich vielleicht unter Ihnen und bestimmt in mir der Einwand, den jeder Theaterkenner pflichthaft zu erheben hat: Welche Autoren sind gemeint? Ist jene schädliche Entwicklung nicht dadurch erzwungen, daß die Gegenwart an Autoren, welche Werte für das Theater schaffen (und nur um solche kann sich’s handeln) bettelarm, ja, daß sie daran ärmer ist als je eine Epoche? Ja und nein. Ja: Denn wollte ich die deutschen Autoren der jüngeren Generation, von denen das Gegenwartstheater Werte oder zumindest Impulse empfängt, aufzählen, die Finger einer einzigen Hand genügten mir dazu, und noch da bliebe der Daumen unbeschäftigt. Sollen wir’s versuchen? Der Mittelfinger für Bruckner (und erst seit „Elisabeth von England“); der Zeigefinger für Georg Kaiser (aber er hat die Richtung verloren); der Ringfinger für Werfel; der kleine Finger für Zuckmayer. Und sonst – ? Brecht, der steil begann, ist abgestürzt; Unruhs edle Leidenschaft hat „Phäa“ nicht vermeiden können. Leonhard Frank: „Hufnägel“ waren die Sargnägel einer Theaterhoffnung; Hasenclever, Bronnen: konjunkturisiert, politisiert. Von den anderen jüngeren Deutschen nicht zu reden. Sie haben das Schreidrama des Expressionismus mitbegründet oder mitgemacht und sind nun drauf und dran, die neueste Dramenmode mitzumachen: das Agitationsdrama. Hier muß ich zur Klarstellung der Kategorien innehalten und die Begriffe „expressionistisches Drama“ und „Agitationsdrama“ abgrenzen. Niemand kann bestreiten, daß der Expressionismus abgewirtschaftet hat. Das aber beweist nichts gegen die organische Bedingtheit seiner (Nachkriegs-) Erscheinung; nichts gegen die Konsequenz seiner Idee, nichts gegen seine künstlerische Berechtigung. Ich bin weit davon entfernt, im Expressionismus wie andere „ein Kostüm bluffwilliger Schwindler“ zu erblicken und sehe vielmehr in ihm den Ausdruck seiner amusischen Epoche: er war das dramatische Sekundenecho der Kunst auf das Toben der Sekunde; er war und blieb wörtlich wie inhaltlich: Zeitausdruck. Dem Weltmaschinensaal, dem Weltkrampf, dem Weltumsturz einen Theatersaal in Stuck und Gold entgegenzustellen, dessen Bühne dieselben Konflikte, Worte, Kulissen ungeändert hätte beibehalten sollen wie zu Zeiten Wildenbruchs, schien unerträglich. So weit richtig. Trotzdem litt das Richtige Schiffbruch. Der Grund war simpel: es fehlte an Genie. Der Dichter fehlte, der das unwidersprechlich Richtige mit neuen Mitteln zur neuen Gestallt gebildet hätte. „Das Drama schreiben heißt, einen Gedanken zu Ende denken“, notierte Georg Kaiser damals pro domo. Der Gedanke war gedacht, doch nicht gestaltet. So blieb er, ohne eine Tat zu werden, ein Programm. Vom Kino und der Telegraphie entlehnten die Expressionisten die Form. Sie bilderten, statt zu bilden, sparten am Wort und leider geizig an der Seele. Im Formalen lag ihnen der Weg, in der Sprengung der Form. Doch mit dem Sturz der Form läßt sich das Drama nicht erneuern. Nur aus seiner Natur. Aus seiner Natur aber wäre das Drama dann erneuert, wenn es das zu Gestaltende (schematisch gesprochen) nicht wie bisher im Zufall, sondern im Schicksal sähe. Das Drama ist Konflikt. Der Sinn des Dramas die Optik und die Ueberwindung des Konflikts. Der Konflikt des Mißglückten Expressionistendramas entstand aus einem individuellen oder kollektiven Zufall: er war schicksallos. Der Konflikt des wahren künftigen Dramas dagegen müßte aus dem Zusammenstoß zwischen Bestimmung und Willen erfolgen: schicksalhaft. Ziel des neuen Dramas: statt Zufall Schicksal. Statt Realität Vision.

             Dies hatte ich zu sagen, um zu kennzeichnen, welchen Abstieg das sogenannte Agitationsdrama, das in vielen Spielarten hergestellt und gepriesen worden war, dem beschimpften expressionistischen Drama gegenüber (gesehen vom hier maßgebenden Standpunkt des dramatischen Kunstwertes) bedeutet: Dieses, das expressionistische, war zumindest als Kunstform und ideell geboten; jenes, das agitatorische, bloß als Plattform und konjunkturell. Dieses war das Schrei-, jenes ist das Letzte-Schreidrama: Abstieg von der Idee zur Propaganda-Mode. Allerdings hat man auch hier Idee hineinzutragen und -zugeheimnissen versucht, hat mit dem nebulosen Begriffe „Zeitdrama“ Wesens getrieben. Was ist ein Zeitdrama? „Die Dinge auf der Bühne“, formulierte erst kürzlich ein deutscher Beurteiler von Rang, „müssen mich angehen, und sie gehen mich nur an, wenn das Zeitsubjekt weltanschauungshaft in mir getroffen wird“. Da möchte ich mir aber, so verführerisch die Formulierung klingen mag, energisch zu widersprechen erlauben! Hier will man, und tut es ja auch, dem Drama den Reportage- samt dem Kolporteur- und Propagandist seiner Tage anweisen und es zur poltisch-parteiischen Zeitung der Ereignisse, statt im Drama die bedingten Ereignisse zu unbedingten Erscheinungen machen. Kunst als Waffe? Warum nicht. Aber durch das Massewerden darf sie nicht an Kunst verlieren! Der Irrtum, der den Propagandisten hier unterläuft, hat zwei Grundlagen: es ist irrig, daß Dauer und Vergänglichkeit eines Dramas sich auf seine Weltanschauung gründen; und es ist irrig, daß der Besucher des heutigen Theaters in weltanschaulichem Sinn anspruchsverschieden von dem irgendeiner theatralischen Epoche sei. Trotz anderer oder anders gewordener Weltanschauung – und das letztere gilt für den Gegenwartswert der Klassiker – kann ein Drama heute und immer wirken, weil die Wirksamkeit nicht von der im Drama ausgedrückten oder ihm zugrundeliegenden Weltanschauung, sondern bestimmend von der darin gebildeten Gestalt abhängt. Ist diese Gestalt gültig, das heißt: für eine ganze Menschengruppe repräsentativ, dann wirkt sie in der Zeit und überwirkt die Zeit. Daß der Prinz von Homburg den Krieg als geboten voraussetzt, wird pazifistischen Zuschauern gleichgültig vor der gültigen Gestalt des Menschen, der zwischen sich und seiner Pflicht schwankt. Daß der König Lear das Gottesgnadentum der Könige zur selbstverständlichen Bedingung hat, wird dem demokratischen und republikanischen Zuschauer gleichgültig vor der gültigen Gestalt eines Vaters, der sein Kind beweint. Genau so irrig aber, wie die Wirkung von der Weltanschauung abhängig machen zu wollen, ist es, daß der Theaterzuschauer Weltanschauungen oder programmatische Vorgänge (Vorgänge seiner Weltanschauung) auf der Bühne verlangt, um das „tua res“ zu spüren. Wahr ist, daß er sich sozial geändert hat, nach wie vor aber auf der Bühne Menschen sehen will, die ihn angehen. Diese Menschen gehen ihn nicht nur dann an, wenn sie seine Gesinnungsgenossen, sondern entscheidender und allgemeiner dann, wenn sie gültige Gestalten sind, die keinen Privatfall, sondern einen Menschenfall, also auch den seinen inkarnieren. Das sind, sie mögen in der Steinzeit spielen, Zeitdramen. Das sind aktuelle Dramen, weil ihre Aktualität nicht im Januar 1931, sondern im Menschenhaften liegt, und das Menschliche bekanntlich dauernd aktuell, das Aktuelle dagegen desto seltener menschlich ist. Um es meinerseits zu formulieren: das echte Drama ist immer Zeitlosigkeits- und dadurch Zeitdrama, weil es die Zuschauer aller Zeiten zu Menschheitsgenossen macht; das sogenannte Zeitdrama ist bloß Augenblicksdrama, weil es die Zuschauer bestenfalls zu Parteigenossen macht. Es waltet (auch hier) derselbe Tiefen- und Größenunterschied wie zwischen Menschheit und Partei.

             Entschuldigen Sie diesen Exkurs, er war unumgänglich, um zu erkennen, warum die jüngere deutsche Dramenproduktion so mißgeleitet ist: im Expressionismus gestrandet, hat sie im Agitationsdrama den gestalterischen Boden unter den Füßen verloren, weil sie die Gestalt als agitatorischen Vorwand statt als das dramatische Ziel betrachtet, das sie ist. So steht es um die jüngeren deutschen Dramatiker. Die älteren, soweit sie nicht enttäuscht oder verdrossen dem Theater fernbleiben oder sich dem Roman zugewendet haben, sind die kräftigsten nicht mehr und, wenn sie es sind, nicht imstande, die klaffenden Lücken allein zu füllen –: dem deutschen Dichterdrama geht es schlimm. Und dem ausländischen? In England: Shaw, Galsworthy (im Roman unvergleichlich fähiger), Sherriff (mit der „Anderen Seite“), Maugham mit einigen hintergründigen Gesellschaftsstücken. In Frankreich: Romains, Geraldy, Lenormand, Bernard, Bourdet, Savoir. In Italien: Pirandellos längst verblasener Ruhm. In Ungarn: das Theatergenie Molnar und schwache Nachahmer. In der Czechoslowakei: Frantisek Langer, Karel Capek. Davon nähren wir Deutschen uns in der Hauptsache. Wer also sagt: es werden zurzeit nicht genug wertvolle Stücke geschrieben, um das Schauspiel ausschließlich mit ihnen zu beleben, hat recht. Insoweit gilt mein: Ja. Aber das Nein, das ich vorhin zur Antwort gab, gilt insoweit, als diese unanzweifelbare Tatsache zur fragwürdigen Konsequenz verführt, das deutsche Theater sei dem Autor nicht mehr und nur noch dem Schauspieler verpflichtet! Wenngleich es in der Tat wenige neue Dramen und Dramatiker gibt, die der Mühe verlohnen: zunächst müßten einmal diese wenigen aufgeführt werden, was nicht immer geschieht. Und dann, meine Damen und Herren: sollte es außerdem nicht ein paar ältere geben, vor denen die Schlußfolgerung: Weil nicht genug Dichter wirken, muß Konjunkturschmarrn und Konfektionskitsch das Theater überschwemmen, haltlos wird? Unter anderen gibt es einen Dichter, dem die wildesten Zeitgeistschwärmer Mangel an Aktualität nicht werden nachsagen können. Er heißt Shakespeare. Man zähle die deutschen Bühnen, die den Timon von Athen, Coriolan, Caesar, Antonius und Cleopatra: lauter brennende Aktualitäten, im Spielplan haben. Es gibt aber auch einen Dichter namens Schiller: seine Aktualität (in jenem Frühjahr angezogenen Sinne) ist rasant. Ich wenigstens wüßte Weniges, was heutigen Menschen ihre eigene Sache spürbarer machte als der Carlos, der weltanschauungshaft eineinhalb Jahrhunderte vorwegnahm. Kann man sich eine dem Augenblick nähere und wesentlichere Auseinandersetzung denken, als die zwischen Posa und Philipp? (Herr Theodor Tagger, der auf den Namen Ferdinand Bruckner hört, entschuldige, daß sein Philipp diesen Vergleich nicht aushält!) Findet sich jenes erlösend und sozial betonte Wort „Mensch“, das zum eisernen Inventar der letzten Literaturepoche gehört, irgendwo überwältigender ausgesprochen als hier? Und Grillparzer, gänzlich unentdeckt für Deutschland, ja verkannt in Deutschland, beschämend unterschätzt: Sein „Bruderzwist“ vor allem, politisch-geistig zur letzten Gegenwart gewendet! Und Hebbel: für das Zeitalter der Individualpsychologie von einer phantastischen Modernität! Und Grabbe! Und Kleist! Aber, mag man sagen: das alles sind Stücke, sind Dichter, die jedes Kind kennt! Ich weiß nicht, meine Damen und Herren, ich habe nicht den Eindruck, daß jedes Kind die Ehre dieser Bekanntschaften hat. Jedes Großstadtkind wird Ihnen heute die bestakkreditierten Automobilmarken nennen, ja Ihnen aus entferntem Motorengeräusch prompt Bescheid sagen können, welche Automarke da vorüberfuhr. Ob es den Kindern mit Shakespeare, Schiller und anderen bestakkreditierten Marken eben so ergeht? Bei einer Carlos-Aufführung, die ich in Wien zu sehen bekam, lachte die Galeriejugend stürmisch, als Carlos sich ins Zimmer der Eboli verirrte: Die Sache war der Galeriejugend ganz neu, sie fand sie daher komisch. Man darf den Bekanntenkreis der jungen Generation nicht überschätzen. Manches fehlt darin. Hie und dar sogar die Bekanntschaft mit dem Geist. Aber diese Bekanntschaft ihr zu vermitteln, ja sie ihr lockend, so herrlich erlebnishaft zu gestalten, wie sie ist: dazu sind unter anderem die deutschen Theater da. Bildungstheater? Das Wort hat einen fatalen Präzeptorgeschmack und klingt nach Nachmittagsvorstellung zu ermäßigten Schülerpreisen. Trotzdem sind die Begriffe „Bildung“ und „Theater“ nicht so himmelweit verschieden, wie man heute glauben machen möchte, die Meinung, das Theater sei verpflichtet, nicht nur zu unterhalten, sondern auch zu lehren, nicht so hirnrissig und antiquiert, wie man sich heute in Direktionskanzleien anzustellen pflegt: Wenn man, wie ich, jenes Galerielachen über Don Carlos‘ Fehltritt noch im Ohre hat, kommt einem die Sache gar nicht so lustig vor.

             Aber doch Don Carlos! Habe ich mir da nicht selbst widersprochen? Also doch aufgeführt, was aufgeführt sein soll? Allerdings. Aber –: warum aufgeführt? Die Frage ist nicht unwichtig. Denn der Don Carlos war nicht aufgeführt worden, weil es der Don Carlos war … bewahre! Er war aufgeführt worden, um Bassermann Gelegenheit zum Philipp zu geben, zu einem prachtvollen Philipp, wie man weiß. Immerhin, dies war der Anlaß. Und dies und dergleichen ist der Anlaß, um heute Werke des dichterischen Welttheaters auf die Bühne zu bringen: nicht um der Werke willen tut man’s, sondern weil der Clavigo eine Moissi-Rolle, weil die Julia eine Bergner-Attraktion sein soll. Nicht, weil das Theater seine Verpflichtung zum Wert erkennt, durchbricht es die Unwertserien: es erniedrigt vielmehr den Wert zur schauspielerischen Gelegenheitsmacherei. Ob hiebei gute oder schlechte Vorstellungen zustandekommen, entscheidet nicht so sehr; entscheidend bleibt zunächst unser Punkt Eins: Die Unterwerfung des Theaters unter die Schauspielerherrschaft sogar dort, wo es sich um Ewigkeitswerte handelt. Jene grundlegende Aenderung der geistigen Theaterstruktur wird dadurch unverkennbar. Sie besteht in der ungeheuren und ungeheuerlichen Bagatellisierung des Inhalts des Aufgeführten. Was ist Bagatelle. Wichtig ist nur, daß „Was“ da ist, um schauspielerische Gelegenheit zu machen.

             Zu der Gelegenheitsmacherei für den Schauspieler tritt die für den Regisseur, die bei klassischen Reprisen am vernichtendsten bemerkbar wurde. Reinhardt, von den fehlgeratenen Großen-Schauspielhaus-Experimenten belehrt, hat für seine Person die Tollheit vermieden und seine geniale Regiekraft wieder ganz dem Schauspieler gewidmet. Er ist kein „Auffassungsregisseur“, kein Zeitgeisteinbläser, deshalb auch kein Werkvergewaltiger. Aber wie viele solche liefen herum! Ihr Stern ist im Verblassen, gottlob. Sie haben trotzdem Unheil genug gestiftet, nicht zuletzt dadurch, daß sie einer Generation, der man das Theater der Größe vorenthielt und die es daher kaum vom Hörensagen kannte, durch tolle Verstümmelungen und Verzerrungen die Meinung beibrachten, es sei so klein wie seine ungebetenen Erneuerer. Jene „Krise der klassischen Darstellungsform“, die Herbert Ihering in seiner Schrift „Reinhardt, Jeßner, Piscator oder Klassikertod?“ hervorhebt, ist nicht zuletzt dem Regisseurgrößenwahn zur Last zu schreiben. Unter dem Vorgeben, es sei in dem falschen Sinne zeitgemäß zu machen, von dem die Rede war, fühlte man sich befugt, dem klassischen Drama eine Form zu geben, welche die überkommene zertrümmerte, ohne die neue gefunden zu haben. Befugt aber fühlte sich die Unbefugten, und unbefugt sind da fast alle, die Ausnahmen bestätigten die Regel. Wenn etwa der Dichter Beer-Hofmann die „Iphigenie“ dramatisch kürzte und zusammenfaßte, wie er’s getan hat, dann war er dazu befugt, als Dichter trat er zu der Dichtung, fühlte sie nach, verehrte sie so sehr, daß er um der Dichtung willen sie neu belebten wollte und belebte. Wenn aber ein zünftiger Auffassungsregisseur, er sei der fixeste, desgleichen tut, dann tut er’s nicht um der Dichtung, sondern eben um der „Auffassung“ willen, die er angeblich hat und die er zeigen wollte: aus selbst Zweck also. Solche Selbstzweckregisseure, die ein Werk inszenieren, um sich dadurch in Szene zu setzen und nach Tragödienschluß im Namen Shakespeares zu danken, haben das epochale Theaterübel verbittert und verschärft. Von der Insolvenz abgesehen, die dazu gehört, daß jemand, der keine andere Legitimation als die der Eisenbahn hat, vor Shakespeare, vor Schiller als eingebildeter Retter mit dem Gedanken tritt: „Das Kind will ich schon schaukeln“, sind solche Schaukler weit davon entfernt, zu retten, und näher daran, zu morden! Lernt die Generation, wie es ihr zu Berlin in der Aera Jeßner erging, das klassische Drama (man erinnere sich an Wilhelm Tell !) aus Auffassungsregien kennen, dann enthält sie eine Vorstellung, deren geistige noch quälender als die szenische ist; von den Abendkassenschränkern der klassischen Hinterlassenschaft ganz zu schweigen, die den Hamlet in den Frack steckten und die Situation unhaltbar, weil sie sie lächerlich machten. Es war daher nicht unverschuldet, daß Jeßner auf seiner Treppe wirtschaftlich zu Falle, der ungleich stärkere Piscator auf dem laufenden Band um keinen Kunstschritt weiterkam. „Vom Ibsen zu Piscator“ betitelte Bernhard Diebold diese Entwicklung, der man kaum anders als durch den Untertitel „Weit gebracht!“ gerecht werden kann.

(Fortsetzung folgt.)

In: Neue Freie Presse, 22. Februar 1931, S. 1-4.

Ernst Fischer: Der Neger Jonny und das freiheitliche Wien

            Seit Silvester hat Wien sein großes Ereignis. Eine neue Oper „Jonny spielt auf“ von Ernst K r e n e k hat die Gemüter erhitzt und das träge, vom Beharrungsvermögen niedergehaltene, gegen alles Neue voreingenommene Wiener Publikum aufgerüttelt. Umso erfreulicher, daß dies einem bescheidenen, blonden, kaum 28jährigen jungen Mann gelang, der ohne große Phrasen, ohne leeren Schwulst, ohne blutleeres Pathos frisch und frei drauflos komponiert. Er will keine Ewigkeitswerte schaffen und schon gar nicht mit  Ewigkeitswerken in Wettbewerb treten. Er hat einfach gedichtet und gesungen, wie es ihm ums Herz war, ja wie es in unserer von Benzingestank geschwängerten Luft liegt. Er umgibt sich mit keinem falschen Heiligenschein, er gestaltet die Tonwelt als Abbild einer entgötterten äußeren Welt und er hat den Mut, den Jazz opernfähig zu machen, wie vormals Mozart das Menuett oder Richard Strauß den Walzer. Da er genau weiß, was er will, fürchtet er weder Tod noch Teufel und sein Jazz wird förmlich zu einer Apotheose jener rhythmischen Urkraft, die unserem Maschinenzeitalter die Welt beherrscht.

            Sein „Jonny“ hat, wie vorher schon an Dutzenden anderen Bühnen, nun auch an der Wiener Staatsoper aufgespielt und der Neger hat es auch den Wienern angetan. Das Geheimnis seines Erfolges ist die Einfachheit, die Wahrhaftigkeit des Ausdrucks, die moderne schlanke Linie im Orchester, die Selbstverständlichkeit, mit welcher Kreneks Tonsprache in der unmittelbaren Gegenwart lebt und sich an die breitesten Schichten des Publikums wendet. In seinem leichtbeschwingten Spiel mischen sich ernste mit heiteren Episoden, es will nach dem Rezept des alten Theaterdichters Goethe vielerlei und jedem etwas bringen. Ohne jede Dogmatik, ohne alle Moralpauken vollzieht sich hier die Annäherung des alten, in der Ideologie seiner Kunst erstickenden Europa an das von künstlerischer Vergangenheit unbeschwerte, im raschesten Jazztempo dahinstürmende Amerika. Der schwarze, skrupellose Jonny, der Geiger und Banjospieler, Posaunist und Saxophonbläser, gewinnt mit allen Mitteln der List und Gewalt die kostbare alte Geige des künstlerisch entarteten {sic!} Danielo, der von den Rädern der Lokomotive zermalmt wird. Siegreich schwingt sich Jonny auf die Bahnhofsuhr, welche sich zur Weltkugel weitet, auf der Jonny auf der alten Geige der ganzen Welt im Jazzrhythmus aufspielt. Er ist stärker als der lüsterne Danielo, stärker als der schwerfällige romantische Tondichter Max, der hochanständige, dem Leben nicht gewachsene Schwächling, der die geräuschvolle Wirklichkeit fürchtet und sich in die Einsamkeit des Gletschers verbirgt. Aber das rasche Leben stürmt vor unseren Augen und Ohren unerbittlich weiter, jenseits von Pathos, Empfindsamkeit und Moral, mit allen seinen Lastern und Leidenschaften, mit Eisenbahn und Auto, Film, Lautsprechern, Detektiv,  falschem Chauffeur und boxenden Polizisten, mit dem täglichen und nächtlichen unromantischen Treiben auf dem Hotelkorridor, mit Tötung und Einbruch, mit Blues, Saxophon und Charleston.

            In all diesen bunten Bildern, die filmartig rasch vorüberziehen, vermag uns Krenek mit dem Urinstinkt des Theatermenschen im D-Zugstempo unserer Zeit auf der Opernbühne aufzuspielen, ein gegenwartsfroher Wirklichkeitsmensch, der, ohne nach rechts oder links zu schielen, ohne in Symbolen und Problemen dick aufzutragen, der Oper von heute etwas gibt, was sie längst suchte und nicht fand. Sein ungekünstelter „Jonny“ ist für die Opernbühne unserer problemfeindlichen Zeit förmlich ein Ei des Kolumbus!

            „Jonnys“  naiver Realismus, seine Ehrlichkeit und Unbefangenheit haben in Wien wie anderwärts Publikum und Kritik im Sturm erobert. Jede Aufführung ist trotz phantastisch hoher Preise ausverkauft und vor dem Wunder dieses Publikumserfolgs verblassen alle „Wunder der Heliane“.1

            Ein Blatt freilich schrie Zeter und Mordio über die Unsittlichkeit und über den Dilettantismus  der Negeroper: Die „Neue Freie Presse“, unfehlbar wie stets tat dem „Jonny“ die Ehre an, ihn mit den gleichen überheblichen Phrasen in Acht und Bann zu tun, mit dem sie vormals Wagner und Brunner, Richard Strauß und Neger belegt hatte. So wenig es jenen geschadet hat, so sehr mag es Krenek ehren, wenn die „Neue Freie Presse“ jede schwache Operette und jede schwächere Revue höher stellt und reinlicher, // kurzweiliger und zeitgemäßer findet als den „Jonny“. Mit der einmaligen Abschlachtung des „Jonny“ gab sich aber die Sittenrichterin nicht zufrieden; das „Weltblatt“ verlor den letzten Rest von Haltung und ließ wenige Tage nachher einen von Sittlichkeit und Kulturidealen triefenden Leitartikel los2, der förmlich zur Absetzung des „Jonny“, der „Ouvertüre zur Entweihung des Hauses“ aufforderte. Das Weltblatt, einst der Vorkämpfer für Freiheit und Fortschritt, kämpft da in schimmernder Wehr für das Deutschtum und der Menschheit Würde – welche durch Kreneks Oper bedroht werden! – Schulter an Schulter mit dem Wiener Hakenkreuzlerblatt, welches von einer „Entweihung des ältesten deutschen Opernbühne“ durch den „Jonny“ sprach. „Schluß machen mit der unerhörten Schande!“ rief empört das deutsche Bruderblatt aus. Schon munkelte man von einer lauten Demonstration der sittlich unentwegt Entrüsteten gegen die weiteren Aufführungen des „Jonny“ und die Polizei im Opernhause wurde vervierfacht. Aber das angesagte Revolutiönchen blieb aus und die Aufführung verlief friedlich unter dem einmütigen Beifall des ausverkauften Hauses.

            Der Musikkritiker Julius Korngold wird dem Rad der Zeit nicht in die Speichen greifen, es dreht sich weiter, unbekümmert um Korngolds wichtige, oberstrichterliche Meinung. Ernst Krenek ist übrigens dem unfehlbaren Kritiker die Antwort nicht schuldig geblieben. Er bezeichnete ihn – gelegentlich eines Vortrages über seinen „Jonny“ – unter lebhaftem Beifall seiner Zuhörer als einen älteren, gereizten Herrn, dessen Einstellung ja ohnedies zur Genüge bekannt ist.3 Ebenso bekannt ist längst die Einstellung der „Neuen Freien Presse“, ihr Geist, der stets verneint und sich gegen alles Neue und Freie wendet. Gleichwohl soll es festgenagelt werden, dass sie es nicht verschmähte, ihr schwerstes Geschütz, ihren Leitartikel, gegen eine harmlose Oper in Bewegung zu setzen. Die geöltesten Phrasen von Sittlichkeit und Kunstschönheit werden da aufgetischt, der arme „Jonny“ wird ein {recte: in} einem Zerrspiegel gezeigt, in dem er sich selbst nicht mehr erkennen mag. Alle Bonzen der hohen, strengen Kunst von Lessing und Herder bis zu dem vormals in den gleichen Feuilletonspalten verunglimpften Richard Strauß werden heraufbeschworen, ja sogar das Schubertjahr muß herhalten und der tote Schubert wird gegen den lebenden Krenek ausgespielt. Dies alles, um ein das Antlitz seiner Zeit tragendes, zugkräftiges, aber dem „Weltbaltt“ und seinen Hintermännern unbequemes Theaterstück aus dem Opernspielplan herauszubeißen. Alles vergebens! Das „Weltblatt“ hat seinen wohlvorbereiteten Feldzug gegen Krenek verloren. Er war die beste Reklame für dessen „Jonny“, welcher der „Neuen Freien Presse“ wohl noch lange in der Staatsoper aufspielen wird.

Wien im Jänner.                                                                                            e. f.

In: Arbeiterwille, Graz, 14.1.1928, S. 3-4.


  1. Oper von Erich Wolfgang Korngold, die 1927 am Stadttheater Hamburg uraufgeführt wurde und 1928 im Operntheater Wien am Programm stand. Das Libretto stammt von Hans Müller-Einigen nach dem Drama Die Heilige von Hans Kaltnecker. Die Aufführungen, auch in neuerer Zeit, wurden eher reserviert bzw. kontrovers aufgenommen und diskutiert. Vgl. z.B. die ablehnende Kritik zur britischen UA 2007 in der Royal Festival Hall: http://www.telegraph.co.uk/culture/music/opera/3669482/Das-Wunder-der-Heliane-Operas-biggest-load-of-codswallop-rises-from-the-grave.html  während jene zur Brünner 2012 Aufführung deutlich positiver ausfiel: http://www.der-neue-merker.eu/brunn-das-wunder-der-heliane-von-korngold-derniere. (Aufgerufen am 22.8. 2014)
  2. Bezieht sich auf den Leitartikel Das Ende des Opernrummels in der NFP vom 6.1.1928; siehe: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=nfp&datum=19280106&seite=1&zoom=33
  3. Gemeint ist der Vortrag Kreneks im Kulturbund

David Josef Bach: Die Dreigroschenoper im Raimundtheater

Kommentiert von Julia Danielczyk und Johannes A. Löcker.

Das Raimundtheater1 ist gestern der Schauplatz eines theatergeschichtlichen und musikhistorischen Ereignisses gewesen. Daß uns Berlin darin vorangegangen ist, wird man, wie die Dinge liegen, wohl schon als selbstverständlich empfinden; aber wir wollen froh sein, daß die „Dreigroschenoper“ nun doch auch nach Wien gekommen ist. Dieses Werk ist es, mit dem nach mannigfachen Vorbereitungen und Experimenten ein neues Kapitel in der Geschichte des Theaters anhebt.

Es mag musikalisch wie dichterisch anspruchsvollere Werke geben, pomphaftere, tiefsinnigere, von dem Unverständnis der Gegenwart in das Verständnis der Zukunft sich flüchtende Werke; aber keines, das so entschlossen wie die „Dreigroschenoper“ sich an die Bedürfnisse der Gegenwart wendet und bei allem Bruch mit der Vergangenheit, bei aller Verwurzelung in der Gegenwart, Neues, Zukünftiges aufbaut. Die Zukunft der Oper als Kunstform ist fraglich geworden. […]

Die „Dreigroschenoper“ erklärt sich selbst mit eigenen Worten: „Sie werden heute Abend eine Oper für Bettler sehen. Weil diese Oper so prunkvoll gedacht war, wie nur Bettler sie erträumen, und weil sie doch so billig sein sollte, daß Bettler sie bezahlen können, heißt sie „Die Dreigroschenoper“.“ […] Die „Dreigroschenoper“ nun stellt das Singspiel unserer Zeit dar. Das Lumpenproletarische, in dem sich seine Handlung bewegt, ist nichts als eine Möglichkeit, sich den Problemen unserer Zeit, den Tatsachen des sozialen Lebens zuzuwenden. Daß solche Stücke geschrieben werden, in Dichtung und Musik, beweist, daß die Künstler der neuen Generation, ganz gleichgültig, ob sie politisch denken, sich den sozialen Problemen nähern, die unsere Zeit erfüllen, sich mit ihnen auf irgendeine Art abfinden müssen. […] auf der Bühne ist keine armselige Wirklichkeit vorgetäuscht, sondern die Wahrheit der Empfindungen, die sich aus einem bestimmten Milieu ergeben, im Guten wie im Bösen, in der Liebe wie in ihrer Käuflichkeit, im Heldenhaften einer Räuberromantik , im Bewußtsein des Unrechts, das an den armen Leuten geübt wird und das sie mit Ungesetzlichkeit vergelten, in dem Bewußtsein ihrer Unterwerfung unter das Gesetz der Reichen und Mächtigen , dem sie ausgesetzt sind, und in ihrer kindlichen Hoffnung auf ein glückliches Ende: „Damit das Publikum sehe, daß wenigstens in der Oper Gnade vor Recht gehe“, heißt es am Schluß. Und so kommt mit der unwahrscheinlichsten und darum doch nicht weniger erwarteten Gnade ein nicht minder unwahrscheinliches, künstlerisch aber sehr begründetes Opernfinale.

Die Handlung so geführt, daß sie jedesmal im rechten Augenblick in Musik mündet. Schon durch diese Form ist der Widerspruch zwischen Text und Musik beseitigt, der dem Opernstil so leicht anhaftet. Ueberdies entspricht auch die Musik, für sich allein betrachtet, den Bedürfnissen einer neuen Zeit. Keineswegs etwa im Aestethischen oder nur in diesem. Der Komponist Kurt Weill2 ist schon mit mehreren modernen Orchesterwerken und mehreren kleineren Opern hervorgetreten, die man, fast selbstverständlich, in Wien gar nicht kennt. Aber in der „Dreigroschenoper“ sind die Ergebnisse moderner Kompositionsweise geradezu popularisiert. Diese soziale Musik, die sich der rhythmischen Formen und der instrumentalen Möglichkeiten der Jazzmusik bedient, wird von jedermann verstanden werden und die Schlager dieser „Dreigroschenoper“ werden bald und ebenso gesungen und gespielt werden wie so viele Nummern aus Operetten und Revuen. Die „Dreigroschenoper“ ist kein Ersatz dafür; sie bringt nicht einen neuen Operettenstil, sondern sie bringt die Möglichkeit eines neuen musikalischen Stiles für Theaterzwecke. Sie wendet sich an ein Publikum, dem die große Oper bisher aus wirtschaftlichen Gründen ebenso verschollen war wie aus den Gründen, die im Ursprung dieser höfischen Kunst liegen. Wenn das Publikum nicht in die Oper geht, ins musikalische Theater kann es gehen. Die „Dreigroschenoper“ sprengt ein Tor und verschafft jedermann Zugang zu neuer Musik. An ihr werden sich viele Tausende erfreuen, ohne lange darüber nachzudenken, wodurch sich diese Musik von andrer unterscheidet. Sie werden ihre lebendige Frische, ihre echte, unserer Zeit entsprechende Volkstümlichkeit empfinden und sich ihr gerne hingeben.

Durch die Aufführung der „Dreigroschenoper“ im Raimund-Theater ist Direktor Beer3 zu seinen ersten ruhmreichen Bestrebungen, das Neue zu bringen, die er später gelegentlich immer wieder erneuerte, mit Begeisterung und Erfolg zurückgekehrt. Die von Karlheinz Martin4 geleitete Aufführung ist der Wichtigkeit des theatergeschichtlichen Ereignisses würdig. Alfred Kunz5 hat die Bühnenbilder so entworfen, daß sie den Erfordernissen des Werkes selbst und den Einfällen des Regisseurs vollkommen entsprechen. Unter den Darstellern steht Harald Paulsen6 als Räuberheld obenan. Er ist nicht nur Tänzer und Sänger, er ist ein bedeutender Darsteller wie unter anderem seine Szene im Käfig, vor der Hinrichtung beweist. […] Der Erfolg wird noch steigen, wenn die richtigen Leute das Haus füllen, die Jedermann.

In: Arbeiter-Zeitung, 10.3.1929, S. 5-6.


  1. Das Raimundtheater (Wallgasse 18–20, 1060 Wien) wurde am 28. 11. 1893 eröffnet. Es war der erste Theaterneubau nach der Stadterweiterung im Jahr 1890. Adam Müller-Guttenbrunn leitete die Bühne von 1893–1896, Ernst Gettke führte sie von 1896–1907, Siegmund Lautenburg und Karl Rosenbaum im Jahr 1907, es folgten Wilhelm Karczag und Karl Wallner bis 1920. Im Herbst 1921 hatte das Haus einen neuen Pächter und Direktor: Rudolf Beer. Er machte aus dem Operettentheater eine renommierte literarische Bühne. Sein Konzept beinhaltete drei Schwerpunkte: zeitgenössische Literatur, moderne Klassik und Unterhaltungsstücke. Ab 1924 leitete Beer sowohl das Raimundtheater als auch das Deutsche Volkstheater. Dies eröffnete Möglichkeiten alternativer Programmgestaltung und Austausch des Ensembles. 1926 trat Hubert Marischka der Direktion Beer bei. Das zwischenzeitliche Engagement von Ferdinand Exl (Leiter und Besitzer der Exl-Bühne in Innsbruck) als künstlerischer Leiter erwies sich als Fehlschlag, da sein bäuerlich-volkstümliches Programm vom Wiener Publikum eher im Sommer angenommen wurde. 

    Als eines der bedeutendsten Ereignisse unter der Direktion von Beer gilt die österreichische Erstaufführung von Bertolt Brechts „Die Dreigroschenoper“. Harald Paulsen war als Macheath (Mackie Messer), Kurt von Lessen als Peachum, Julius Brandt als Tiger Brown, Pepi Kramer-Glöcker als Frau Peachum, Barbara Hohenberg als Polly, Elisabeth Markus als Lucy, Thea Braun-Fernwald als Seeräuber Jenny sowie Alexander Marich, Karl Ehmann und Karl Skraup als Bandenmitglieder zu sehen. Für das Bühnenbild sorgte Alfred Kunz, das Jazzorchester leitete Norbert Gingold, für die Regie verantwortlich zeichnete Karl Heinz Martin.

    „Die Dreigroschenoper“ wurde von der Presse mit Hugo von Hofmannsthals „Jedermann“ verglichen, das 1920 bei den Salzburger Festspielen seine österreichische Erstaufführung (UA 1911 in Berlin) erlebte. Die „Probleme des Daseins“, wie Felix Salten schreibt, sind in keinen anderen Stücken so gut angesprochen wie in „Jedermann“ und der „Dreigroschenoper“. Im „Berliner Börsenkurier“ heißt es anlässlich der österreichischen Erstaufführung: „Die Triebe, von denen die Figuren bewegt werden, sind so zeitlos menschlich wie etwa das Leben und Sterben des ‚reichen Mannes‘ in Hofmannsthals ‚Jedermann‘. Beer hat mit dieser Aufführung seine Position und die seines Theaters weitgehend gefestigt.“ Felix Salten rezensierte in der „Neuen Freien Presse“ am 10. März 1929: „Man hat ein Werk vor sich, das von Tradition und alter Herkunft getragen wird, das mit Menschlichem und Allzumenschlichem anspricht, das nach Heute und Morgen riecht, das von Talent und Jugend umwittert ist. Dieses Werk den Wienern in einer so guten Aufführung gezeigt zu haben, war jedenfalls Pflicht, war vielleicht sogar ein Wagnis, aber es bleibt unter allen Umständen ein Verdienst“.

  2. Kurt Weill (* 2.3.1900 Dessau – 3.4.1950 New York). 1927 begann die Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht, 1928 verfassten sie zusammen „Die Dreigroschenoper“. Sein ab 1927 entwickelter sogenannter „Songstil“ prägte „Die Dreigroschenoper“.
  3. Rudolf Beer (*21.8.1885 Graz – + 9.5.1938 Wien). Beer war Schauspieler, Regisseur und Theaterdirektor. Er leitete 1918–21 das Brünner Stadttheater, 1921–24 pachtete er das Raimundtheater und 1924–32 das Deutsche Volkstheater in Wien. Unter Rudolf Beer war das Volkstheater mit dem Raimundtheater fusioniert, der Spielplan war stark an den Berliner Bühnen orientiert. Zu Beers wichtigsten Regisseuren zählte Karl Heinz Martin. Beer lud viele Ensembles zu Gastspielen ein, darunter das Moskauer Kammertheater unter Alexander Tairoff oder Stars mit eigenen Ensembles wie Fritz Kortner oder Paul Wegener. Beer förderte moderne, progressive Literatur, besonders Luigi Pirandello, von dem 1926 „Heinrich IV.“ mit Alexander Moissi gespielt wurde. Moissi spielte auch den Hamlet im Frack in einer zeitgenössische Shakespeare-Deutung, einem der seltenen Klassiker in der Direktion Beer. 1929 verkörperte Moissi hier seinen legendäre Jedermann, den er bei den Salzburger Festspielen unter Max Reinhardt dargestellt hatte. Dramaturg an Beers Haus war der Autor Franz Theodor Csokor. Ab 1931 war am Volkstheater auch eine Schauspielschule angegliedert, Karl Paryla und Paula Wessely, die dem Ensemble einige Jahre angehörte (Wendla in Wedekinds „Frühlings Erwachen“, 1928) studierten hier. Karl Heinz Martin inszenierte 1929 Bertolt Brechts „Die Dreigroschenoper“ mit großem Erfolg, 1930 Molnárs „Liliom“ in einer Berliner Fassung. Eine Sensation war das Auftreten Emil Jannings in Gerhart HauptmannsDer Biberpelz“ (1930) und „Fuhrmann Henschel“ (1931). 1932 wurde Beer kurzfristig als Nachfolger Max Reinhardts ans Deutsche Theater Berlin berufen, seine Tätigkeit fand aber infolge der Machtergreifung Hitlers schon 1933 ihr Ende und er kehrte nach Wien zurück. 1932 erhielt er den Berufstitel Professor. 1933–38 leitete Beer das Theater „Scala“ in Wien. In dieser Zeit war er auch Präsident des Verbandes österreichischer Theaterdirektoren. 1938 wurde Beer nach dem ‚Anschluss’ Österreichs während einer Vorstellung von CalderónsDer Richter von Zalamea“ vom NS-Betriebszellenleiter Erik Frey gemeinsam mit Robert Valberg aus einer Loge gezerrt und schwer misshandelt. Beer nahm sich am 9. Mai 1938 das Leben. Der Regisseur und Direktor des Theaters in der Josefstadt (im Zeitraum 1935–1938) Ernst Lothar (1890–1974) sagte über Rudolf Beer: „Beer ist an keiner Sensation vorbeigegangen, er hat Hamlet in den Smoking und sich selbst den Respekt von hohen Stil an den Hut gesteckt; aber sein Theater war lebendig, hatte Ehrgeiz und Mut.“
  4. Karl Heinz Martin (*6.5.1888 Freiburg im Breisgau – + 13.1.1948 Berlin). Karl Heinz Martin war Regisseur und Theaterleiter. Martin debütierte 1904/05 in Kassel, wechselte dann nach Hannover und Mannheim , wurde 1910/11 Direktor des Komödienhauses in Frankfurt am Main, 1912/13 Oberspielleiter der dortigen Städtischen Bühnen, 1917–1919 war er Oberspielleiter des Thalia-Theaters in Hamburg. 1919 gründete Martin zusammen mit Rudolf Leonhardt in Berlin das erste deklariert proletarische Theater „Die Tribüne“ (wo er die Uraufführung von Ernst Tollers „Die Wandlung“ mit Fritz Kortner übernahm). 1920–22 war er Regisseur an den Reinhardt-Bühnen in Berlin. Martin wurde in den 1920er Jahren als Regisseur expressionistischer Stücke bekannt, er brachte – ähnlich wie Erwin Piscator – Massen auf die Bühne und förderte progressive Dramatik. 1923 gründete er zusammen mit Heinrich George das Berliner Schauspieler-Theater, ab diesem Zeitpunkt inszenierte Martin in Breslau, Salzburg, an verschiedenen Berliner Bühnen sowie am Raimundtheater in Wien, wo er für die Regie von Arnolt Bronnens „Anarchie in Sillian“ (1924) von Frank Wedekinds „Franziska“ (1924) sowie Bertolt Brechts „Die Dreigroschenoper“ (1929) verantwortlich zeichnete. 1929–1932 war Martin Leiter der Berliner Volksbühne, Ende 1932 wurde er zusammen mit Rudolf Beer als Nachfolger zum Direktor seiner Bühnen ernannt. Nach Gastinszenierungen in Wien 1933/34 war Martin vor allem als Filmregisseur tätig, da er als Theaterregisseur Berufsverbot hatte. Ab 1940 konnte er dank befreundeter Intendanten einige Gastinszenierungen gestalten, etwa an den Münchner Kammerspielen Grabbes „Hannibal“ (1940) und Laubes „Die Karlsschüler“ (1941). Am 15. August 1945 eröffnete er das Berliner Hebbel-Theater (dessen Intendant er bis zu seinem Tod bleib) mit Brechts „Die Dreigroschenoper“ wieder und brachte zahlreiche Uraufführungen heraus. Mit seiner Inszenierung von Gorkis „Nachtasyl“, Molnárs „Liliom“ (mit Hans Albers) sowie durch Gastregisseure wie Jürgen Fehling (Sartres „Die Fliegen“) machte er das Hebbel-Theater zu einer der lebendigsten Berliner Bühnen. Wolfgang Langhoff sagte 1948 über Karl Heinz Martin : „Er wußte, daß die Umschichtung und Umerziehung des Publikums die Aufgabe des Theaters von heute ist, und so wurde er nach dem ersten Weltkrieg ein Mann der Volksbühne, ein Mann des Fortschritts, ein rastloser und suchender Regisseur neuer Stücke, neuer dichter, die mit ihrer Zeit verbunden waren. Diese Seite seines Wirkens ist die größte und ihr muß dauernder Wert zugesprochen werden.“
  5. Alfred Kunz (*26.6.1894 Wien –  2.8.1961 Wien). Kunz war Kostüm- und Bühnenbildner. Ab 1918 wirkte er als freischaffender Architekt, ab 1922 als Bühnenbildner und Ausstatter an vielen Wiener Bühnen. Kunz arbeitete auch für den Film und war als Modezeichner einflussreich. 1938–1945 war er künstlerischer Leiter des „Wiener Hauses der Mode“ im Palais Lobkowitz und wesentlich beteiligt an der 1939 erfolgten Umgestaltung der Wiener Frauenakademie in eine Modeschule der Stadt Wien. 1945–1955 leitete er als erster Direktor die wieder gegründete Modeschule, er baute auch die heutige Modesammlung des Wien Museums auf.
  6. Harald (Johannes David) Paulsen (*26.8.1895 Elmshorn/Hamburg – +4.8.1954 Hamburg-Altona). Paulsen war ausgebildeter Tänzer, Regisseur, Schauspieler. Paulsen debütierte 1913 am Hamburger Stadttheater, spielte am Fronttheater Mitau und kam 1919 nach Berlin ans Deutsche Theater. Paulsen, zum damaligen Zeitpunkt vor allem Operettenstar, spielte sowohl in der Uraufführung von Bertolt Brechts „Die Dreigroschenoper“ (am 31.8.1928 am Berliner Theater am Schiffbauerdamm, die Inszenierung wurde 200 Mal gespielt, bis Ende 1932 wurde „Die Dreigroschenoper“ in 18 Sprachen übersetzt und erfuhr mehr als 10 000 Aufführungen in Europa) als auch in der österreichischen Erstaufführung erfolgreich die Rolle des Mackie Messer. 1938 übernahm Paulsen die Intendanz des Theater am Nollendorfplatz in Berlin, wo damals hauptsächlich Operetten aufgeführt wurden. Er führte auch Regie und übernahm Gesangspartien. Bis 1945 leitete er die Bühne, danach wechselte er ans Schauspielhaus Hamburg. Paulsen wirkte in zahlreichen Filmen mit. Von der „Dreigroschenoper“ existieren heute noch Gesangsaufnahmen mit Harald Paulsen.

Raoul Auernheimer: Mehr Ibsen

Jene Theaterfreunde, denen die Schaubühne mehr als einen bloßen Zeitvertreib bedeutet und das große Amt des Dramatikers nebst allem anderen auch eine Art weltlicher Seelsorge ist, sehen sich, wenn sie bei Ibsen beten oder beichten wollen, in den letzten Jahren immer häufiger gezwungen, sich auf die gedruckten Schriften dieses Dichters zurückzuziehen. Ibsen wird ja kaum mehr in Deutschland gespielt, in Wien so gut wie gar nicht. Ist es wirklich, wie säumige Theaterdirektoren oder oberflächliche Theatergänger so gern zur Entschuldigung eines unentschuldbaren Mißstandes behaupten, bereits „veraltet“ (als ob das wahrhaft Gute je veralten könnte)? Ist es der Krieg, der eine Wandlung des Geschmackes von Ibsen weg herbeigeführt hat – im Gegensatz zu jenem anderen Nordländer, Strindberg, den die Kriegsjahre in der Gunst des großen Publikums so sehr befestigt haben? Oder sind es in erster Linie die darstellerischen Mittel, die zu seiner dramaturgischen Bewältigung derzeit mangeln? Diese letzte Vermutung, die das Phänomen, daß Ibsen nicht mehr gespielt wird, ohne Wunder zu erklären sucht, dürfte für Wien genügen. Ibsen, der als ein großer Dramatiker auch an den Schauspieler bedeutende Ansprüche stellt, verlangt, um zu wirken, nach einem abgestuften Ensemble, wie es zurzeit keine Wiener Bühne besitzt. Das Deutsche Volkstheater bildet selber keine Ausnahme. Daß es sich trotzdem nicht davon abhalten ließ, wenigstens ein großes Ibsen-Stück dem Spielplan neu einzuverleiben und damit eine geistige Ehrenschuld gegen den Dichter einzulösen, ist verdienstlich, wenngleich es fraglich bleibt, ob gerade der szenisch so anspruchsvolle und dramatisch unzulängliche „Peer Gynt“ das hierfür geeignetste Werk war.

„Peer Gynt“, den Ibsen ebenso wie die „Gespenster“ und manches andere seiner nordischen Prachtstücke im sonnigen Süden, in Sorrent, zu Papier brachte, ist, obwohl unter italienischem Himmel entstanden, eine äußerst dunkle Dichtung. Sie ist so dunkel, daß der unbelehrte Zuschauer sich kaum darin zurechtfände und wie in einem finsteren Walde ganz verirren müßte, wenn nicht da und dort ein Stern durch das wirre Geäst schiene oder eine phosphoreszierende Dialogstelle ihm die Richtung wiese. Eine solche blitzt etwa in jener Szene bei den „Trollen“ auf, wo Peer Gynt sich mit dem Dovre-Alten unterhält. Der Dovre-Alte, der, wie die dunkeln Ehrenmänner bei Ibsen gewöhnlich, eine philosophische Konversation liebt, fragt den Ankömmling, unter anderm, worin seiner Meinung nach der Hauptunterschied zwischen Mensch und Troll bestehe. Der liederliche und geweckte Bauernbursch, der Peer Gynt ist – er soll das norwegische Volk symbolisieren, belehren uns die Ibsen-Kommentatoren – antwortet zynisch, der Unterschied werde so beträchtlich nicht sein. Aber der Dovre-Alte erklärt ihm, er sei unendlich; denn, so sagt er – und von dieser Stelle geht das Licht aus -: Das höchste Gebot des Menschen laute: „Sei du selbst!“, das der Trolle aber heißt: „Sei du selbst – dir genug!“ Hier drückt uns der Dichter den Schlüssel in die Hand, der in das Innere seiner Dichtung hineinführt.

Freilich, um ihn zu gebrauchen, müssen wir vorerst ein Stück zurückgehen. Herr Gynt ist, wie schon erwähnt, ein norwegischer Bauernbursch, eine symbolische Figur, aber auch eine menschliche. Als solche stammt er von leiblichen Eltern, und Ibsen, der uns einen Charakter immer auch naturwissenschaftlich durch seine Abstimmung erklärt, macht uns gewissenhaft mit beiden Elternteilen bekannt. Die Mutter lernen wir persönlich kennen; sie ist eine phantasievolle Närrin, unzufrieden mit ihrem mißratenen Sprössling und doch verliebt in ihn, mit einer Ohrfeige rasch bei der Hand, wenn sie sich über ihn ärgert, aber jederzeit bereit, ihn, wenn ihm jemand nahetritt, wie eine Löwin ihr Junges zu verteidigen. Vom Vater erfahren wir nur aus den Schilderungen der Mutter, daß er ein Verschwender, ein Lump war, und das ist auch der Sohn, dazu ein Lügner, wenn auch einer von der liebenswürdigen Sorte, ein Lügner aus Phantasie. Seine eigene Mutter beschwatzt er, gleich in der ersten Szene mit einem erdichteten Jagdabenteuer, und da sie ihm seine Verkommenheit vorhält, setzt sie der Unband lachend auf das Dach der Mühle und sucht, während sie sich schreiend abzappelt, lustig das Weite. Aber der Lügenpeter ist auch ein Don Juan, den die ehrbaren Mädchen im Dorfe meiden, ja dem sogar die liebliche Solveig, da er sie bei einer ländlichen Hochzeit zum Tanze bittet, angstvoll einen Korb gibt. Um sie dafür zu strafen, entführt er von der Hochzeit weg, unter der Rase des Bräutigams, die Braut ins Gebirge, indem er mit ihr auf den Armen die unwegsamen Schroffen emporklettert.

Am nächsten Morgen stößt er sie dann wieder von sich, ins Elend, in die Schande; denn er liebt sie gar nicht, er liebt Solveig, und sie, die engelsreine Solveig, liebt ihn, den wegen Frauentrubel aus der Gemeinde Ausgestoßenen, gleichfalls. Sie sucht ihn in seiner Hütte auf, will ihr Schicksal mit dem seinen für immer vereinigen. Allein, nun ist es dazu zu spät; Die Verführte tritt mit ihrem Kind dazwischen, und Peer Gynt bleibt nichts übrig als die Flucht – die Flucht vor sich selbst und, als äußerlicher Ausdruck dieser seiner inneren Lage, die Flucht ins Ausland. Zuvor aber hat er noch eine Szene mit der sterbenden Mutter, die dichterisch schönste des Stückes. Er lügt sie über ihren Zustand hinweg, gaukelt ihr eine Schlittenfahrt vor, wie sie ihn, als er noch ein Kind war, vor dem Einschlafen zu tun pflegte, und – kutschiert sie so unvermerkt in den Tod . . . Euthanasie nennen die Ärzte diese letzte Wohltat. Die arme Aase hat sie ganz umsonst, bloß weil sei einen so reizend verlogenen Sohn hat.

Sollte er vielleicht trotz alldem „er selbst“ sein? In dieser Szene hat es fast den Anschein, aber in dem nun folgenden vierten Akt droht der Mensch in Peer Gynt ganz zum Troll auszuarten, das heißt zu einem Erzegoisten, der, nur im materiellen Genuß, auf- und untergehend, „sich selbst genug“ ist. Peer Gynt ist in diesem Akt, der ein Menschenalter später in Afrika spielt, ein reicher Mann und großer Herr, ein „Kaiser“ von Heldes Gnaden, ein „Prophet,“ dessen im Negerhandel ruhende Anfänge längst vergessen sind, ein Lebenskünstler und Genießer, den die liebliche Anitra ausplündert und der sich von dieser Schönen willig plündern läßt, weil, wie er sagt: „ein achtbarer Schriftsteller behauptet, daß uns das Ewig-Weibliche anzieht . . .“ All das ist pure Ironie, romantische Ironie, wie dieser ganze eingeklemmte und beklemmende Akt, dessen letzte Szene, tiefsinnig bis zur Unverständlichkeit, im Irrenhause in Kairo spielt. Der nächste, in dem Peer Gynt wieder um ein paar Jährchen älter und um die Erfahrung reicher ist, daß der bloß materielle Egoismus notgedrungen zum Wahnsinn führt, endigt das abenteuerliche Schicksal Peer Gynts dort, wo es seinen Anfang nahm, in des Dichters nordischer Heimat. Es beginnt jene Auseinandersetzung mit Gott, die den faustischen Kern dieser seltsamen Dichtung ausmacht. Der heimkehrende Peer Gynt begegnet dem „Knopfgießer“, einem jener unheimlichen Gesellen von nüchternster Symbolik, die Ibsen in den Gestaltenkreis des modernen Theaters eingeführt hat. Der Knopfgießer droht dem Gealterten, ihn einzuschmelzen, wie die meisten, die weder gut noch böse gewesen sind und deshalb noch einmal in den Schmelztiegel zurück müssen; denn nur diejenigen, die im Bösen ganz „sie selbst“ gewesen sind, verfallen dem Teufel. Hier also blickt zum zweitenmal jenes rätselhafte Wort auf, und diesmal leuchtet es auch Peer Gynt besser ein. Unwillkürlich wehrt sich sein Egoismus gegen die Unterstellung, nicht ganz „er selbst“ gewesen zu sein. Um dem Knopfgießer zu entgehen, will er in Gottesnamen sich sogar dem Teufel überantworten und macht sich erbötig, den Beweis zu liefern, daß er dessen nicht ganz unwürdig ist. Aber der „Magere“, der, als Jesuit verkleidet, mit einem Schmetterlingsnetz über der Schulter, auf den Seelenfang ausgeht, weist ihm diabolisch nach, daß alle seine Sünden an dilettantischer Halbheit kranken. So droht nun Peer Gynt, vom Teufel wie von Gott verworfen, endgültig dem Knopfgießer, der Namenlosigkeit, der Spurlosigkeit zu verfallen. Denn „wie und wo war er, wie sein Gott sich verstanden“, fragt er Solveig verzweifelt. Allein die mütterliche Solveig, die all die Zeit in Treue seiner geharrt hat, ist um eine Antwort nicht verlegen. In ihrem „Glauben, Hoffen, Lieben“, erwidert sie, war er die ganze Zeit über derjenige, der er wirklich war, er selbst, und als solcher der Erlösung würdig. Mit anderen Worten: Das Ewig-Weibliche zieht schließlich, wie Faust, so auch Peer Gynt hinan – diesmal ohne alle Ironie.

Das rätselreiche, im Lesen unendlich anziehende, aber auf der Bühne in seiner Vielbildrigkeit kaum ohne Erlösung erträgliche Stück stammt aus Ibsens dramatischen Gesellenjahren, in denen der spätere Meister noch tastend nach der ihm eigentümlichen Form und Technik suchte. Halb episch gedacht, wie der ungefähr gleichzeitige „Brand“ – Peer Gynts dramatischeres Seitenstück – dazu aus dem Märchengrund der Sage hervorgewachsen, somit dem mit der nordischen Märchenwelt nicht vertrauten Ausländer zur Hälfte gar nicht, zur anderen Hälfte kaum verständlich, ermüdet die einer spannenden Verwicklung ganz entbehrende Dichtung auf der Bühne schon durch ihre unverhältnismäßige Länge. Diese Ermüdung zu bannen, müßte die erste Sorge des Regisseurs sein, und man kann nicht sagen, daß dies Herrn Direktor Bernau völlig gelungen ist, so wenig, wie es vor Jahren dem in Wien gastierenden Direktor Barnowsky gelang. Das überlebensgroße Stück ist wohl überhaupt zu groß für einen Abend, man müßte es an zwei aufeinanderfolgenden spielen. So wäre der vierte Akt, mit dem ein neues Stück oder das Stück von neuem beginnt, an den Anfang des zweiten Teiles gestellt, allenfalls erträglich, während er in der jetzigen Form ein für das Publikumsinteresse fast unüberwindliches Hindernis bedeutet, zumal der häufige, fünfmalige Szenenwechsel den Ablauf dieses gefährlichen Aktes immer wieder unliebsam verzögert. Diese weltläufigen Szenen müßten, wie der zum Weltmann gewordene Peer Gynt einmal sagt „vorüberfliegen wie ein Bonmot“, was derzeit keineswegs der Fall ist. Hiezu wäre freilich auch erforderlich, daß die bloße szenische Andeutung an die Stelle des realistisch ausgemalten und auf Massenwirkungen zugespitzten Bühnenbildes träte. So vollendet dieses im einzelnen Falle geraten ist – beispielsweise die sehr malerisch angelegte Hochzeit und das unheimliche Gemengsel moosfarbiger Trolle – so wenig tragen diese Bilder in ihrer Gesamtheit zur Vollendung des Ganzen bei, so wenig können sie auch vergessen machen, daß es dem Deutschen Volkstheater für die interessante Hauptrolle an einem eigentlich interessanten Schauspieler fehlt. Herr Everth sucht, was ihm in vieler Richtung abgeht, durch angenehmste Mittel und eine gewisse liebenswürdige Allerweltsmunterkeit zu ersetzen; er besetzt von Anfang an den guten Kerl, der Peer Gynt unter anderm ist, und täuscht so eine Zeitlang darüber hinweg, daß Peer Gynt doch auch noch mehr, noch anderes ist: die Verallgemeinerung der Gestalt, den Ecce-Homo=Zug bleibt er uns schuldig.  Die Solveig, die eine ewige Gestalt, obwohl eine kaum angedeutete Theaterfigur ist, wird von Fräulein Denera seelisch reizvoll verkörpert; ihr Widerspiel, Anitra, ein allerliebster Troll unter den Weibern, dem es weniger um die Seele als um Opale und Fußspangen zu tun ist, machte das Publikum mit Fräulein Gettke bekannt, einer zierlichen und, wie es scheint, wohlunterrichteten jungen Schauspielerin, die auch sehr hübsch tanzt. Dem besonderen Ibsen-Ton, jener scheinbaren Nüchternheit, die, wenn man sie abklopft, so unheimlich klingt, kam in der Rolle des Knopfgießers Herrn Teubler am nächsten.

Der Philosoph Otto Weininger nennt Ibsens „Peer Gynt“ eines der gewaltigsten Erlöserdramen aller Zeiten, nur mit dem „Faust“ und „Parzival“ vergleichbar. Diese überschwängliche Meinung schien das durch die übermäßige Länge des Abends ermüdete Publikum der gestrigen Aufführung nicht zu teilen, aber die hingebungsvolle Aufmerksamkeit, mit der die meisten die Strapazen eines nicht alltäglichen Theaterabends ertrugen, ließ erkennen, wie groß und wie allgemein das Bedürfnis nach Ibsen ist. Das Beste an dieser wohldurchstudierten, fleißigen, von der Griegschen Musik wie von einem goldenen Band stimmungsvoll durchwirkten „Peer-Gynt“-Aufführung ist doch, daß sie uns zu Ibsen zurückführt. Ihr schönster Erfolg wäre es, wenn sie unsere Theaterdirektoren veranlassen würde, einer auf dem Theater immerhin problematischen Dichtung die Meisterstücke Henrik Ibsens von den „Gespenstern“ bis zu „John Gabriel Borkmann“ folgen zu lassen. Daß die Schauspieler dazu fehlen, kann auf die Dauer keine Entschuldigung sein; wenn sie fehlen, so müssen sie gefunden und an Wien gebunden werden. Das Wiener Theater würde sich selbst zur Armut und literarischen Bedeutungslosigkeit verurteilen, wenn es sich einer fortwirkenden geistigen Anregung, wie sie die Beschäftigung mit der großen Ideenwelt Ibsens bedeutet, auf die Dauer entziehen wollte.

In: Neue Freie Presse, 21.3.1920, S. 2-3.

Raoul Auernheimer: Düstere Weihnachtsstücke

      Die beiden jüngsten Neuheiten des Deutschen Volkstheaters: Lenormands „Die Namenlosen“ und Schönherrs „Es“ gleichen in nichts jenen ebenso rosigen als wohlfeilen Weihnachtsengeln, wie sie ansonsten im Christbaumschmuck unserer Theater um diese Zeit aufzutauchen pflegten. Es sind zwei düstere Nachtstücke, die uns, jedes in seiner Art, einen schmerzlich tiefen Einblick in schauerliche Abgründe des Lebens eröffnen; und die, indem sie in ihrem Kolorit ziemlich weit von der hergebrachten Schablone grundlos vergnügter Weihnachtsstücke abweichen, auch in technischer Beziehung neue Wege einschlagen. Schönherrs Drama bestreitet den dramatischen Haushalt mit nur zwei Personen; Lenormand im Gegenteil löst die herkömmliche Aktgliederung nach dem Vorbild der Russen und anderer jüngerer Dramatiker in eine lockere Bilderreihe auf. Beide Dichter bleiben dabei dem Theater nichts schuldig; sie geben starkes Theater, ja sogar bewährtes Theater, dessen motivische Verzahnung und Verkettung jeden mystischen Schwindel ausschließt. Aber sie versuchen zugleich, die konventionelle dramatische Form zu durchbrechen: Lenormand, indem er sie auflöst, Schönherr, indem er sie zusammendrückt. Beide Dichter machen auf diesem Wege allerhand Erfahrungen, und der Zuschauer macht sie, höchst angeregt, mit ihnen.

      Karl Schönherr gebührt als dem heimischen Meister der Vortritt. Sein soeben aufgeführtes Drama „Es“, dessen Titel aus zwei Buchstaben und dessen Personal aus zwei Figuren besteht, ist ein Unikum dramatischer Oekonomie. Es gleicht jenen allerwinzigsten Uhren, sie in einem Schirmgriff oder in einer Krawattennadel untergebracht sind, und die trotzdem gehen. Ein Kunststück noch mehr als ein Kunstwerk, ist es zugleich ein solches und schon dadurch bedeutend, daß es ein an sich bedeutendes Problem dramatisch entfaltet.

      Das Problem läßt sich mit den Worten umschreiben: Sind tuberkulöse Eltern berechtigt, Kinder in die Welt zu setzen? „Er“ – Schönherr treibt in diesem Stücke seine an Kargheit grenzende Sparsamkeit so weit, daß er den beiden Personen, die er einführt, nicht einmal mehr Namen gibt – verneint diese Frage kategorisch. Er ist Arzt und auf Grund langjähriger Untersuchungen zu der für ihn unumstößlichen Erkenntnis gelangt, daß, wer an Tuberkulose erkrankt, immer auch entweder einen tuberkulösen Vater oder eine tuberkulöse Mutter hatte. In dreihundert Fällen seiner  Praxis hat er diesen Zusammenhang ganz schlüssig erwiesen und die logische Folgerung seiner Beobachtung in einer Schrift niedergelegt, deren rücksichtsloser Wahrheitsmut in dem Axiom gipfelt: „Wer ärztlich nicht gesund befunden, ist von der Ehe fern zu halten. Wer erbkrank schon im Mutterleib, darf nie in die Welt hinein.“ Aber während die wissenschaftliche Arbeit, in der er diese grausame These erhärtet, in Druck gelegt wird, geschieht etwas, was sein ganzes Leben aus den Angeln hebt. Der zweiunddreißigjährige Mann, der sich in der letzten Zeit von einer langsam zunehmenden Müdigkeit beunruhigt fühlt, läßt eine mikroskopische Untersuchung anstellen, aus der für ihn mit unzweideutiger Gewißheit hervorgeht, daß er selbst von Tuberkulose befallen ist. Und gleichzeitig muß er erfahren, daß seine Frau sich Mutter fühlt.

      Der erste und zweite Akt sind der langsamen, technisch meisterhaft durchgeführten Entschleierung dieser doppelten Voraussetzung gewidmet; der dritte beginnt, das Problem zu entwickeln. Mann und Frau verändern sich unter der Einwirkung des drohenden, unverhofften „Es“. Der Mann ist bereit, seiner Theorie nachzuleben; oder sollte er vielleicht „zurückkriechen“, jetzt, da es ihm „ans Nackte geht?“ Täte er das, so wäre er kein Schönherrscher Held. Die Frau, aus dem Pflegerinnenberufe hervorgegangen und mit allem Jammer der Krankenbetten vertraut, ist theoretisch der gleichen Meinung; doch eben nur theoretisch. Da die Wirklichkeit an sie herantritt, strickt die Häubchen für das zu Erwartende und läßt ihren tuberkulösen Mann weiter sein klinisches Material sichten und sammeln. Der aber wäre nicht, der er ist, wenn er, den Umständen Rechnung tragend, auch nur um Haaresbreite zurückwiche; im Gegenteil, er geht vor. Zu der wissenschaftlichen Überzeugung gesellt sich die Rechthaberei und jener Tiroler Eigensinn, den wir an den Schönherrschen Helden kennen; zum Eigensinn die Grausamkeit, die allen Gefühlseinwänden gegenüber taub und stumm bleibt. Anstatt sich mit der Frau durch Gründe und Gegengründe zu verständigen, tut er, aus Sittlichkeit, etwas, was kaum noch sittlich zu nennen ist: er narkotisiert sie und nimmt ihr, in der Narkose, das im Entstehen begriffene Kind.

      Die Frau genest nach dem Eingriff, aber noch im Halbschlaf, aus der Betäubung erwachend, errät sie, was mit ihr geschehen. Von Stund` an ist es einziges Streben, ihn, den sie nur noch mit schneidendem Hohn „Vater“ nennt, noch einmal zum Vater zu machen. „Was die Frau will, will Gott“, sagt ein französisches Sprichwort; und so gelingt ihr auch das trotz seines sittlichen Widerstrebens und obwohl die ihn verwüstende Krankheit bereits einen rettungslosen Verlauf nimmt. Im fünften Akt, nach Fertigstellung seines Werkes, beschließt er, seinem verlorenen Leben freiwillig ein Ende zu machen. In demselben ärztlichen Ordinationszimmer, in dem alle fünf Akte nacheinander spielen – ein technisches Meisterstück, durch das sich der Dichter seine Aufgabe noch erschwert – sehen wir den einsamen Doktrinär der Tuberkulosebekämpfung den selbstgemischten Gifttrank mit den unerbittlichen Worten: „Was gesund ist, soll leben!“ an die Lippen heben. Aber da er sich nachher in Krämpfen windet, hört er nebenan seine Frau jungem Mütterglück entgegensingen. Er erahnt den Zusammenhang ihres Singens mit jenem Fehltritt, zu dem sie ihn wider seine bessere Einsicht verleitet hat, und er ruft sie in seiner Todesangst herbei, um sich das Gegengift von ihr reichen zu lassen. Aber sie reicht es ihm nicht; für das Kind unter ihrem Herzen fürchtend, läßt sie lieber den geliebten Mann sterben. So steht Mord gegen Mord und das „es“ gegen das „wir“: das „es“ erweist sich als stärker. Mit dem Worte „Mutter!“ verhaucht der Arzt in den Armen seiner Frau, die im Verhauchen dem ihn niederdrückenden Bewußtsein, ein „Krankes und Schwaches“ in die Welt gesetzt zu haben, die tröstlichen Worte entgegensetzt: „Wo Krankes ist und Schwaches, da tun sich Herzen auf. Werden Hände hilfsbereit. Immer wieder krankes Leben und immer wieder neue Liebe. …“

      Man kann diesem dichterisch ersonnenen Vorgang die tragische Schlüssigkeit ebensowenig wie den hohen sittlichen Ernst absprechen; dennoch bleibt es, auf der Bühne, ein ersonnener Vorgang. Daran vermochte auch die Kunst des Schauspielers nichts zu ändern. Herr  E d t h o f e r,  der nach zwei Jahren der Trennung von seinem Publikum ernster und gleichsam auch körperlich größer geworden, zu uns zurückkehrt, gibt mit einem ergreifenden Ernst und nicht ohne Größe den in seiner Theorie verstrickten Arzt. Frau  H ö f l i c h  verficht ihr Mutterrecht durch alle fünf Akte mit überwältigender Innigkeit; sie nimmt das letzte Wort des Schauspielers vorweg und ist von dem ersten Atemzug angefangen, den sie auf der Bühne tut, mehr Mutter als Frau. Trotzdem will sich die richtige tragische Ergriffenheit nicht einstellen, und der Zuschauer hat trotz aller angewandten Kunst und technischen Meisterschaft das Gefühl, eher einem vivisektorischen Versuch als einer Tragödie beizuwohnen.  Schönherrs Arzt hat recht, aber es genügt nicht, wenn ein tragischer Held recht hat, er muß immer auch noch etwas mehr als recht haben. Uebrigens: Auch Schillers Tuberkulose war höchstwahrscheinlich ererbt. Wäre darum der Menschheit ein Dienst erwiesen, wenn es einer fortgeschrittenen ärztlichen Wissenschaft gelungen wäre, sein Inslebentreten zu verhindern? Gewiß nicht der Menschheit und – obwohl man das Glück, ein großer Dichter zu sein, vermutlich nicht überschätzen darf – wahrscheinlich nicht einmal ihm selbst.

      […]                                                                                                                                                  R. A.

In: Neue Freie Presse, 27.12.1922, S. 1-3.

Otto Koenig: Annette. Oder alles verkehrt

Theodor Tagger gehört zur Gilde derer, die mit brennender Sehnsucht das geistig Gute suchen, auf die Art, wie das zur Flagellantenzeit im Mittelalter Mode war. Er und seine Genossen, Wolfenstein, Sternheim, Kornfeld sind besessen davon, besessene Menschen zu schildern. Tagger tut dieses etwas weniger tragisch und etwas mehr konventionell als jene. Die äußerlichen Zeichen der inneren glühenden Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen sind bei Tagger ebenso konsequent ausgedrückt wie bei seinen expressionistischen Brüdern in Apell. Aber sie bleiben in einfacher Veränderung der Wortfolge (Inversion) etwas gar zu äußerlich. – Und dann, daß Tagger sein Problem niemals rein tragisch, sondern grimmig ironisch fasst.  Der Zyklus seiner Komödien, vom Untergang der Welt „1920“ umfasst bisher zwei Komödien, welche beide im innersten Kern tragisch sind: „Harry“ und „Annette“. In beiden Komödien will der Autor, dessen Losungswort mit Leonhard Frank ja doch ist: „Der Mensch ist gut!“, seine ungeheure Empörung über die im Spekulations- und Geldschwindel aufgehende Ethik des „bürgerlich gesinnten“ Weltpöbels dartun. Wenn nun auch das Volkstheater in den Kammerspielen uns einstweilen nur die zweite, leichter spielbare Komödie dieses Zyklus, nämlich „Annette“, bietet, so ist es bei dem Ruf dieses Ensembles eine selbstverständliche Forderung, daß diese Komödie, welche die in Erotik schwindelhaft arbeitende Weibsfigur der Annette vom Dienstmädchen bis zur Gönnerin und Geberin eines Künstlers „hebt“, auch mit jener grimmigen Satire, mit jenem Sarkasmus gespielt wird, welcher einen unentbehrlichen Bestandteil der Kunst bildet, die Tagger und seine Genossen verteidigen. Das war nun nicht der Fall. Das wurde in den Kammerspielen, weil die Rechnung auf eine Vorstellungsreihe vor Schiebern geht, nicht berücksichtigt. So wurde der Dichter ad absurdum geführt. Nur im letzten Akt merkte man Spuren der Absicht. Wir haben eine Posse gesehen, die allerdings verschiedene Längen des Stückes wohltätig deckt, aber die auch Taggers Werk innewohnende Tendenz „Mensch sei gut“ ins Komische verzerrt. Es handelt sich darum, dass Annette durch rein körperliche Liebe und durch eine dem gegenwärtigen Schwindelgeist angemessene couragierte Pfiffigkeit zur Siegerin wird über alle, die ebenso denken, aber auch über einen, der anders dachte und fühlte. Das ist bitter höhnisch gemeint, aber kompromißlerisch süß gebracht. Denn die Regie scheint vorgezogen zu haben, den etwas überstiegen ideologischen Künstler mit sämtlichen Personen des Werkes in eine Sphäre zu ziehen mit dem Publikum, das sie aus Kassegründen erwartet. Aus Gründen der dramatischen Technik ist es nicht möglich, daß dieser Musiker Messerschmied von vornherein als ein „Schwindler“ gezeigt wird, sondern es ist notwendig, zu zeigen, daß auch er durch seine materielle Schwäche dem Schwindelgeist erliegen muß, der augenblicklich erfolgreich ist. Ein Schein dieser ernsten Tendenz ergab sich, wie gesagt, erst im letzten Akt, der auch darum in der Erstaufführung nur spärlich beklatscht wurde. Es ist nicht angenehm, im wohlbezahlten Parkett zu sitzen und über sich eine brennende Strafpredigt ergehen zu lassen. Das mag sein. Es ist aber auch nicht fein, ein Stück zu verzerren ausschließlich zum Genuss eines Publikums, das kaum noch eines Genusses fähig und lange nicht mehr eines Genusses wert ist. Nach „Wetterstein“ haben wir die praktische Umwertung aller literarischen Werte in den Kammerspielen nun zum zweitenmal erlebt.  „Annette“ ist ein Stück, das sich in geeigneter Darstellung sehr wohl eignet, unseren Arbeitern gezeigt zu werden als ein Dokument sozialen Gewissens inmitten universaler Gewissenlosigkeit. In geeigneter Darstellung! – In der gebotenen Aufführung hat sich Traute Carlsen mit einem ungeheuren Aufwand von Raffinement in jeder der von der Rolle diktierten raffinierten Szenen verdient gemacht. Hans Ziegler wird mit einer unübertrefflichen Wahrscheinlichkeit in der Darstellung von unbesinnten Geschäftsjuden noch ein eigenes Rollenfach begründen. Karl Göß leistete sich im expressionistischen Drama, bewusst Komödie genannt, eine höchst naturalistische Darstellung. Das Anlügen des zermürbten Greises war veristisch unübertrefflich. Der Darsteller ist aber damit jenem Stil nicht näher gekommen, den der Autor für sein Werk wünschen muß. Ja, man kann ja auch jenseits des Autors spielen! Und so machten es alle anderen auch. Alle anderen, die possenhaft ganz famos spielen! Am erfolgreichsten Herr Aurel Nowotny, der die Kernrolle mit Geschick ins Gegenteil verkehrte. Der Beifall war, nachdem das Publikum mit Ausnahme der zu Kompromissen geneigten Literaten mit gutem Grunde davon überzeugt sein konnte, daß man nicht Ernst macht, imposant.

In: Arbeiter-Zeitung, 19.12.1920, S. 7.

Erhard Breitner: Die Br-Generation. Bronnen und Bruckner in Berlin.

KATALAUNISCHE SCHLACHT.

            Vier Jahre lang hat Arnolt Bronnen darauf warten müssen, daß Jessner sein für das Staatstheater erworbenes Stück auch aufführe. Wenn das einem Akkreditierten zustößt, mit welchen Fristen haben dann Außenseiter zu rechnen? Oder mißtraute Jessner der Erfolgmöglichkeit? Niemand wird je dieses Geheimnis lüften, man muß sich begnügen, bedauernd festzustellen, daß Bronnens Werk während der Lagerung Schimmel angesetzt hat – kein gutes Zeichen für die Dauerhaftigkeit dramatischer Erzeugnisse. Zum Welken verurteilt, ehe man blühen durfte, ein hartes Los!

            Der Krieg, hier Gevatter des Handlungsymbols, ist inzwischen selbst zum Symbol geworden, sein Schatten hat sich verkürzt, man empfindet ihn – wie ehedem – schon wieder fast wie eine Begriffshülse. Daran ist Bronnen schuldlos. Auch konnte er nicht wissen, daß eine Serie amerikanischer Filme das immerhin vorhanden gewesene Bedürfnis nach kriegsuntermalten Themen bis zum Überdruß decken werde.

            Dennoch ist zu sagen, auch heute noch, daß des Verfassers Grundidee, stark, rein, tragend und voll Schwungkraft ist, und ihm ein erster Akt gelingt, der sich einhämmert, der die Schauer des Gepacktwerdens, der Anteilnahme, der heftigsten Bejahung hervorruft.

            In der Hölle eines Unterstandes – Jahr 1928 – Giftgas, Granaten, Tod. Der Leutnant hat seine als Burschen verkleidete Frau bei sich. Trifft auf seinen Bruder, den Hauptmann, der ihn, um ihm das Weib abzujagen, hinausschickt zum Beobachtungsposten, von wo es keine Wiederkehr gibt. Sie fliegt dem Überlebenden an den Hals, indessen noch drei andere sie umlauern. Zweiter Akt in der Loge eines Pariser Kinos: Dieselben drei jagen der Frau nach, die, verfolgt vom Gespenst des toten, in seiner letzten Stunde betrogenen Gatten, den Hauptmann niederschießt. Dann zuletzt: am Bord eines Atlantikdampfers. Die Frau, von drei Lebenden und zwei Toten verfolgt, nimmt Gift. Materialisiert ist das Gespenst in einer Grammophonplatte, die die Stimme der Sterbenden aufzeichnete.

            Seelische und leibliche Wirrnis, gewachsen aus dem großen Morden und die Zeit nach ihr zeichnend, ist der Akkord, auf den die Geschehnisse gestimmt sind. Diese, in ihrer Atemlosigkeit und grellen Färbung, tragen geflissentliches Gepräge der Kriegstage. Aber das sollte bloß Gerüst sein, Stützbalken der Bühnenwirksamkeit. In der Aufführung jedoch treten nur die Knallszenen hervor, man sieht sich einem zügellosen Sketch gegenüber, die Idee verschwindet. Denn man hat Bronnen zwiefaches Unrecht getan: nicht nur, daß man ihn allzulange warten ließ, sein Drama wurde auch durch brutale Kürzungen verstümmelt, was übrig blieb, war eine Andeutung dessen, was er sagen wollte, und allenfalls blieb das Tempo. Wer das Buch gelesen hat, weiß, daß hier ein zweifellos wertvolles Werk, das besseres Los verdient hätte, zugrunde gerichtet worden ist. Schließlich wird der Fall durch das Malheur erschwert, daß Heinz Hilpert, der Regisseur, unter seinem sonstigen Niveau blieb: ihm gelingt straffe Zusammenfassung des ersten Aktes; Walter Frank und Lothar Müthel – die beiden Brüder – und Maria Bard vereinigen sich zu geradezu beklemmend wuchtiger Wirkung. Hernach aber flattert das Spiel auseinander, verblaßt und man wird Zeuge des Verlustes dieser Katalaunischen Schlacht.

„KRANKHEIT DER JUGEND.“

            Der Verfasser spielt ein neckisches Versteckspiel: sein Name – Ferdinand Bruckner – soll ein Pseudonym sein. Auch wird geflissentlich Dunkel darüber gebreitet, wo er lebt. In Wien als Arzt? In Reims bei einem Patienten? Jedenfalls, als er zum Schluß gerufen wurde, zeigte er sich nicht, und das ist immer ein Mittel, sich interessant zu machen, wenn auch kein neues.

            Das Werk (das in Wien, Breslau, Hamburg bereits gespielt wurde) soll etliche Jahre alt sein, aber man wäre nicht überrascht, zu erfahren, es sei um die Jahrhundertwende geschrieben. Denn diese „Krankheit der Jugend“, ihre erotische Not, besteht heute kaum mehr oder doch nur in solchen Einzelfällen, daß sie den typisierenden Titel nicht rechtfertigt. Die sportentflammte Jugend unserer Zeit ist von einer verblüffend glatt funktionierenden, fast maschinell funktionierenden Sexualität, bei der Eros eine überflüssige Figur geworden ist und längst entlassen wurde. Was sich hier in der Studentenpension von Frau Schimmelbrodt vollzieht, sind verklungene Katastrophen, und wenn auch in ihrer tragischen Abwandlung modernste wissenschaftliche Nomenklatur auftaucht, so muten sie dennoch an wie Historik.

            Gustav Hartung als Regisseur des Abends machte in seiner Renaissance-Bühne dort, wo es darauf ankam, aus dem Drama handfestes Theater, erreichte aber zugleich vollendete Abtönungen und per saldo eine ausgezeichnete Aufführung, die wiederholt Beifall auf offener Szene hervorrief, besonders bei der Darstellerin des Dienstmädchens, Fräulein Hilde Körber, die, bisher kaum bekannt, trotz ihrer kleinen Rolle eine starke Begabungsprobe ablegte. Auch Fräulein Lennartz, Frau Mewes und Erika Meingast fanden, jede für sich, überzeugende Ausdrucksmöglichkeiten. Einige Grade darunter die Herren: Adalbert v. Schlettow gibt breite Brutalität, Herr v. Rappard schlichtes Sentiment.

            Der Erfolg des Abends war wohl zum großen Teil, dank der Darstellung, überaus lebhaft.

In: Die Bühne (1928), Nr. 183, S. 10.

Moriz Scheyer: „Es.“ Drama in fünf Akten von Karl Schönherr

Zur Uraufführung im Deutschen Volkstheater.

Mit „Es“ hat Schönherrs Einsilbigkeit ihren Höhepunkt erreicht; zwei Personen: „er“ und „sie“ durch fünf Akte in einem und demselben Zimmer. Und dieses Zimmer – das Studierzimmer eines Arztes – entspricht ebenfalls dem einsilbigen Titel: in seiner kalten und unwohnlichen, nur auf das allernotwendigste konzentrierten Sachlichkeit, in seinem geflissentlichen Abbau jeder, auch der geringsten Behaglichkeit wirkt dieser Zweckraum durchaus wie ein geschlechtsloses Neutrum. Eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges.

            Und eine dramatische Kraftprobe ersten Ranges. Es gehört schon eine eiserne Hand und eine unglaubliche Oekonomie dazu, mit zwei Protagonisten und einer einzigen Dekoration, die obendrein seine ist, das Theater zu zwingen: während der drei ersten Akte wenigstens. In den beiden letzten freilich stemmt der herkulische Schönherr zuweilen die kolossalen Schwergewichte eines Pathos, das innerlich hohl klingt, und zum Schlusse zwingt das Theater seinen Bezwinger: da nimmt sich einer auf der Bühne das Leben, stirbt mit allen klinischen Symptomen einer Vergiftung, und im effektvollsten Augenblick erscheint noch die Frühlingssonne und tut ihre verklärende Schuldigkeit; nachdem drei Akte lang ein qualvolles und unversöhnliches Halbdunkel geherrscht hat. Aber die endlich hervorbrechende Sonne ist hier nicht wärmendes, leuchtendes Symbol einer Seele voll heimlichen, inneren Glanzes: sie wirkt lediglich als melodramatisches Rührungsrequisit.

            Schönherrs Kraft ist zugleich auch seine Schwäche; mit derselben Wucht, mit der diese geniale, vor nichts zurückschreckende Gewaltnatur ihre zyklopischen Blöcke formt und schleudert, mit demselben Griff packt Schönherr oft ganz zarte und feine Dinge, und dann zerbrechen sie ihm hilflos zwischen den Fingern. Vorgefühle, dunkle und traumhafte Schwingungen löst er aus ihrer wunderlichen, lautlos horchenden Bezauberung und hebt sie unbarmherzig ans nüchterne Tageslicht. Es ist nicht immer gut, das Kind beim Namen zu nennen.

            Vor uns auf der Bühne stehen und sprechen „er“ und „sie“; aber der eigentliche Held des Dramas ist das, was sich als Drittes unsichtbar zwischen die beiden stellt und hinter der Szene seine stumme Hauptrolle spielt: es, das Kind, das noch ungeborene, erst im Mutterleib keimende Kind.

            „Er“, der Vater, ist ein junger und bereits sehr angesehener Arzt; in Wort und Schrift vertritt er leidenschaftlich die Theorie von der erblichen Belastung: daß kranke Menschen nur kranke Kinder in die Welt setzen können, kaum geboren und schon umwittert vom faulen Hauche der Verwerfung, und so weit soll es unter seiner Bedingung kommen dürfen. „Was krank ist, möge lieber nicht geboren werden.“ „Sie“, die blonde und tüchtige Frau, die früher Pflegerin auf des Gatten „Abteilung“ gewesen und dort die traurigsten Erfahrungen gesammelt hat, stimmt ihm rückhaltlos zu. Denn einmal sind die Frauen namhafter Gelehrter immer von deren Ueberzeugung durchdrungen, anderseits ist nichts leichter, als einer Theorie zu huldigen, solange sie in der Praxis au die anderen beschränkt bleibt. Auch der Kommunismus zum Beispiel ist eine Lieblingsidee begüterter Herrschaften geblieben, und von den sogenannten „Edelkommunisten“ verfügt fast ausnahmslos jeder neben seiner Gesinnung noch über ein entsprechendes Guthaben in Edelvaluta.

            Kehren wir zu unserm Fall zurück. Dort werden „er“ und „sie“ eines Tages vor die praktische Probe auf ihre theoretischen Exempel gestellt: der junge Doktor konstatiert aus einer mikroskopischen Untersuchung, daß er von der Mutter her erblich mit hochgradiger Tuberkulose belastet ist, und die Frau wiederum entdeckt, daß sie Mutterfreuden entgegensieht. Daraus der Konflikt: „er“ will unter seinen Umständen an sich selbst zum Verräter werden; sein ganzes Lebenswerk, seine eigenen Tabellen und Statistiken und vor allem seine eigene Krankheit müßten wider ihn zeugen: das Kind darf nicht zur Welt kommen. „Sie“ wirft alle diese Argumente mit einer einzigen Handbewegung unter den Tisch. . . . Sie will ihr Kind, ganz einfach. Mag es krank sein, verkrüppelt, ja, mag es selbst frühzeitig sterben müssen.

            Es ist etwas unsagbar Feierliches und Erhabenes um das ewige Urmysterium der Mütter; aber hier, wo es um ein Kind geht, das noch gar nicht da ist, wo ferner ein vom Tode gezeichneter Mensch sich nur der furchtbaren Verantwortung seiner eventuellen Nachkommenschaft gegenüber voll bewußt ist, hier ist der Mütterlichkeitsfanatismus dieser Frau von skrupelloser Selbstsucht nur schwer zu unterscheiden. Man möchte ihr zurufen: „Ja, siehst du denn nicht, das kranke, der zärtlich helfenden Mutterhände bedürftige Kind, das ist hier nicht „es“, ein Unbestimmtes, Ungeborenes, sondern „er“, dein Mann mit seinem armen, mitten entzweigebrochenen Leben.“

            Durch einen chirurgischen Eingriff an der unfreiwillig narkotisierten Frau wird „es“ noch rechtzeitig von den gefährlichen Küsten des Daseins abgetrieben. Aber das Kind spielt selbst noch als Schatten unsichtbar weiter mit: es hat zwei Menschen einsam gemacht. Feindlich und lauernd stehen sich die beiden gegenüber.

            Man kann sich des Gefühls nicht erwehren: diese Frau hat ihren Mann nie geliebt. Es ist besser so, daß er zugrunde gehen muß. Und es fällt einem das qualvolle Wort Strindbergs ein: „Das Schrecklichste ist, die Wertlosigkeit höchsten Glücks zu erkennen.“

            Einmal glauben die beiden wieder einander gefunden zu haben. Aber es war nur der Trieb, der erbärmliche und verbissene Trieb, was ihre Körper in einer schwülen, selbstvergessenen Minute zusammenkuppelte, ohne Glanz und ohne Gnade. „Er“: verbrannt vom Sinnenhunger des Schwindflüchtigen, der sich noch mit letzter Gier an das entweichende Leben festsaugen möchte, „sie“: gepeinigt von dem gärenden Kräfteüberschuß des jungen, gesunden Weibes. Dann ist es zu Ende, für immer.

            Dieses Ende wäre an sich schon tragisch genug; doch greift Schönherr zum Schlusse noch zu den krassesten Mitteln. Er läßt „ihn“ Gift schlucken; und nicht genug an dem: während der Unselige auf den Tod wartet, während er sich in Krämpfen windet, singt draußen eine frische, grausam unbekümmerte Stimme ein Kinderlied. Da weiß der Sterbende plötzlich, daß „sie“ nun zum zweitenmal Mutter werden soll, zum zweitenmal eine wurmstichige, lebensunfähige Frucht im Schoße trägt. Er ruft nach ihr, nach seiner Frau, verlangt Gegengift, noch wäre es Zeit, noch könnte er gerettet werden. Aber sie steht daneben, deklamiert ihm nochmals ihren ganzen Haß ins Gesicht und – läßt ihn ruhig sterben; weil sie Angst hat, er könnte zum zweitenmal seiner Pflicht als Vater und als Arzt nachkommen.

            Heroismus? Mutterliebe? Nein; zum zweitenmal empfindet man: Rohheit, Unmenschlichkeit.

            Obzwar die Höflich als „sie“ auf der Bühne steht; obzwar die prachtvolle Schauspielerin selbst im quälenden Dunkel noch ihr eigenes Licht auszustrahlen scheint, obzwar ihre Stimme selbst das härteste Wort noch zu der Milde und der Süßigkeit einer höheren Musik emporträgt. Wie einen kostbaren Mantel wirft die Höflich ihre Seele über die Blößen der Dichtung.

            Herr Edthofer ist ihr Partner: ergreifend in Haltung, Geberde und Ton, von größter Einfachheit und Wahrheit in dem komplizierten Zerfetzungsprozeß eines immer rasender dem Tode entgegengaloppierenden Schicksals.

            Nach jedem Akt – besonders nach dem dritten – rief starker Beifall die Darsteller und den Dichter; aber erst zum Schlusse erschien Schönherr, um den lauten Dank persönlich zu empfangen.

            Schönherr hat uns da zu den Feiertagen einen mächtigen, imposanten Weihnachtsbaum beschert, mit vielen bewunderungswürdigen Ueberraschungen. Nur eines hat er vergessen: die Lichter. Die Lichter, diese kleinen, bescheidenen Dinger, und doch ist ihr frommer, demütiger Glanz Symbol für das reichste, beseligendste Geschenk, das von eines Menschen Herz zum Herz der Menschen kommen kann: die Liebe.

In: Neues Wiener Tagblatt, 27.12.1922, S. 2-3.

Hugo von Hofmannsthal: Die Idee der Festspiele und das heurige Programm

Das Programm der der Salzburger Festspiele ist von Jahr zu Jahr immer bunter geworden, und es könnte die Frage entstehen, welche künstlerische Idee eine so bunte Darbietung zusammenhält. Wenn man auf unserem Programm eine Oper, die Hauptwerke Mozarts, ein Ballett von Gluck, die „Serva padrona“, Goldoni, Mysterienspiele, den Faust, Schillers Jugenddramen sieht, so könnte man fragen: Wo ist denn da noch das geistige Band? Und hier scheinen wir in bezug auf Formulierbarkeit sehr in der Hinterhand zu sein im Vergleich zu deutschen Festspielen auf der Wartburg, in Weimar, in Köln, in Düsseldorf, in München, wo überall nach einem Gesichtspunkte gespielt wird. Wenn ein Festspiel, wie Bayreuth, sich um das Lebenswerk eines Genius gruppiert, so hat es ein natürliches Programm und eine natürliche Zuhörerschaft, man könnte sie als Gemeinde bezeichnen. Was wir anstreben, ist durchaus nicht eine Gemeinde, sondern ein Publikum im weitesten und breitesten Sinne. Daraus ergibt sich deutlich, daß wir ein vielfältiges Programm machen müssen. Von Jahr zu Jahr wurden die Darbietungen immer reicher und bunter. Wo liegen nun die Grenzen? Die Grenzen scheinen mir weitergezogen als die des Repertoirs der höheren deutschen Bühne im allgemeinen, die ja eigentlich auf das Repertoire, auf die Nationalbühne als Schöpfung unserer Klassiker zurückgeht. Demgegenüber gab es aber doch in Wien etwas Aelteres, Weiteres und „Wirklicheres“. Das Wiener Theaterspiel, jene Buntheit der Wiener theatralischen Darbietung zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts: Burg, Vorstadttheater, Raimund, Nestroy, Kärntnerthortheater, dieses Wiener Theaterleben, das das unbeschreibliche Entzücken aller nach Wien kommenden höheren Bildungsmenschen hervorrief, und das eine vollkommene, naturgewachsene Einheit war mit tragischen und komischen Elementen in allen Mozart-Werken, mit volkstümlichen, dialektischen Elementen und hohen Stilelementen. Von diesem bayerisch-österreichischen, diesem süddeutschen Theatergeiste, dem einzigen, dem es innerhalb der deutschen Kultur überhaupt gibt, haben wir uns leiten lassen, und er bildet das unsichtbare geistige Haus, innerhalb dessen wir uns bewegen. […] Auch die „Fledermaus“ wird heuer nicht fehlen. Betrachten Sie, was wir Ihnen bieten, immer als ein Lebendiges, als Hindeutung auf jenen unerschöpflichen Theaterboden Salzburgs und nehmen Sie an, daß wir dort immer in einem gewissen Salzburg-Wiener Geiste zu spielen vorhaben und daß wir glauben, innerhalb der deutschen Gesamtkultur nichts Reineres geben zu können, als wenn wir unser Eigenstes geben. Wir wollen jenes Element deutschen Theaterwesens hervorkehren, ohne welches, ich getraue mich dies zu sagen, überhaupt nichts auf die Dauer Lebendiges auf deutschen Bühnen geschaffen worden ist.

In: Neue Freie Presse, 5.6.1926, S. 9f.