Raoul Auernheimer: Mehr Ibsen (1920)
Raoul Auernheimer: Mehr Ibsen
Jene Theaterfreunde, denen die Schaubühne mehr als einen bloßen Zeitvertreib bedeutet und das große Amt des Dramatikers nebst allem anderen auch eine Art weltlicher Seelsorge ist, sehen sich, wenn sie bei Ibsen beten oder beichten wollen, in den letzten Jahren immer häufiger gezwungen, sich auf die gedruckten Schriften dieses Dichters zurückzuziehen. Ibsen wird ja kaum mehr in Deutschland gespielt, in Wien so gut wie gar nicht. Ist es wirklich, wie säumige Theaterdirektoren oder oberflächliche Theatergänger so gern zur Entschuldigung eines unentschuldbaren Mißstandes behaupten, bereits „veraltet“ (als ob das wahrhaft Gute je veralten könnte)? Ist es der Krieg, der eine Wandlung des Geschmackes von Ibsen weg herbeigeführt hat – im Gegensatz zu jenem anderen Nordländer, Strindberg, den die Kriegsjahre in der Gunst des großen Publikums so sehr befestigt haben? Oder sind es in erster Linie die darstellerischen Mittel, die zu seiner dramaturgischen Bewältigung derzeit mangeln? Diese letzte Vermutung, die das Phänomen, daß Ibsen nicht mehr gespielt wird, ohne Wunder zu erklären sucht, dürfte für Wien genügen. Ibsen, der als ein großer Dramatiker auch an den Schauspieler bedeutende Ansprüche stellt, verlangt, um zu wirken, nach einem abgestuften Ensemble, wie es zurzeit keine Wiener Bühne besitzt. Das Deutsche Volkstheater bildet selber keine Ausnahme. Daß es sich trotzdem nicht davon abhalten ließ, wenigstens ein großes Ibsen-Stück dem Spielplan neu einzuverleiben und damit eine geistige Ehrenschuld gegen den Dichter einzulösen, ist verdienstlich, wenngleich es fraglich bleibt, ob gerade der szenisch so anspruchsvolle und dramatisch unzulängliche „Peer Gynt“ das hierfür geeignetste Werk war.
„Peer Gynt“, den Ibsen ebenso wie die „Gespenster“ und manches andere seiner nordischen Prachtstücke im sonnigen Süden, in Sorrent, zu Papier brachte, ist, obwohl unter italienischem Himmel entstanden, eine äußerst dunkle Dichtung. Sie ist so dunkel, daß der unbelehrte Zuschauer sich kaum darin zurechtfände und wie in einem finsteren Walde ganz verirren müßte, wenn nicht da und dort ein Stern durch das wirre Geäst schiene oder eine phosphoreszierende Dialogstelle ihm die Richtung wiese. Eine solche blitzt etwa in jener Szene bei den „Trollen“ auf, wo Peer Gynt sich mit dem Dovre-Alten unterhält. Der Dovre-Alte, der, wie die dunkeln Ehrenmänner bei Ibsen gewöhnlich, eine philosophische Konversation liebt, fragt den Ankömmling, unter anderm, worin seiner Meinung nach der Hauptunterschied zwischen Mensch und Troll bestehe. Der liederliche und geweckte Bauernbursch, der Peer Gynt ist – er soll das norwegische Volk symbolisieren, belehren uns die Ibsen-Kommentatoren – antwortet zynisch, der Unterschied werde so beträchtlich nicht sein. Aber der Dovre-Alte erklärt ihm, er sei unendlich; denn, so sagt er – und von dieser Stelle geht das Licht aus -: Das höchste Gebot des Menschen laute: „Sei du selbst!“, das der Trolle aber heißt: „Sei du selbst – dir genug!“ Hier drückt uns der Dichter den Schlüssel in die Hand, der in das Innere seiner Dichtung hineinführt.
Freilich, um ihn zu gebrauchen, müssen wir vorerst ein Stück zurückgehen. Herr Gynt ist, wie schon erwähnt, ein norwegischer Bauernbursch, eine symbolische Figur, aber auch eine menschliche. Als solche stammt er von leiblichen Eltern, und Ibsen, der uns einen Charakter immer auch naturwissenschaftlich durch seine Abstimmung erklärt, macht uns gewissenhaft mit beiden Elternteilen bekannt. Die Mutter lernen wir persönlich kennen; sie ist eine phantasievolle Närrin, unzufrieden mit ihrem mißratenen Sprössling und doch verliebt in ihn, mit einer Ohrfeige rasch bei der Hand, wenn sie sich über ihn ärgert, aber jederzeit bereit, ihn, wenn ihm jemand nahetritt, wie eine Löwin ihr Junges zu verteidigen. Vom Vater erfahren wir nur aus den Schilderungen der Mutter, daß er ein Verschwender, ein Lump war, und das ist auch der Sohn, dazu ein Lügner, wenn auch einer von der liebenswürdigen Sorte, ein Lügner aus Phantasie. Seine eigene Mutter beschwatzt er, gleich in der ersten Szene mit einem erdichteten Jagdabenteuer, und da sie ihm seine Verkommenheit vorhält, setzt sie der Unband lachend auf das Dach der Mühle und sucht, während sie sich schreiend abzappelt, lustig das Weite. Aber der Lügenpeter ist auch ein Don Juan, den die ehrbaren Mädchen im Dorfe meiden, ja dem sogar die liebliche Solveig, da er sie bei einer ländlichen Hochzeit zum Tanze bittet, angstvoll einen Korb gibt. Um sie dafür zu strafen, entführt er von der Hochzeit weg, unter der Rase des Bräutigams, die Braut ins Gebirge, indem er mit ihr auf den Armen die unwegsamen Schroffen emporklettert.
Am nächsten Morgen stößt er sie dann wieder von sich, ins Elend, in die Schande; denn er liebt sie gar nicht, er liebt Solveig, und sie, die engelsreine Solveig, liebt ihn, den wegen Frauentrubel aus der Gemeinde Ausgestoßenen, gleichfalls. Sie sucht ihn in seiner Hütte auf, will ihr Schicksal mit dem seinen für immer vereinigen. Allein, nun ist es dazu zu spät; Die Verführte tritt mit ihrem Kind dazwischen, und Peer Gynt bleibt nichts übrig als die Flucht – die Flucht vor sich selbst und, als äußerlicher Ausdruck dieser seiner inneren Lage, die Flucht ins Ausland. Zuvor aber hat er noch eine Szene mit der sterbenden Mutter, die dichterisch schönste des Stückes. Er lügt sie über ihren Zustand hinweg, gaukelt ihr eine Schlittenfahrt vor, wie sie ihn, als er noch ein Kind war, vor dem Einschlafen zu tun pflegte, und – kutschiert sie so unvermerkt in den Tod . . . Euthanasie nennen die Ärzte diese letzte Wohltat. Die arme Aase hat sie ganz umsonst, bloß weil sei einen so reizend verlogenen Sohn hat.
Sollte er vielleicht trotz alldem „er selbst“ sein? In dieser Szene hat es fast den Anschein, aber in dem nun folgenden vierten Akt droht der Mensch in Peer Gynt ganz zum Troll auszuarten, das heißt zu einem Erzegoisten, der, nur im materiellen Genuß, auf- und untergehend, „sich selbst genug“ ist. Peer Gynt ist in diesem Akt, der ein Menschenalter später in Afrika spielt, ein reicher Mann und großer Herr, ein „Kaiser“ von Heldes Gnaden, ein „Prophet,“ dessen im Negerhandel ruhende Anfänge längst vergessen sind, ein Lebenskünstler und Genießer, den die liebliche Anitra ausplündert und der sich von dieser Schönen willig plündern läßt, weil, wie er sagt: „ein achtbarer Schriftsteller behauptet, daß uns das Ewig-Weibliche anzieht . . .“ All das ist pure Ironie, romantische Ironie, wie dieser ganze eingeklemmte und beklemmende Akt, dessen letzte Szene, tiefsinnig bis zur Unverständlichkeit, im Irrenhause in Kairo spielt. Der nächste, in dem Peer Gynt wieder um ein paar Jährchen älter und um die Erfahrung reicher ist, daß der bloß materielle Egoismus notgedrungen zum Wahnsinn führt, endigt das abenteuerliche Schicksal Peer Gynts dort, wo es seinen Anfang nahm, in des Dichters nordischer Heimat. Es beginnt jene Auseinandersetzung mit Gott, die den faustischen Kern dieser seltsamen Dichtung ausmacht. Der heimkehrende Peer Gynt begegnet dem „Knopfgießer“, einem jener unheimlichen Gesellen von nüchternster Symbolik, die Ibsen in den Gestaltenkreis des modernen Theaters eingeführt hat. Der Knopfgießer droht dem Gealterten, ihn einzuschmelzen, wie die meisten, die weder gut noch böse gewesen sind und deshalb noch einmal in den Schmelztiegel zurück müssen; denn nur diejenigen, die im Bösen ganz „sie selbst“ gewesen sind, verfallen dem Teufel. Hier also blickt zum zweitenmal jenes rätselhafte Wort auf, und diesmal leuchtet es auch Peer Gynt besser ein. Unwillkürlich wehrt sich sein Egoismus gegen die Unterstellung, nicht ganz „er selbst“ gewesen zu sein. Um dem Knopfgießer zu entgehen, will er in Gottesnamen sich sogar dem Teufel überantworten und macht sich erbötig, den Beweis zu liefern, daß er dessen nicht ganz unwürdig ist. Aber der „Magere“, der, als Jesuit verkleidet, mit einem Schmetterlingsnetz über der Schulter, auf den Seelenfang ausgeht, weist ihm diabolisch nach, daß alle seine Sünden an dilettantischer Halbheit kranken. So droht nun Peer Gynt, vom Teufel wie von Gott verworfen, endgültig dem Knopfgießer, der Namenlosigkeit, der Spurlosigkeit zu verfallen. Denn „wie und wo war er, wie sein Gott sich verstanden“, fragt er Solveig verzweifelt. Allein die mütterliche Solveig, die all die Zeit in Treue seiner geharrt hat, ist um eine Antwort nicht verlegen. In ihrem „Glauben, Hoffen, Lieben“, erwidert sie, war er die ganze Zeit über derjenige, der er wirklich war, er selbst, und als solcher der Erlösung würdig. Mit anderen Worten: Das Ewig-Weibliche zieht schließlich, wie Faust, so auch Peer Gynt hinan – diesmal ohne alle Ironie.
Das rätselreiche, im Lesen unendlich anziehende, aber auf der Bühne in seiner Vielbildrigkeit kaum ohne Erlösung erträgliche Stück stammt aus Ibsens dramatischen Gesellenjahren, in denen der spätere Meister noch tastend nach der ihm eigentümlichen Form und Technik suchte. Halb episch gedacht, wie der ungefähr gleichzeitige „Brand“ – Peer Gynts dramatischeres Seitenstück – dazu aus dem Märchengrund der Sage hervorgewachsen, somit dem mit der nordischen Märchenwelt nicht vertrauten Ausländer zur Hälfte gar nicht, zur anderen Hälfte kaum verständlich, ermüdet die einer spannenden Verwicklung ganz entbehrende Dichtung auf der Bühne schon durch ihre unverhältnismäßige Länge. Diese Ermüdung zu bannen, müßte die erste Sorge des Regisseurs sein, und man kann nicht sagen, daß dies Herrn Direktor Bernau völlig gelungen ist, so wenig, wie es vor Jahren dem in Wien gastierenden Direktor Barnowsky gelang. Das überlebensgroße Stück ist wohl überhaupt zu groß für einen Abend, man müßte es an zwei aufeinanderfolgenden spielen. So wäre der vierte Akt, mit dem ein neues Stück oder das Stück von neuem beginnt, an den Anfang des zweiten Teiles gestellt, allenfalls erträglich, während er in der jetzigen Form ein für das Publikumsinteresse fast unüberwindliches Hindernis bedeutet, zumal der häufige, fünfmalige Szenenwechsel den Ablauf dieses gefährlichen Aktes immer wieder unliebsam verzögert. Diese weltläufigen Szenen müßten, wie der zum Weltmann gewordene Peer Gynt einmal sagt „vorüberfliegen wie ein Bonmot“, was derzeit keineswegs der Fall ist. Hiezu wäre freilich auch erforderlich, daß die bloße szenische Andeutung an die Stelle des realistisch ausgemalten und auf Massenwirkungen zugespitzten Bühnenbildes träte. So vollendet dieses im einzelnen Falle geraten ist – beispielsweise die sehr malerisch angelegte Hochzeit und das unheimliche Gemengsel moosfarbiger Trolle – so wenig tragen diese Bilder in ihrer Gesamtheit zur Vollendung des Ganzen bei, so wenig können sie auch vergessen machen, daß es dem Deutschen Volkstheater für die interessante Hauptrolle an einem eigentlich interessanten Schauspieler fehlt. Herr Everth sucht, was ihm in vieler Richtung abgeht, durch angenehmste Mittel und eine gewisse liebenswürdige Allerweltsmunterkeit zu ersetzen; er besetzt von Anfang an den guten Kerl, der Peer Gynt unter anderm ist, und täuscht so eine Zeitlang darüber hinweg, daß Peer Gynt doch auch noch mehr, noch anderes ist: die Verallgemeinerung der Gestalt, den Ecce-Homo=Zug bleibt er uns schuldig. Die Solveig, die eine ewige Gestalt, obwohl eine kaum angedeutete Theaterfigur ist, wird von Fräulein Denera seelisch reizvoll verkörpert; ihr Widerspiel, Anitra, ein allerliebster Troll unter den Weibern, dem es weniger um die Seele als um Opale und Fußspangen zu tun ist, machte das Publikum mit Fräulein Gettke bekannt, einer zierlichen und, wie es scheint, wohlunterrichteten jungen Schauspielerin, die auch sehr hübsch tanzt. Dem besonderen Ibsen-Ton, jener scheinbaren Nüchternheit, die, wenn man sie abklopft, so unheimlich klingt, kam in der Rolle des Knopfgießers Herrn Teubler am nächsten.
Der Philosoph Otto Weininger nennt Ibsens „Peer Gynt“ eines der gewaltigsten Erlöserdramen aller Zeiten, nur mit dem „Faust“ und „Parzival“ vergleichbar. Diese überschwängliche Meinung schien das durch die übermäßige Länge des Abends ermüdete Publikum der gestrigen Aufführung nicht zu teilen, aber die hingebungsvolle Aufmerksamkeit, mit der die meisten die Strapazen eines nicht alltäglichen Theaterabends ertrugen, ließ erkennen, wie groß und wie allgemein das Bedürfnis nach Ibsen ist. Das Beste an dieser wohldurchstudierten, fleißigen, von der Griegschen Musik wie von einem goldenen Band stimmungsvoll durchwirkten „Peer-Gynt“-Aufführung ist doch, daß sie uns zu Ibsen zurückführt. Ihr schönster Erfolg wäre es, wenn sie unsere Theaterdirektoren veranlassen würde, einer auf dem Theater immerhin problematischen Dichtung die Meisterstücke Henrik Ibsens von den „Gespenstern“ bis zu „John Gabriel Borkmann“ folgen zu lassen. Daß die Schauspieler dazu fehlen, kann auf die Dauer keine Entschuldigung sein; wenn sie fehlen, so müssen sie gefunden und an Wien gebunden werden. Das Wiener Theater würde sich selbst zur Armut und literarischen Bedeutungslosigkeit verurteilen, wenn es sich einer fortwirkenden geistigen Anregung, wie sie die Beschäftigung mit der großen Ideenwelt Ibsens bedeutet, auf die Dauer entziehen wollte.