Ludwig Hirschfeld: Die Heimkehr der Soldaten. Wiener Bahnhofsbilder (1918)
Die erste und die letzte Szene der Tragödie spielt sich im selben Rahmen ab. Im Bahnhof hat der Krieg begeistert und hochtrabend begonnen, hier geht er jetzt konfus und armselig zu Ende: Hier ist die Eingangs- und die Ausgangspforte des vierjährigen Inferno. Es waren Bilder, gegen deren täglichen stereotypen Anblick man schließlich stumpf wurde, ein Jammer, eine Trostlosigkeit, an die man sich im Laufe dieser Jahre gewöhnt hatte, die man gedankenlos hinnahm als Selbstverständlichkeit, weil es angeblich so sein mußte. Aber jetzt, wo alles, was vorgestern noch unerbittliche Wirklichkeit war, plötzlich gespensterhafte Vergangenheit geworden ist, da werden die qualvollen Eindrücke, die bitteren Erinnerungen aufs neue lebendig. Wiener Bahnhöfe… fast für jeden von uns Überlebenden bedeuten sie eine schmerzliche Stunde. Eine Stunde, in der man einem lieben nahen Menschen das Geleite zum Bahnhof gab, einem Sohn, einem Bruder, einem Freund, der einem, feldgrau verkleidet, eingeschnürt und bepackt, schon irgendwie entrissen war. Man fuhr mit ihm durch die vom patriotischen Straßenlärm erfüllten Gassen, man stand mit ihm im Bahnhofsgewühl der Soldatenkoffer und Rucksäcke, der Landsturmmänner und Offiziere, man trug ihm seinen Mantel, kaufte ihm ein Buch oder erwies ihm sonst irgendeine hilflose Abschiedszärtlichkeit. Man suchte nach guten herzlichen letzten Worten und konnte nur unbeholfen sagen: „Schreib‘ bald.. ., viel Glück.. .“, erwog im letzten Moment noch Möglichkeiten und Aussichten und kam so bis zur Ausgangstür. Weiter durfte damals, in diesen furchtbar geordneten Zeiten, der Angehörige nicht, außer er hatte Protektion, die damals sogar zum Abschiednehmen nötig war. Dann konnte man noch eine Weile winken und dem Zug nachblicken, und für manchen der Zurückbleibenden ist der winkende Arm, das flatternde Taschentuch die letzte Erinnerung geblieben. Tagtäglich hat sich dies auf der Abfahrtsseite zugetragen: Einrücken, Abschiednehmen, verwundet, geheilt, noch einmal hinaus und noch, einmal und immer wieder… Vier Jahre lang war dies das Selbstverständliche, und heute ist’s einem unfaßbar, daß unschuldige, harmlose Menschen das vier Jahrs lang ertragen haben.
Nun ist die Tragödie bei ihrer letzten, trotz allem versöhnlichen Szene angelangt: die Heimkehr der Soldaten. Mancher hat sich diesen historischen Moment etwas anders vorgestellt: Einzug durch Triumphpforten, jubelndes Spalier, Reden, Musik, Hurra. Aber auf diese Lesebuch- und Ansichtskartenherrlichkeit läßt sich, verzichten, und alle Enttäuschung und Resignation vermag das Gefühl dieser Tage nicht zu trüben: es ist zu Ende, es gibt nur mehr eine Ankunftsseite, die Soldaten werden wieder Bürger und kehren heim. Sie fühlen sich jetzt schon als Zivilisten, diese Soldaten, die zum Teil ganz junge Burschen und zum größeren alte oder alt aussehende Landsturmmänner sind, jene braven, durchaus unmartialischen Landsturmmänner, die eigentlich den ganzen // Krieg auf ihrem geduldigen Rücken getragen haben, das Menschenmaterial, mit dem nach strategischen Plänen disponiert, das hin und her geworfen wurde. Wenn man sie jetzt auf den Bahnhöfen sieht, da erscheint einem die Angst des von wilden Gerüchten beunruhigten Hinterlandes vor den zurückflutenden Massen einigermaßen, übertrieben. Die unberechenbare Masse ist vielleicht nie so gefährlich wie der berechnende Einzelne, und auch diese Landsturmmänner haben alle nur denselben friedlichen Wunsch: heraus aus der feldgrauen Verkleidung, nach Hause gehen, zur Familie. Das ist der Grund, warum es jetzt auf den Wiener Bahnhöfen eigentlich erstaunlich ruhig zugeht. Der Rummel, der Andrang und das Durcheinander sind natürlich viel heftiger als in den Wochen der Mobilisierung, aber man spürt den friedlichen Sinn des Ganzen. Und. ebenso selbstverständlich ist es, daß die Zivilisten, überhaupt alle, die vier Jahre lang in ungestörter Sicherheit gesessen sind, jetzt aufs Reisen gänzlich verzichten müssen. Die Bahnhöfe, die Eisenbahnen, der ganze Verkehr gehört jetzt nur den heimkehrenden Soldaten. Der ganze Apparat ist ans diese eine Aufgabe eingestellt: es gibt kein Kartenabzwicken, kein Ausrufen, keine Träger, keine Schnellzüge, keine Hutkoffer und elegante Taschen, bloß schwarze Soldatenkoffer und Rucksäcke und Landsturmmänner, die nach Hause fahren wollen. Ab und zu drücken sich Hamsterer ängstlich durchs Gewühl, denen auch jetzt noch eine Kanne Milch, ein Sack Erdäpfel den Sinn des Lebens bedeuten. Und beim Ausgang steht noch immer der Herr „Finanzer“, der die jetzt immerhin schwierige Ausgabe hat, genau acht zu. geben, daß kein verzehrungssteuerpflichtiger Bissen passiert. Er denkt natürlich nicht daran, Ernst zu machen. Er muß eben da stehen, als harmloser Verzehrungssteuermomo, ein Überbleibsel, ein vergessener Posten des alten Österreich…
Auf allen Wiener Bahnhöfen sieht es jetzt ungefähr so aus, aber am stürmischesten staut sich der Strom, der großen Heimkehr auf den vier Bahnhöfen, die die letzten Ausläufer der Fronten sind: der Ost- und Südbahnhof, der Westbahnhof und der Nordbahnhof. Dort hat schon die ganze Umgebung nur die eine Farbe und den einen Sinn: Soldaten, Soldaten, dazwischen Gefangene und wieder Soldaten. Auf dem vom Novembernebel schmutzig feuchten Straßenpflaster liegen überall leere Konservenbüchsen umher, jene ständige Soldatenspur. Auch der Troß der Nachläufer und Gaffer fehlt nicht. Frauen und Kinder, kriegsmäßig verwilderte Straßenjungen und jene Burschen, deren verdächtige Hüte allein schon wie ein Delikt anmuten. Ein sonderbares Jahrmarktstreiben mit gewiß nicht ganz einwandfreien Handelsgeschäften hat sich hier entwickelt Der Verkauf von teuren, unheimlich aussehenden Leckerbissen und Zigaretten ist noch das Harmloseste. Minder harmlos sind die Geschäfte, bei denen die Soldaten die Verkäufer sind. Es wird ein schwunghafter Handel mit ärarischen Ausrüstungsgegenständen getrieben. Decken, Brotsäcke, Menageschalen finden einen reißenden Absatz, Lebensmittel werden unter dem Höchstpreis abgegeben, aber auch Bajonette und Gewehre werden an den Mann gebracht und noch häufiger an halbwüchsige Burschen und Buben. Der Chor der Zuschauer, der sich sofort teilnehmend und sachverständig um jeden solchen Handel ansammelt, macht dazu seine volkstümlichen Bemerkungen. Während die einen den Rechtsstandpunkt vertreten, daß man dies eigentlich „anzagn“ sollte, meinen die Opportunisten: „Bei die Behmen nehmen s‘ es eahm eh weg.“ Die größte Sensation erregt aber ein verhungert aussehender Soldat, der am Straßenrand eine köstliche Mahlzeit hält: Brot mit Schweineschmalz. Die Frauen aus dem Volke sagen bewundernd und ganz aufgeregt: „Jeh, dös schene weiße Schmalz… So was hab‘ i ’n ganzen Kriag net g’seh’n.“ Und alsbald ist der Soldat den verlockendsten preistreiberischen Angeboten ausgesetzt, die bei vierzig Kronen beginnen und bis zu siebzig steigen. Aber der arme Bursche denkt gar nicht daran, Geschäfte zu machen, er will nur einmal seinen Hunger stillen und derart seine Heimkehr ins Zivil feiern.
Er ißt also unbekümmert weiter, und ebenso unbekümmert bleiben die Leute stehen und sehen andächtig und bewundernd zu, wie ein Soldat Schmalzbrot ißt…
Vor dem Bahnhofseingang patrouillieren junge Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett und Sturmhaube. Aber diese Kampfmittel, die hoffentlich bald endgültig verschwunden sein werden, dienen nicht dem Kampf und der Vernichtung, sondern der Ordnung und Friedenssicherung. Es geht auch alles ganz geordnet und geregelt zu. Jeder wegfahrende Soldat muß beim Eingang seine Waffen abliefern, und man kann nicht sagen, daß ihnen der Abschied vom Schwert oder Bajonett an ihrer Linken besonders schwer würde. Mit dem heiteren Winken war es ohnehin nicht weit her. Im Vestibüle drängen sich abgenützte schwarze Soldatenkoffer, abgetragene Rucksäcke, die endlich in den dauernden Ruhestand gehen dürfen, stehen Gruppen von Offizieren aller Nationalitäten in alter Verträglichkeit und Freundschaft abschiednehmend beisammen. Italienische Kriegsgefangene gehen munter und gut gelaunt umher, wie Menschen, die von einem Ausflug heimkehren, während die gutmütig blonden Russen auch jetzt in der Freiheit eine unveränderte, geduldig bedächtige, ernste Miene bewahren. Alles gewohnte Bahnhofsleben ist ausgestorben. Die Kassen sind geschlossen, niemand kauft die neuen Romane und die illustrierten Zeitschriften, nicht einmal das frische Bier und die Schnäpse beim Büfett finden Abnehmer. Die Soldaten haben keine Zeit und Lust, sich aufzuhalten. Sie wollen nur in den nächsten Zug einsteigen und wegfahren. Manche scheinen es derart eilig zu haben, daß sie sogar alles Überflüssige zurücklassen. In einem Winkel bei der Gepäckskasse liegen aufgeschichtet allerlei herrenlose Monturstücke: Mäntel, Kappen, Zeltblätter. Brotsäcke, Wäsche, alles sehr abgetragen und
schmutzig, aber es gibt doch genug Interessenten, die darin wühlen, die suchen und gustieren. Sogar ein komplettes geladenes Maschinengewehr ist hier zurückgelassen worden, wird aber wenig begehrt. Diese weggeworfenen und zurückgelassenen Überbleibsel machen einen seltsamen Eindruck; ein Restenausverkauf des Krieges um jeden Preis…
Ein Zug nach dem andern fährt, mit Soldaten voll bepackt, aus der Halle. Ohne Hurra und Juhu, ohne pathetische Ansprachen, ohne Hymne und Gesang. Ganz still vollzieht sich die Heimkehr der Soldaten. Sie finden alle ihren Weg nach Hause, wenn auch niemand da ist, der nach höheren strategischen Absichten und Plänen über das Menschenmaterial disponiert. Das Menschenmaterial… was für ein häßliches Wort das ist und wieviel Geringschätzung für das Einzelschicksal und das Einzelleben daraus spricht. Hier, auf dem Bahnhof, empfindet man das auf einmal deutscher als je, jetzt, wo die Soldaten heimkehren, wo sich das Menschenmaterial wieder in einzelne Menschen auflöst. Nie wieder dürfen Zeiten wie diese kommen. Nie wieder darf es Menschenmaterial geben. Nur Menschen – das genügt…