Ludwig Hirschfeld: Die Heimkehr der Soldaten. Wiener Bahnhofsbilder (1918)

Die erste und die letzte Szene der Tragödie spielt sich im selben Rahmen ab. Im Bahnhof hat der Krieg begeistert und hochtrabend begonnen, hier geht er jetzt konfus und armselig zu Ende: Hier ist die Eingangs- und die Ausgangspforte des vierjährigen Inferno. Es waren Bilder, gegen deren täglichen stereotypen Anblick man schließlich stumpf wurde, ein Jammer, eine Trostlosigkeit, an die man sich im Laufe dieser Jahre gewöhnt hatte, die man gedankenlos hinnahm als Selbstverständlichkeit, weil es angeblich so sein mußte. Aber jetzt, wo alles, was vorgestern noch unerbittliche Wirk­lichkeit war, plötzlich gespensterhafte Vergangenheit ge­worden ist, da werden die qualvollen Eindrücke, die bitteren Erinnerungen aufs neue lebendig. Wiener Bahnhöfe… fast für jeden von uns Überlebenden bedeuten sie eine schmerz­liche Stunde. Eine Stunde, in der man einem lieben nahen Menschen das Geleite zum Bahnhof gab, einem Sohn, einem Bruder, einem Freund, der einem, feldgrau verkleidet, eingeschnürt und bepackt, schon irgendwie entrissen war. Man fuhr mit ihm durch die vom patriotischen Straßenlärm er­füllten Gassen, man stand mit ihm im Bahnhofsgewühl der Soldatenkoffer und Rucksäcke, der Landsturmmänner und Offiziere, man trug ihm seinen Mantel, kaufte ihm ein Buch oder erwies ihm sonst irgendeine hilflose Abschiedszärtlichkeit. Man suchte nach guten herzlichen letzten Worten und konnte nur unbeholfen sagen: „Schreib‘ bald.. ., viel Glück.. .“, erwog im letzten Moment noch Möglichkeiten und Aussichten und kam so bis zur Ausgangstür. Weiter durfte damals, in diesen furchtbar geordneten Zeiten, der Angehörige nicht, außer er hatte Protektion, die damals sogar zum Abschied­nehmen nötig war. Dann konnte man noch eine Weile winken und dem Zug nachblicken, und für manchen der Zurückbleibenden ist der winkende Arm, das flatternde Taschentuch die letzte Erinnerung geblieben. Tagtäglich hat sich dies auf der Abfahrtsseite zugetragen: Einrücken, Abschiednehmen, verwundet, geheilt, noch einmal hinaus und noch, einmal und immer wieder… Vier Jahre lang war dies das Selbstverständliche, und heute ist’s einem unfaßbar, daß unschuldige, harmlose Menschen das vier Jahrs lang ertragen haben.

Nun ist die Tragödie bei ihrer letzten, trotz allem ver­söhnlichen Szene angelangt: die Heimkehr der Soldaten. Mancher hat sich diesen historischen Moment etwas anders vorgestellt: Einzug durch Triumphpforten, jubelndes Spalier, Reden, Musik, Hurra. Aber auf diese Lesebuch- und Ansichtskartenherrlichkeit läßt sich, verzichten, und alle Enttäuschung und Resignation vermag das Gefühl dieser Tage nicht zu trüben: es ist zu Ende, es gibt nur mehr eine Ankunftsseite, die Soldaten werden wieder Bürger und kehren heim. Sie fühlen sich jetzt schon als Zivilisten, diese Soldaten, die zum Teil ganz junge Burschen und zum größeren alte oder alt aussehende Landsturmmänner sind, jene braven, durchaus unmartialischen Landsturmmänner, die eigentlich den ganzen // Krieg auf ihrem geduldigen Rücken getragen haben, das Menschenmaterial, mit dem nach strategischen Plänen disponiert, das hin und her geworfen wurde. Wenn man sie jetzt auf den Bahnhöfen sieht, da erscheint einem die Angst des von wilden Gerüchten beunruhigten Hinterlandes vor den zurückflutenden Massen einigermaßen, übertrieben. Die unberechenbare Masse ist vielleicht nie so gefährlich wie der berechnende Einzelne, und auch diese Landsturmmänner haben alle nur denselben friedlichen Wunsch: heraus aus der feldgrauen Verkleidung, nach Hause gehen, zur Familie. Das ist der Grund, warum es jetzt auf den Wiener Bahnhöfen eigentlich erstaunlich ruhig zugeht. Der Rummel, der Andrang und das Durcheinander sind natürlich viel heftiger als in den Wochen der Mobilisierung, aber man spürt den friedlichen Sinn des Ganzen. Und. ebenso selbstverständlich ist es, daß die Zivilisten, überhaupt alle, die vier Jahre lang in unge­störter Sicherheit gesessen sind, jetzt aufs Reisen gänzlich verzichten müssen. Die Bahnhöfe, die Eisenbahnen, der ganze Verkehr gehört jetzt nur den heimkehrenden Soldaten. Der ganze Apparat ist ans diese eine Aufgabe eingestellt: es gibt kein Kartenabzwicken, kein Ausrufen, keine Träger, keine Schnellzüge, keine Hutkoffer und elegante Taschen, bloß schwarze Soldatenkoffer und Rucksäcke und Landsturmmänner, die nach Hause fahren wollen. Ab und zu drücken sich Hamsterer ängstlich durchs Gewühl, denen auch jetzt noch eine Kanne Milch, ein Sack Erdäpfel den Sinn des Lebens bedeuten. Und beim Ausgang steht noch immer der Herr „Finanzer“, der die jetzt immerhin schwierige Ausgabe hat, genau acht zu. geben, daß kein verzehrungssteuerpflichtiger Bissen passiert. Er denkt natürlich nicht daran, Ernst zu machen. Er muß eben da stehen, als harmloser Verzehrungssteuermomo, ein Überbleibsel, ein vergessener Posten des alten Österreich…

Auf allen Wiener Bahnhöfen sieht es jetzt ungefähr so aus, aber am stürmischesten staut sich der Strom, der großen Heimkehr auf den vier Bahnhöfen, die die letzten Ausläufer der Fronten sind: der Ost- und Südbahnhof, der Westbahn­hof und der Nordbahnhof. Dort hat schon die ganze Um­gebung nur die eine Farbe und den einen Sinn: Soldaten, Soldaten, dazwischen Gefangene und wieder Soldaten. Auf dem vom Novembernebel schmutzig feuchten Straßenpflaster liegen überall leere Konservenbüchsen umher, jene ständige Soldatenspur. Auch der Troß der Nachläufer und Gaffer fehlt nicht. Frauen und Kinder, kriegsmäßig verwilderte Straßenjungen und jene Burschen, deren verdächtige Hüte allein schon wie ein Delikt anmuten. Ein sonderbares Jahr­marktstreiben mit gewiß nicht ganz einwandfreien Handels­geschäften hat sich hier entwickelt Der Verkauf von teuren, unheimlich aussehenden Leckerbissen und Zigaretten ist noch das Harmloseste. Minder harmlos sind die Geschäfte, bei denen die Soldaten die Verkäufer sind. Es wird ein schwunghafter Handel mit ärarischen Ausrüstungsgegenständen getrieben. Decken, Brotsäcke, Menageschalen finden einen reißenden Absatz, Lebensmittel werden unter dem Höchstpreis abgegeben, aber auch Bajonette und Gewehre werden an den Mann gebracht und noch häufiger an halbwüchsige Burschen und Buben. Der Chor der Zuschauer, der sich sofort teil­nehmend und sachverständig um jeden solchen Handel an­sammelt, macht dazu seine volkstümlichen Bemerkungen. Während die einen den Rechtsstandpunkt vertreten, daß man dies eigentlich „anzagn“ sollte, meinen die Opportunisten: „Bei die Behmen nehmen s‘ es eahm eh weg.“ Die größte Sensation erregt aber ein verhungert aussehender Soldat, der am Straßenrand eine köstliche Mahlzeit hält: Brot mit Schweineschmalz. Die Frauen aus dem Volke sagen be­wundernd und ganz aufgeregt: „Jeh, dös schene weiße Schmalz… So was hab‘ i ’n ganzen Kriag net g’seh’n.“ Und alsbald ist der Soldat den verlockendsten preistreiberischen Angeboten ausgesetzt, die bei vierzig Kronen beginnen und bis zu siebzig steigen. Aber der arme Bursche denkt gar nicht daran, Geschäfte zu machen, er will nur einmal seinen Hunger stillen und derart seine Heimkehr ins Zivil feiern.

Er ißt also unbekümmert weiter, und ebenso unbekümmert bleiben die Leute stehen und sehen andächtig und bewundernd zu, wie ein Soldat Schmalzbrot ißt…

Vor dem Bahnhofseingang patrouillieren junge Sol­daten mit aufgepflanztem Bajonett und Sturmhaube. Aber diese Kampfmittel, die hoffentlich bald endgültig verschwunden sein werden, dienen nicht dem Kampf und der Vernichtung, sondern der Ordnung und Friedenssicherung. Es geht auch alles ganz geordnet und geregelt zu. Jeder wegfahrende Soldat muß beim Eingang seine Waffen abliefern, und man kann nicht sagen, daß ihnen der Abschied vom Schwert oder Bajonett an ihrer Linken besonders schwer würde. Mit dem heiteren Winken war es ohnehin nicht weit her. Im Vestibüle drängen sich abgenützte schwarze Soldatenkoffer, abgetragene Rucksäcke, die endlich in den dauernden Ruhestand gehen dürfen, stehen Gruppen von Offizieren aller Nationalitäten in alter Verträglichkeit und Freundschaft abschiednehmend beisammen. Italienische Kriegsgefangene gehen munter und gut gelaunt umher, wie Menschen, die von einem Ausflug heimkehren, während die gutmütig blonden Russen auch jetzt in der Freiheit eine unveränderte, geduldig bedächtige, ernste Miene bewahren. Alles gewohnte Bahnhofsleben ist ausgestorben. Die Kassen sind geschlossen, niemand kauft die neuen Romane und die illustrierten Zeitschriften, nicht einmal das frische Bier und die Schnäpse beim Büfett finden Abnehmer. Die Soldaten haben keine Zeit und Lust, sich aufzuhalten. Sie wollen nur in den nächsten Zug einsteigen und wegfahren. Manche scheinen es derart eilig zu haben, daß sie sogar alles Überflüssige zurücklassen. In einem Winkel bei der Gepäckskasse liegen aufgeschichtet allerlei herrenlose Monturstücke: Mäntel, Kappen, Zelt­blätter. Brotsäcke, Wäsche, alles sehr abgetragen und

schmutzig, aber es gibt doch genug Interessenten, die darin wühlen, die suchen und gustieren. Sogar ein komplettes geladenes Maschinengewehr ist hier zurückgelassen worden, wird aber wenig begehrt. Diese weggeworfenen und zurück­gelassenen Überbleibsel machen einen seltsamen Eindruck; ein Restenausverkauf des Krieges um jeden Preis…

Ein Zug nach dem andern fährt, mit Soldaten voll bepackt, aus der Halle. Ohne Hurra und Juhu, ohne pathetische Ansprachen, ohne Hymne und Gesang. Ganz still voll­zieht sich die Heimkehr der Soldaten. Sie finden alle ihren Weg nach Hause, wenn auch niemand da ist, der nach höheren strategischen Absichten und Plänen über das Menschen­material disponiert. Das Menschenmaterial… was für ein häßliches Wort das ist und wieviel Geringschätzung für das Einzelschicksal und das Einzelleben daraus spricht. Hier, auf dem Bahnhof, empfindet man das auf einmal deutscher als je, jetzt, wo die Soldaten heimkehren, wo sich das Menschenmaterial wieder in einzelne Menschen auflöst. Nie wieder dürfen Zeiten wie diese kommen. Nie wieder darf es Menschenmaterial geben. Nur Menschen – das genügt…

In: Neue Freie Presse, 6.11.1918, S. 1-2.

N.N. [Felix Kanitz]: Arbeitslos und ausgesteuert (1934)

Genosse Felix Kanitz hielt im Bundes­rat eine Rede, in der er die Not der arbeitslosen Jugend schilderte. Er for­derte die Einstellung der Aussteuerungen für die arbeitslosen jungen Arbeiterinnen und Arbeiter. Wir bringen einen Teil der Rede des Genossen Kanitz:

Es gibt in dem Arbeitslosenversicherungs­gesetz und in der Praxis der Industriellen Bezirkskommissionen eine Reihe von schwerwiegenden Ausnahmebestimmungen, die sich gerade gegen die Jugend richten. Schon bei der ordentlichen Unterstützung ist es so. Sie kann nur dann im Normal­ausmaß von 30 Wochen gewährt werden, wenn der junge Mensch innerhalb der letzten 10 Jahre 7 Jahre voll gearbeitet hat. Ich frage, wie etwa ein Zwanzigjähriger, der ja im besten Fall mit 14 Jahren zu arbeiten beginnen kann, diese 7 Jahre aufbringen soll! Er hätte ja mit 13 Jahren zu arbeiten beginnen müssen! Aber noch schlimmer ist es bei der Notstandsaushilfe. Bis zum 18. Le­bensjahr wird sie in der Zone A, das sind die größeren Städte, durch 82 Wo­chen gewährt, dann wird der Betreffende ausgesteuert. In der Zone B durch 40 Wochen, dann wird er ausgesteuert. In der Zone C durch 20 Wochen, dann wird er ausgesteuert.

Die seelische Entwicklung eines jungen Arbeitslosen ist furchtbar. In der ersten Zeit, wenn er aus seinem Betrieb heraus­kommt, hat er noch Hoffnung, er kriegt noch ein paar Groschen Arbeitslosen­unterstützung, er besucht Kurse, lernt Sprachen, lernt Stenographieren, er arbeitet also an seiner Fortbildung. Aber allmählich kommt das Furchtbarste, die Erschlaffung. Er bringt nicht mehr die Energie auf, etwas zu tun, er sagt sich, es habe ohnehin keinen Zweck. Ich fragte die jungen Menschen bei einer Bespre­chung, wann sie aufstehen, und der eine sagte, um 12 Uhr mittags und der andere um 1 Uhr, der dritte um 11 Uhr. Nicht// aus Faulheit tun sie das, sondern weil sie keine Kohle haben, teils weil sie Nah­rung sparen wollen, teils weil sie über­haupt keine Energie mehr in sich haben; sie ist in dieser jahrelangen Arbeits­losigkeit ertötet worden!

Und dann packt diese jungen Menschen manchmal, wenn sie zu grübeln an­fangen, die furchtbarste Verzweiflung. Es kommt ihnen das furchtbare Unglück zum Bewußtsein, das furchtbare Unrecht, das ihnen geschieht, die da in eine Welt hineingeboren wurden, wo ohne ihr Ver­schulden ihr Leben, dieses einzigartige Phänomen eines Menschenlebens, zertreten wird in nichts und abermals nichts. Sie wissen nicht, wozu sie auf der Welt sind, klagen alle an und können den Schuldigen nicht fassen und gehen durch dieses Leben als gebrochene und aus­gestoßene Menschen!

In: Der jugendliche Arbeiter, Nr. 2/1934, S. 1-2.

Ludwig Hirschfeld: Herr ohne Beschäftigung (1933)

Ein Zeittypus, der zuviel Zeit hat.

Hat es draußen nicht schon wieder geläutet? … Bevor man noch durchs Guckloch sieht, weiß man, wer vor der Tür steht. Eine Gestalt, die den traurigen Refrain dieser Zeit aufsagt: Arbeitslos, ausgesteuert, bitt’ schön, gnä Herr. Manche flüstern bloß oder strecken stumm die zur Bitte verkrampften Hände vor… Eingelernte Pose, routinierte Berufsbettelei? Kann auch sein. Aber bis einer so weit kommt, daß er vor jeder Tür diese Verzweiflungspantomime aufführt, wieviel echte Verzweiflung muß er vorher zur Abhärtung durchgemacht haben… Auf der Straße ist der Elendsbetrieb noch intensiver. Hier flüstert er nicht, hier singt und musiziert er an jeder Ecke und im Stadtbahnzug heischt er die täglich kleiner werdende Kleinigkeit mit der Mundharmonika. Und wenn man spät abends nach Hause geht, dann schleicht einem im Dunkeln eine Stimme nach: „Nur fünf Groschen…!“ Und je geringer der geforderte Betrag, desto drohender wird die Stimme…

Arbeitslosigkeit… das ist die sichtbare, die demonstrativ zur Schau getragene Not primitiver Menschen. Es gibt aber auch eine andere, eine unsichtbare und diskrete Not im guterhaltenen Rock. Keine Arbeitslosen im Sinn des Gesetzes, nur Beschäftigungslose, die noch etwas haben und dennoch arme Menschen sind. Denn wir arm einer heute ist, das hängt ja nur davon ab, was er gestern war und hatte. Was war er gestern? Fabrikant, Kaufmann, Bureauchef, Ingenieur. Und heut ist er ein Herr ohne Beschäftigung. Noch immer, so lange es geht, ein Herr, und das ist eben die Verschärfung. Ein neuer, täglich häufiger werdender Typus dieser im Unproduktiven so produktiven Zeit. Der Herr ohne Beschäftigung ist gewöhnlich ein Mann zwischen vierzig und fünfzig. Also jenes Alter, das man in besseren Zeiten die // besten Jahre genannt hat. Jetzt sind es die miserabelsten Jahre, rüstig, arbeitsfähig, in seinem Beruf erfahren und tüchtig und plötzlich von einem Tag auf dem anderen ausgeschaltet, kaltgestellt. Ein Müßiggänger wider Willen, ein Ruhestand ohne Ruhe. Denn wenn man auch einige hundert Schilling Pension, Rente oder Zinsen hat, daß es auf Wohnen, Essen, auf Kaffeehaus und Zigaretten reicht – ist das ein Leben, wenn man gerade zu leben hat? Die Illusion, die man anfangs hatte, ist längst zerstört: die berühmte Nebenbeschäftigung, die gelegentliche Arbeit. Unmöglich, als Mann in den besten Jahren irgend etwas zu finden, auch nur etwas gering Bezahltes, wo die Jugend keinen Platz findet und graue Schläfen die schlechteste Empfehlung sind. Jeder von uns kennt diesen Herrn ohne Beschäftigung in so und so vielen Exemplaren. Man begegnet ihm auf der Straße, im Stadtpark, im Prater und er wird uns nie etwas vorjammern, weil er sich ungern in sein Schicksal hineinblicken läßt. Und es wäre doch ganz interessant, sich diesen Zeittypus, in den jeder von uns sich vielleicht schon morgen verwandeln kann, einmal näher anzusehen. Wie er seinen leeren Tag ausfüllt, womit er sich in seiner ziellosen Beschäftigungslosigkeit beschäftigt. Suchen wir einige leichtere und schwerere Fälle auf und geben wir ihnen, da sie sonst nichts annehmen, eine kleine Gabe von Verständnis und Mitgefühl. Wie meinen Sie: Warum sich die Sorgen der anderen machen? Noch immer besser, als die eigenen…

Der muntere Großpapa.

            Er ist noch lange nicht im richtigen Großvateralter. In diese Würde ist er vorzeitig hineingeraten, weil er so jung geheiratet hat: mit vierundzwanzig. Und die erste Tochter war auch schon mit neunzehn Mama, so hatte er Ende Vierzig bereits eine kleine Enkelkollektion. Aber wenn man fortwährend im Beruf steckt, fortwährend geschäftliche Sorgen hat, das erhält irgendwie jung und elastisch. Aus jeder Krise, aus jedem Ausgleich schien der Herr Präsident der Familien A.G. um soviel Prozent fescher hervorzugehen, als die angebotene Quote betrug. Bis plötzlich nichts mehr auszugleichen war, weil es nur noch Passiven gab. Schluß mit dem ganzen Werkel, Liquidation durch eine Bank gegen eine bescheidene Abfertigung. Kein fescher Präsident mehr, der mit seinen gemütlichen Scherzen über die ungemütlichen Aufsichtsratssitzungen hinwegkam, sondern ein Privatier. Genauer gesagt: ein Großpapa im Ausgeding. Denn natürlich muß er jetzt bei der verheirateten Tochter wohnen, was schon in wirtschaftlicher Hinsicht das beste für ihn ist. Aber wie wird es das aushalten, was wird der unruhige alte Herr den ganzen Tag anfangen? Ein Mensch, dem man plötzlich die jahrzehntelange Geschäftigkeit und Tüchtigkeit weggenommen hat. Er hat wenigstens immer so getan, ununterbrochen präsidiert, konferiert, disponiert. Immer war er Mittelpunkt und jetzt soll er sozusagen bescheiden im Winkerl stehen – das muß doch einen gesunden Menschen vor der Zeit alt und krank machen. Diese Familienbesorgtheit hat der Großpapa rasch und gründlich widerlegt. Er nimmt sich seinen finanziellen und kommerziellen Sturz nicht übermäßig zu Herzen. Man kann nicht einmal behaupten, daß ihm die gewohnte Arbeit fehlt. Seitdem er unterbeschäftigt ist, hat er nämlich enorm viel zu tun, bedeutend mehr als früher. Frühstück, Zeitungslektüre, Rasieren und Bad erfordern allein schon zwei Stunden. Auch Gutangezogensein ist ein Ding, das Weile braucht. Die Schuhe dürfen je nach der Tagestemperatur nicht zu leicht, nicht zu schwer sein, die Krawatte muß zur Bewölkung passen. Spaziergang mit dem Hund, Bekannte treffen, ihnen wertvolle Ratschläge geben, damit vergehen auch wieder zwei Stunden. Höchste Mittagszeit, zu der er nicht nur den kräftigen Hunger des Unbeschäftigten mitbringt, sondern auch eine Fülle von Lebensweisheit. Beim Tischgespräch, da kann er wieder nach Herzenslust präsidieren und disponieren, indem er die schwebenden Angelegenheiten mit folgenden Sätzen löst: „In einem solchen Fall hätte ich… Ich würde ganz einfach… Du kannst dem Kerl von mir sagen…“ Worauf er sich befriedigt zurückzieht, zum Leihbibliotheksschlaf mit Radionebengeräusch. Ab sechs Uhr ist er hauptsächlich guter Vater und Großvater, indem er die Tochter beim Wirtschaftsbuch und die Enkel bei den Aufgaben stört. Manchmal versucht er in Arithmetik zu helfen, aber es ergeht ihm genau so wie bei seinen Bilanzen: ein Rechenfehler nach dem anderen. Allen Versuchen, ihn durch Aufträge oder Wege irgendwie zu beschäftigen, weiß er sich durch den Hinweis auf einen plötzlichen Rheumatismus oder Schnupfen geschickt zu entziehen. Auch seine Vertretung der Eltern beim Sprechtag im Gymnasium hat sich nicht bewährt, da er die Professoren durch sein eigenes Beispiel davon überzeugen wollte, daß Lernen ganz überflüssig sei, um es im Leben zu etwas zu bringen. Seine Enkel haben ihn auch beschworen: „Großpapa, wenn du noch einmal nachfragen gehst, fallen wir bestimmt durch…“ So besteht die einzige Hoffnung der Familie darin, daß vielleicht doch wieder einmal eine geschäftliche Konjunktur kommt. Dann wollen sie dem Großpapa sofort eine A.G. einrichten…

                                    Der Langschläfer.

            Das ist schon ein ernsterer Fall von Beschäftigungslosigkeit. Weil es der Fall eines älteren Junggesellen ist. Wenn man Frau und Kinder hat, da ist man nie völlig im Ruhestand, denn Familienleben nimmt den Menschen immer reichlich in Anspruch. Aber so ein Junggeselle, der die beste Nachtmahljahre hinter sich hat, mit kleinen Liebschaften verzettelt, dem bleibt schließlich nur eine große Liebe: der Beruf, die Stellung. Ob Direktor, Abteilungsvorstand, Oberingenieur, das ist egal. Die Hauptsache, daß man von neun Uhr früh bis sechs Uhr abend wer ist, daß man an einem Schreibtisch amtiert, daß im Vorzimmer die Parteien, die Angestellten warten, daß man das Schicksal von soundsovielen Menschen dirigiert, daß man das Mittagessen gehetzt hinunterschlingt, keine Zeit hat, zum Schneider zu gehen. Telephonieren, diktieren, unterschreiben, tausend Sachen im Kopf haben, bis man dieser unmöglichen Existenz verzweifelt flucht, weil ja ein bißchen Verzweiflung zu jeder echten großen Liebe gehört. Und auf einmal ist alles aus. Von heute auf morgen Pensionierung, Abbau, ganz kaltblütig und selbstverständlich. Wo er sich fünfundzwanzig Jahre lang geschunden und aufgeopfert hat, wie für eine eigene Sache, wo er tatsächlich im Dienst ergraut ist? Oh, das ist heute kein Milderungsgrund. Im Gegenteil: das ist ein Verschulden… Und dann umgibt den Abgebauten plötzlich die große Stille, die völlige Isoliertheit. Von früh bis abends nichts als Privatleben, das man nie gekannt, nie geübt hat. Der Vormittag vergeht ja noch irgendwie, aber diese entsetzliche Endlosigkeit der Nachmittage. Der Herr Abteilungsvorstand war nie ein Kaffeehausbesucher, er begreift das Vergnügen nicht, drei, vier Stunden mit Karten und Witzen hinzubringen. Er geht also fleißig spazieren, weil das sehr gesund ist, bis er sich davon krank fühlt, bis ihm die schönsten Plätze verhaßt sind. Wochenlang hat er es mit dem Lesen versucht, jeden Tag zwei, drei Bücher, wahllos durcheinander, Literatur und Kriminalschund, bis er es nicht mehr unterscheiden konnte, bis ihm alle gedruckte Weisheit sinnlos erschien. Und dann gab er den Kampf auf und flüchtete sich in den Schlaf. Bis zehn Uhr vormittags, nachmittags wieder und abends um neun. Er ist in diesem Training schon so weit, daß er fast zu jeder Stunde einschlafen kann. Anfangs hat er oft vom Bureau geträumt, vom wirbelnden Betrieb des Telephonierens und Diktierens. Jetzt träumt er gar nichts mehr. Er schläft in die Nacht und in den Tag hinein, mit einem völlig abgebauten Seelenleben. Er ist erst fünfundvierzig, vollkommen gesund, und bei seinem Pech kann er auch achtzig werden…

            Hat’s nicht schon wieder draußen geläutet?… Das ist ja zum Verzweifeln. Kaum daß man sich in unangenehme Dinge vertiefen will, wird man dabei gestört. Man kann doch nicht fortwährend aufmachen, fortwährend in die Tasche greifen, bis nichts mehr drin ist. Gewiß, lauter arme, bedauernswerte Menschen. Aber sie können wenigstens laut fordern, singen, musizieren. Doch wer hört die, die nur leise ächzen, flüstern oder sich schweigend verkriechen? Und sie werden immer zahlreicher. Täglich schwemmt der unerbittliche Geschäftsstrom seine Opfer ans Ufer und aufs völlig Trockene. Dem einen ist’s so un dem anderen so passiert, aber alle haben das gemeinsame Schicksal: daß sie unter dem ärgsten Überfluß leiden, den es geben kann: zuviel Zeit. Und noch dazu von einer Zeit, von der wir alle schon genug haben.

In: Neue Freie Presse, 30.4.1933, S. 9-10.

N.N.: Bilder vom Wiener Elend (1919)

             Das Elend der Erwerbslosen ist so grenzenlos, daß sich von seiner Tragik niemand einen Begriff machen kann. Der „Verein soziale Hilfsgemeinschaft“, dem Frau Anitta Müller vorsteht, sucht die zur Bekämpfung des Elends geschaffenen Institutionen weiter auszubauen und ruft die ganze Bevölkerung zur organisierten Mithilfe auf. Im Zuge dieser sozialen Aktion veranstaltete der Verein gestern abends im mittleren Konzerthaussaal einen Lichtbildervortrag. Wie Schriftsteller Bruno Frei, der als erster am Vortragspult stand, betonte, nütze alle private Wohltätigkeit angesichts der maßlosen Dimensionen des Elends nichts; der Abend sei vor allem der Aufklärung und Organisation der Besitzenden gegen das Elend gewidmet, es könne künftig nicht bei einem Almosen bleiben, der Schenkende müsse für den Sehnsuchtsschrei nach dem Leben, der ihm aus den Elendsquartieren entgegenschallt, ein Stück seines Lebens, ein Stück seiner Freude geben. Frau Anitta Müller, die ihm im Vortrag folgte, sprach auf die gleiche entschlossene Weise. Wenn schon das gesprochene Wort eine Anklage gegen das bisherige soziale System, ein gequälter Aufschrei aus einem tiefen Verstehen war, so zwang die große Reihe von Lichtbildern, die im wahrsten Sinn des Wortes Schattenbilder menschlichen Schicksals sind, zu einem geradezu grauenhaften Erkennen der unausprechlich traurigen Lage, in der sich viele Tausende der in unserer nächsten Nähe wohnenden Mitmenschen befinden. Die Wiener Spaziergänge, die man da hauptsächlich durch Favoriten, Lichtental und den zweiten Bezirk machte, enthüllten nicht etwa Armut, nein, ein schwärendes Dahinsiechen, ein körperliches und seelisches Verkrüppeln, einen Herd von Volksseuchen und unerhörtesten Verwahrlosungen. Ihrer Elf in eine Küche gesperrt, mit Tuberkulose, Rachitis, Rheumatismus und nagendem Hunger, lichtlos, freudelos, hoffnungslos. Kinder mit rachitisch aufgeweichten Beinen rutschen jahrelang in feuchten, schimmligen, unmöblierten Kellerlöchern herum, haben vielleicht nie die Sonne gesehen. Den Erwachsenen geht es nicht besser. Eine alte Pfründnerin, tuberkulos, liegt seit Jahren im feuchten, schmutzstarrenden Bett, sie ist von der Welt völlig abgeschlossen, und die Handreichungen der Menschen, die sich ihr nahen, bewirken nur soviel, daß sie nicht plötzlich auslischt, sondern in einer entsetzenerregenden Einsamkeit langsam dahinstirbt. Ist es leichter, das Elend zu ertragen, wenn man es gesellig erträgt? Da liegen in den Massenquartieren, in denen ein Bett für eine Nacht heute mit K. 1.- bis 1.50 bezahlt werden muß, ihrer sechzig beisammen. Es gibt Leute, die schon seit Jahrzehnten Stammgäste in den Massenquartieren sind; absoluter Mangel an Licht, Luft und Reinlichkeit zehren schwer am Leben. Es greift aber nichts so schwer ans Herz als die schier unendliche Bilderserie vom Kinderelend in Wein, die, wie Anitta Müller erzählt, nur ein ganz geringes Bruchstück der Wirklichkeit ist. In der Tat, da ist mit halben Maßregeln nichts ausgerichtet. Es muß in vollem Umfang geholfen werden. Und es ist nicht die geringste Zeit dazu, zu zaudern. Sonst haben wir keine Gegenwart und keine Zukunft.

In: Der neue Tag, 23.5.1919, S. 14.

Else Feldmann: Umherziehende Kinder. (1919)

Ein grauenhaftes Schauspiel kann man jeden Nachmittag in der Kärntnerstraße und am Ring sehen. Eine Völkerwanderung von Kindern zieht aus Favoriten, Meidling, Ottakring, Hernals, der Brigittenau und andern Gegenden in die Innere Stadt ein.

Die Kinder verdienen durch Bettel und Prostitution vierzig bis fünfzig Kronen täglich: aber sie kaufen sich keine Stiefel oder Kleider, sie betteln sich kleine Vermögen zusammen;

aber sie werden nach wie vor zerrissen und barfuß herumlaufen; die Lumpen sind ein notwendiges Requisit ihres Geschäftes, und sie werden sich davor hüten, sie abzulegen.

Jetzt erst kommt alles angeschwommen, was die viereinhalb Jahre Morden aus Völkern gemacht haben. 

Wie eine Karikatur, wie ein Verhängnis, gegen das es nichts gibt, sind die Kinderhorden anzusehen, die in keine Schule gehen, sondern mit ihren Geschwistern und Kameraden ausziehen, Geld zu suchen. Die Mütter – Väter gibt es fast keine – haben die Jahre hindurch alle Demütigungen und Erniedrigungen ertragen. Sie mußten sich auf der Straße anstellen, um die paar Kronen für den Kopf ihrer Männer; mit diesem Gelde mußten sie sich weiter die Nacht hindurch auf dem kalten Pflaster, um das bißchen elender Nahrung herumwälzen; der kleine Greisler konnte sie nach Belieben hinauswerfen; der Kohlenhändler konnte ihnen nach Laune Kohle verkaufen oder auch nicht. Die Mütter sahen langsam ihre Kinder in langen, elenden und verschärften Leiden zugrunde gehen. Zuerst kam die Vernachlässigung des Körpers. Ich habe Arbeiterfrauen gesehen, die ihre Kinder jede Woche zweimal badeten. Sie hätten sich lieber die Finger weggehackt, ehe sie sich von der Nachbarin hätten nachsagen lassen, ihre Kinder wären schmutzig. Dieselben Mütter mußten es ertragen, daß in dem kalten Winter, wo man keine Kohlen, kein Licht, keine Seife hatte, die Kinder infolge Unreinlichkeit massenhaft an Hautausschlägen (Scabies) erkrankten.

Durchschnittlich jedes zweite Kind hatte Scabies, und da diese Krankheit sehr leicht übertragbar ist, auch auf Erwachsene, kam es zu einer Epidemie, von der nur deshalb nicht viel in der Öffentlichkeit verlautete, weil sie ja nicht lebensgefährlich, bloß eine Pein mehr für die Armen war.

Dann war noch da das Hungern und mit ihm der moralische und sittliche Verfall der Kinder; das Stehlen, Eingesperrtsein der Jugendlichen, die Prostitution der jugendlichen Mädchen aus Not. In den Syphilisspitälern gibt es in einem Jahr tausende junge Mädchen und Burschen, darunter erschreckend viele unter vierzehn Jahren. Das Asylspital hat einen ständigen Belag von über vierhundert jugendlichen Prostituierten. Man bedenke, was das allein für die Fortpflanzung heißt. Es sei nicht zu verkennen, daß, aus der Not heraus, einige ganz gute Einrichtungen geschaffen wurden; besonders drei wären lobend hervorzuheben: die Jugendgerichtshilfe, die Tagesheimstätten und die Waldschule. Aber ist dies mehr, als ein Tropfen auf einem heißen Stein? Es ist und bleibt bei allem guten und besten Willen ein armseliges, bejammernswertes Dilettantentum der Kinder- und Jugendfürsorge.

Wer hat daran ein Interesse, daß die Kinder nicht verkommen, sondern tüchtige und brauchbare Menschen werden? Vor allem doch der Staat. Wie darf also der Staat die Kinderfürsorge zum größten Teil noch immer der privaten Wohltätigkeit überlassen? Bürgerliche Frauen, freiwillige Kräfte, und wenn sie das Muster von Frauen wären, taugen im allgemeinen nicht dazu. Nur geschulte, herangebildete Pädagogen, Menschen mit Herz und Verstand, staatlich angestellte, gut bezahlte – damit sie den Idealismus nicht verlieren – mit Pflichtgefühl und sozialer Einsicht, die besten Menschen, die wir haben, müssen herangezogen werden zur Kinder- und Jugendfürsorge, und niemals Frauen, die einem einsamen Tag, leeren Stunden entrinnen möchten! //

Denn dabei kann nur wieder etwas Halbes herauskommen, und die Halbheiten sind es, die uns zugrunde gerichtet und auf den Bettelstab gebracht haben; wir müssen für immer mit ihnen aufräumen.

Es ist vollkommen sinn- und Zwecklos, wenn unsere Politiker jedes Selbstbewußtsein verlieren und wie trostlose Melancholiker, wie Hysterische sich zusammensetzen und über unseren Untergang jammern.

In den Tagen des August 1914 hörte man von allen Leuten: wir müssen den Krieg haben; alle Klassen, reich und arm, jung und alt, Mann und Frau schrien sich gegenseitig zu: wir müssen Krieg haben! Hurra, der Krieg! Literaten, Künstler, Poeten, Philosophen, die etwas auf sich hielten, sie alle schrien: Hurra den Krieg! Die Sozialdemokratie schrie: Hurra, in den Krieg! — Vergessen waren die treuen Gelöbnisse, vergessen waren die Brüder in Frankreich, in England, in Rußland, die arbeitenden Menschen aller Länder, die Brüder eines Gedankens, einer Seele.

Und so schreien sie heute: Wir sind ein unglückliches Land, wir sind bankrott, wir müssen uns beugen, wir müssen uns am allertiefsten erniedrigen, wir müssen den letzten Rest Ehrgefühl preisgeben.

Nein, es ist nicht wahr; wir müssen uns nicht beugen und erniedrigen, oder wenn wir es müssen, dann können wir es sozusagen praktisch, aber ideell müssen wir es nicht. Auf unseren Idealismus, auf unser Menschensein dürfen wir nicht verzichten. Gewiß, wir müssen essen, und wir müssen uns dieses Essen durch Demütigung verdienen. Aber nicht allein vom Essen können wir leben, wir brauchen noch andere Güter, wir brauchen die Idee, wir brauchen das Menschentum, wir brauchen Begabung, Tüchtigkeit, den Keim des Guten und Wahren im Volke.

Wenn unsere Regierung aber zusieht oder sich blind stellt, wie die Kinder, durch die Verhältnisse böse und schlecht geworden, durch Not und Entbehrung bestialisch und verbrecherisch, zerrissen und zerlumpt durch vornehme Straßen ziehen, um Geld zu suchen, so kann sich diese Regierung die Folgen selbst zuschreiben, wenn in wenigen Jahren ein Geschlecht von Verbrechern herangewachsen sein wird. Wenn sie in einigen Jahren – statt jetzt die Kinder zu sammeln und Baracken und Waldschulen zu errichten, wo nur ein freies Plätzchen ist – die Zuchthäuser, die Korrektionsanstalten, die Spitäler werden hinstellen müssen.

Die Mütter, die jede Liebe, jede Scham, jeden Stolz in diesen Jahren des Leidens und Duldens verloren haben, schicken heute selbst ihre Kinder auf die Straße, damit sie betteln; der reiche Erlös lockt auch die anderen an; es werden immer mehr und mehr, die ausziehen, einer Heuschreckenplage vergleichbar. Schaue einem solchen Kind, das dich anbettelt, in das Gesicht, und du wirst erschrecken, wenn du zu sehen verstehst. Sie fühlen sich wie erlöst. Sie sind unbändig frei, glücklich, seit sie auf die Straße gehen und Geld bekommen, ohne zu arbeiten – aber langsam fault alles, was bisher noch rein und kindlich in ihnen war; langsam zerfrißt wie von einer Säure alles, was noch menschlich in ihnen war. Ärger als der Krieg, als die Verstümmelten, Verkrüppelten, Blinden sind die bettelnden Kinder der Straße; sie sind wie freigelassene Wahnsinnige mit ihren entsetzlichen Trieben, die in den Kellerwohnungen bei den Ratten Keime in sich ausgenommen haben, die sich vor dem Grand Hotel entwickeln und in kurzer Zeit zu einem erschreckenden Bild von Riesengröße gestaltet haben werden.

Die Regierung muß ein Mittel finden, Kinder vom Hausieren mit Blumen und anderen Dingen, Betteln und Zeitungskolportage zu entfernen. Eine Regierung muß die Macht und Kraft haben, etwas so Entsetzliches, wie es die umherziehenden Kinder sind, sofort abzustellen, will sie nicht warten, bis diese ihr über den Kopf wachsen.

In: Neues Wiener Journal, 25.5.1919, S. 8-9.

Else Feldmann: Kulturarbeit (1919)

             Wem sind noch die Augen blind? Wer glaubt noch, daß wir das für Kultur anzusehen haben, was uns vor dem Sommer 1914 Kultur bedeutete? Was war uns Kultur?

             Ein herrlich strahlender Maimorgen. In der Reitallee der Ringstraße sprengten elegante Reiter daher. Das war Kultur. Oder der Blumenkorso im Prater. „Ah, die Metternich!“ riefen ausgemergelte Proletarierweiber – schon damals ausgemergelt, wo ein Kilogramm Mehl noch dreißig Heller kostete!  – und hoben ihre rachitischen Kinder in die Höhe; und während die armen Kleinen mit den dünnen Ärmchen nach den Blumen griffen, wurde die Mutter vom Kopf bis zu den Füßen mit Kot bespritzt – allein, was tat’s, sie ging nach Hause, nach Ottakring, in dem frohen Bewußtsein, die Metternich in ihrer gelben Karosse gesehen zu haben. Oh, schmachvolle Wachträume der Armen! Oh, Hunger und Notdelirien der Elenden!

             Was nannte man alles Kultur?

Lueger hat den Wald- und Wiesengürtel um Wien gelegt, hat blühende Gärten um die Stadt gebaut. Aber wie hat er gleichzeitig das Herz dieser Stadt mit widerlichem Parteigezank vergiftet und verpestet.

Wie schön sind unsere Bauten. Zum Beispiel das spielerische Antikwerk des Reichsratsgebäudes, die wundervollen Mosaiken daran im Sonnenglanz eines Frühherbstabends. Und wie häßlich war das, was jahrzehntelang darin geschah. War das überhaupt je Arbeit erwachsener, ernster Menschen, nicht vielmehr wichtigtuerischem Geschrei kleiner Schullausbuben vergleichbar?

Was ist geschehen? Was haben wir außer Gassenhauern und Operetten geleistet? Die prächtige Renaissance des Burgtheaters. Für wen stand es da? Für die frisierten und manikürten Damen im Goldkäferschuh und in großer Gala, für glattrasierte Herren im Lackschuh und Frack, duftend nach Kölnerwasser. Das war Kultur! (Die Jugend aus besseren Häusern stellte sich an.) Wo aber war das Volk geblieben? Das Volk? Dafür waren die Branntweinschenken. Das Äquivalent für all die Nichtanteilnahme des Volkes an den Festen des Geistes, an den Freuden und Errungenschaften der Kultur war, daß die hohe Regierung den schrankenlosen Ausschank von Alkohol gestattete. Und er war billig. Um fünf, sechs Kreuzer konnte man sich einen ordentlichen Rausch antrinken, nach Hause gehen, in die freudlose Lichthofwohnung, um die Kinder zu zeugen, die dann mit Wasserköpfen, Rückgratverkrümmungen, Nerven- und Herzfehlern zur Welt kamen.

Unsere Herrscher, Staatsmänner, Parlamentarier und Politiker hatten im „Kirchenstaat“ ein Leben der äußeren Kultur zu leben mit gut gehender Beamten- und Polizeiwirtschaft; sie hatten dafür Sorge zu tragen, daß man nicht aus dem Gleichgewicht kam.

In: Neues Wiener Journal, 5.1.1919, S. 6.

Else Feldmann: Hände

Es ist Sonntag nachmittag.

Auf der Planke vor dem Gemeindepark sitzt Berta, die Heimarbeiterin.

Sie näht Pelzstreifen für eine Pelzfabrik. Sie hat Halbschuhe an; es ist Herbst und sie friert. Über ihre dunkelgraue Jacke hat sie ein Wolltuch mit Fransen sie hüllt sich ein, sitzt, schaut und wartet; manchmal hustet sie ein wenig.

Sie erwartet Franz, den Kellner aus dem Café Splendid. Pünktlich war sie da, sogar viele Minuten vorher.

Er läßt sich Zeit.

Da kann sie nachdenken.

Sie irrt sich nicht, er wird von einem Mal zum andern kälter.

Beim letzten Zusammensein hatte er ihr zum Abschied nicht einmal die Hand gereicht. Und zerstreut war er. Und als sie ihn, wie immer, ein Stück durch den Park, durch den abends niemand ging, begleitet hatte und sie sich fest an seine Brust gedrückt hatte, lange und fest, da hatte sie nicht mehr sein Herz heftiger schlagen, sie hatte auch nicht mehr seinen umfangenden Arm gefühlt. Er hatte auch nichts gesagt, kein Wort.

Und heute war es wie immer; sie erwartete ihn am gewohnten Platz. Wenn er durch den Park kam, saß sie hier aus der Planke, und dann gingen sie zusammen nach Hause, in ihr Zimmer, und blieben bis spät abends, bis Franz wieder seinen Dienst antreten mußte.

Sie wollte schon ein paarmal offen mit ihm reden, aber sie fand nicht den Mut. Sie glaubte, daß er eine andere hatte.

Das merkte man den Männern an; sie sind dann, während sie bei der einen sind, mit ihren Gedanken ganz woanders.

Sie wußte beinahe auch, wer die andere, sei. Er sprach manchesmal stockenden Atems von ihr; die Kassierin, eine blendende, blonde Person, die viele Ringe an ihren weißen, gepflegten Händen hatte.

Und sie wollte ihm doch längst sagen— sie, Berta, die Heimarbeiterin, die Pelzstreifen nähte —, daß es so weit mit ihr sei— und was nun mit ihnen beiden geschehen werde, ob sie beisammen bleiben wollten— oder was?

Wieder schreckt sie auf in ihrem Sinnen. Kleinigkeiten fallen ihr ein: Auf der Treppe war es dunkel gewesen und sie wollte nach seinem Arm greifen, da hatte er plötzlich seine kleine Taschenlampe herausgezogen und aus die Uhr geblickt, dann war er rasch ein paar Schritte vorausgegangen, so daß sie laufen mußte, um ihn einzuholen.

Und auf einmal stand es mit klarer, kalter Deutlichkeit vor ihr: Es war aus.

Vielleicht bietet ihm die andere mehr. Was hat er bei ihr? Ihr Zimmer, das nie ordentlich sein konnte, immer flogen die Fellhaare umher. Und alles war voller Pelzstreifen, und der Staub, der auf den Möbeln lag, man mochte ihn noch sooft wegfegen. Sie mußte immer erst lange seinen schwarzen Anzug bürsten, ehe er ging…

War es vielleicht schön bei ihr?

Und sie selbst?

Sie hustete und hatte manchmal in den Schultern Schmerzen, war daher schlecht gelaunt. Und jetzt war dieses geschehen. Die Arbeit begann sie mehr zu ermüden als früher.

Wieder fällt ihr etwas ein.

Sie blickt auf ihre Hände. Es sind recht häßliche Hände. Sie rnußte mit ihnen seit ihrer Kindheit schwer arbeiten. Das Pelznähen aber hatte sie erst so häßlich gemacht; sie waren breit, grau und rissig, zerstochene Finger, stumpfe, beschädigte Nägel, und sie fühlten sich hart und schwielig an, waren voll Verletzungen. Der Franz hatte ihre Hände nicht gern in seinem Gesicht. Und einmal hatte sie geweint und mit den Händen ihre Tränen fortgewischt, da hatte er sie zornig angeschrien: „Gib die Hände weg!“ Jetzt wußte sie es, er konnte sie ihrer Hände wegen nicht leiden. Ihre Hände waren schuld, daß es aus war.

O, sie waren auch wirklich zu entsetzlich häßlich. Wie eine Krankheit sahen sie aus. Da half nichts mehr.

Es war Abend geworden. Berta saß noch immer auf der Planke.

Ihre Beine waren steif vor Kälte. Franz war nicht gekommen. Ihre Augen starrten in die Dunkelheit des Parkes — starrten …

Aus: Arbeiter-Zeitung, 7. Februar 1925, S. 5.

Hugo Glaser: Väter und Söhne

Die Psychoanalyse wurde, wie Freud, ihr Schöpfer, sagt, aus der ärztlichen Not geboren; sie entsprang dem Bedürfnis, nervös Kranken zu helfen, denen Ruhe, Wasserheilmethoden und Elektrizität keine Linderung bringen konnten. Aber diese Aufgabe, eine ärztliche Technik zu sein, suchte sie von vornherein dadurch zu erfüllen, daß sie sich auf die Aufdehnung verborgener Zusammenhänge, auf das Bewußtmachen des Unbewußten einstellte. Der ganze seelische Zuhalt des menschlichen Lebens, des Lebens der einzelnen und das der Gesamtheit, wurde so ihr Forschungsgebiet. Denn die Triebkräfte, die das Seelenleben des einzelnen beherrschen, spielen auch in der Allgemeinheit eine wichtige Rolle, in Masse und Gesellschaft, deren Wesen und Geschehen aus dem Verhalten der einzelnen sich zusammensetzt. Und indem sie immer wieder durch Probleme der Massen- und Gesellschaftspsychologie gelobt wurde, mußte sie, eigentlich naturgemäß, auch in die Seelengeheimnisse der jüngsten sozialen Bewegung einzudringen versuchen, die als Anarchismus und Kommunismus mit allzu roten Fahnen einherzieht. Aurel Kolnai unternimmt dies in einem jetzt erscheinenden Buche: „Psychoanalyse und Soziologie“ (Internationaler psychoanalytischer Verlag, Leipzig-Wien-Zürich, 1920). Die Psychoanalyse mußte im Anarchokommunismus viele jener Momente wiederfinden, für die ein Interesse zu haben sie bereits durch andere Probleme veranlaßt wurde. Dieser will ja das irdische Paradies als Endwert und die Zertrümmerung der heutigen Gesellschaft, und er führt, wo er zur Herrschaft gelangte, zu hochgradiger Desorganisation und zur Rückkehr zu primitiveren Formen – Zwecken und Schlagworten, denen, wie erwähnt, die Psychoanalyse auch anderswo begegnet.

Nach der Auffassung Freuds und seiner Schüler ist die Auflehnung gegen den Vater das Urbild der Revolte. Vater und Gesellschaft sind identisch. Demzufolge wäre der Anarchismus eine extreme Form des Aufstandes gegen den Vater. Der Kampf zwischen Vater und Söhnen, der im Unterbewußtsein der Menschen seit den vorbildlichen Zeiten her schlummert, kommt hier wieder einmal zum Ausdruck und führt zur Tötung des Vaters. Der Anarchismus will den vom Vater ausgeübten Zwang aufheben und schreitet zur Tötung des Vaters. Er trennt seinen Mittelweg und seine Entwicklung, sondern nur die Wiederholung der titanischen Tat. Die leidenschaftliche Auflehnung gegen den Zwang bedeutet aber nicht Freiheitsliebe des Mannes, sie ist eher wie die Ungebundenheit des Kindes, das in einem Aufstand lebt, dem die Notwendigkeit der Anpassung und die Konflikte fehlen. Der kommunistische Ausgangspunkt heißt: „Jeder arbeite nach seinen Fähigkeiten, genieße nach seinen Bedürfnissen.“ Uneingeschränktes Sich-Ausleben ist die Folge dieses Grundsatzes, freilich nur soweit, daß dadurch das gesellschaftliche Leben nicht geradezu verhindert werde. Darin erblickt die Psychoanalyse die Unmöglichkeit des Anarchismus. Dieser erklärt sich ferner für die universale Brüderlichkeit und hält dabei an Metzeleien und Bombenattentaten fest. Bakunins Ausdruck für „Gewalt für die Brüderlichkeit“ beleuchtet diesen Zwiespalt. Dem Vater gilt der Hass, der Mutter die Liebe. Auf der einen Seite ist die Gesellschaftsfeindlichkeit, auf der anderen die Brüderlichkeit der Anarchisten. Der im Unterbewusstsein der Menschen verborgene Vatermord hat aber nach den Hypothesen der Psychoanalyse die Brüder nicht zu ihrem Ziele, zur höchsten Liebe zur Mutter, führen können; die Söhne vermochten sich ohne den Vater nicht aufrechtzuerhalten. Wie die Tötung des Vaters nur die Isolierung der Mutter zur Folge hatte – Penelope konnte nach der Entfernung ihres Gemahls Odysseus seinem Freier die Hand gewähren – so würde die Aufhebung der stabilen Organisation den Zerfall der Gesellschaft nach sich ziehen. Der Anarchismus ist keine Kritik, keine Reform, sondern Zynismus, Tabula rasa. Die Mehrheit der Anarchisten besteht nicht aus typischen Proletariern, sondern aus Kleinbürgern und besonders aus Leuten, die allein arbeiten und die Härte der Lebensverhältnisse verstärkt empfinden. Methodischer und weniger impulsiv ist der Kommunismus; sein gesellschaftlicher Träger ist das Proletariat, dem auch eine Beziehung zu der Realität, der Technik, der Wirtschaft anhaftet. Das Proletariat, vom Aderboden abgeschlossen, verliert das Heimatgefühl. Die Revolution, die zur Erde, zur Natur zurückführt, soll es ihm wiedergeben. Der Proletarier hat seinen Sinn für den moralischen Wert des Kleingrundbesitzes. Die kommunistische Idee der Familiengemeinschaft und das Prinzip: Arbeiten nach den Fähigkeiten, Verzehrern den Bedürfnissen entsprechend, ist ein dem Kern nach kindliches Prinzip. Nicht die Entfaltung der Fähigkeiten – sie hoffen mit sehr geringer Arbeit auszukommen -, sondern der Gehorsam des guten Kindes ist betont, daß von seinen Eltern, vom Staate, alles bekommt, was es braucht. Was dem ganzen System abgeht, ist der Zwang des Lebens, der von dem Menschen tüchtige Arbeit erfordert, ihm aber mit der Berufswahl die Berufsfreude läßt. Der Kommunismus ist weniger unheimlich, weniger scharf als der Anarchismus, aber ebenso absurd. Er will eine Gesellschaft mit unentwickelter Organisation, aber mit hochentwickelter Technik. Hier kommt der Glaube an die Allmacht der Gedanken zum Vorschein, wie ihn das Kindesalter aufweist. Aber die Technik wird immer mit der Arbeitsteilung und damit mit einer sozialen Differenzierung Schritt halten. Sie steht nicht zur Verfügung einer Gemeinschaft, die sie nicht ausbauen und nicht verwalten kann. Der Krieg hat ja die Despotie der Mittel zur Genüge bewiesen. Die Zusammenfassung bestimmter Wahnideen zu einer Art Ernstem nennt die Psychoanalyse Paranoia. Die Psychoanalyse findet im Anarchokommunismus Zeichen einer paranoischen Konstruktion: die ausschließliche Betonung des Ichs, Größenwahn und Verfolgungswahn, Erlöseridee. Die schwere Wendung zur Psychose, zur richtigen Geisteskrankheit der Welt, brachte jene Abart des Systems, die Lenins Bolschewismus darstellt.

Auch Paul Federn rollt in einem Beitrag zur Psychologie der Revolution „Die vaterlose Gesellschaft“ (Anzengruber-Verlag, Wien-Leipzig) das Problem der Väter und Söhne auf, wie es von den Psychoanalytikern gesehen wird. Die erste Form des menschlichen Zusammenlebens war die einer Horde, die unter der übermächtigen Alleinherrschaft des Vaters stand. Wenn aber seine Kräfte nachließen aber der Satz der rechtlosen Söhne zu groß wurde, dann töteten sie den Vater. Aber die Uneinigkeit kam unter sie, sie bekämpften einander, und wieder wurde einer Führer, Vater. Spätere Generationen haben sich freilich zusammengeschlossen mit einem gewählten Haupt. Aber in der Verehrung des Vaters durch die Söhne blieb und bleibt tief verborgen in einer Falte der Seele ein Rest der uralten Feindschaft und der uralten Schuld…. Als die Söhne des Krieges sahen, daß ihr Vater, der Kaiser, die Heimaterde, die Mutter, nicht schützen könne, schwand die Vorstellung von der riesenhaften Größe des Vaters, von seiner Macht und Stärke. Die Ehrfurcht vor dem Staate stürzte zusammen, eine vaterlose Gesellschaft blieb zurück. Aber im Menschen schlummert auch die Brüdergemeinschaft als zweites soziales Prinzip. Dem im Menschen vorhandenen Gefühle, als Bruder den Mitmenschen zu lieben, hätte der Revolution zum Durchbruch verhelfen sollen. Federn hat von der Brüdergemeinschaft der Menschen eine bessere Meinung als andre, welche mehr die Tatsachen sprechen lassen. Das Vater-Sohn-Motiv hat, psychoanalytisch gesprochen, sicher eine schwere Niederlage erlitten. Aber es ist, wie Federn sagt, durch die Familienerziehung und als ererbtes Gefühl tief in der Menschheit verankert und wird wahrscheinlich auch diesmal verhindern, daß eine restlos vaterlose Gesellschaft sich durchsetze.

In ihrem Bestreben, die Urgeschichte der Menschheit zu erforschen, mußte die Freud-Schule auch an Probleme der Religion herantreten, und auch dort findet sich das Motiv der Väter und Söhne. In einem seiner glänzendsten Werke „Totem und Tabu“ hat Freud diesen Problemen nachgespürt. Von den dort entwickelten Annahmen ausgehend, hat nun Dr. Theodor reif in sehr interessanten Studien über „Probleme der Religionspsychologie“ (Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Leipzig und Wien) bisher unverstandene Einzelheiten des religiösen Lebens auseinandergesetzt, in deren erster sich das Väter- und Söhneprinzip wiederfindet. Von historischen Zeiten bis zur Gegenwart zieht sich bei verschiedenen Völkern der Brauch des Männerkindbettes. Die Wissenschaft nennt ihn Couvade. Der Vater eines neugeborenen Kindes legt sich für kürzere oder längere Zeit zu Bette, hält eine bestimmte Diät ein, er darf nichts arbeiten, nicht jagen, während die Frau, die eben ein Kind zur Welt gebracht hat, arbeitet, als hätte sie sich nichts ereignet. Diodorus Ciculus erwähnt das von den Korsen. Strabo schreibt das von den Iberern, zeitgenössische Schriftsteller berichten das von indischen- und brasilianischen Stämmen, kurz der Brauch war und ist noch verbreitet. Bei den Karaiben müssen sich die Väter nicht nur ins Bett legen, als ob sie Schmerzen hätten, sondern sie haben auch wirklich welche: die Freunde kommen und machen ihm unzählige Stiche und Schnitte in die Haut und reiben die Wunden mit Pfeffer ein. Manche Südseeinsulaner dürfen von einem bestimmten Zeitpunkt an keine Bananen, keine herabfallenden Kokosnüsse essen, weil sonst das zu erwartende Kind geschädigt würde. Man hat viele Theorien über diesen Brauch aufgestellt. Am humorvollsten ist vielleicht die eines Gelehrten, der die Couvade als eine Erfindung der Weiber auffasst: damit sie in ihren schweren tagen vor den Männern Ruhe hätten…, aber die Psychoanalyse legt diesen Brauch anders aus. Sie faßt ihn als Vergeltungsfurcht auf. Es ist klar, daß dieser Brauch einmal einen Sinn gehabt haben muß, wenn er auch heute nur mehr Zeremonie ist. In der einfachen Form kann er ja ein Schutz der Frau gegenüber einem feindseligen Benehmen des Mannes sein. Aber die diätetische Form, die Enthaltung von Arbeit und Jagd, die Verletzungen, die der Mann erdulden muß, sind Sühn- und Bußzeremonien. Man kann hier manches Analoge bei Neurotiker unserer Zeiten und unserer Gegenden finden. Deren Überzärtlichkeiten einem Kinde oder einem Verwandten gegenüber entspringen büßenden Vorstellungen im Unterbewußtsein, zustande gekommen durch feindselige Absichten oder Wünsche, die im Verborgenen wuchern. Der Kampf der Väter gegen ihre Söhne äußert sich ja überall zuweilen in einer übergroßen Abneigung des Mannes gegen Kindersegen. Der Vater sieht sich durch den Sohn verdrängt. Der Sohn ist ja, nun das geworden, was früher der Vater war. In Polynesien geht der Rang des Königs sogleich auf den Neugeborenen über, der Vater ist von nun an ebensowenig wie jeder andere, kein König mehr. Die früher erwähnten Gefühle der Söhne gegen den Vater, der sie alle unterdrückt, lassen die Vorstellungen herankeimen, daß der Sohn einmal die gleichen Gefühle haben und äußern könnte. Eine gedoppelte Vergeltungsfurcht kommt nur so zustande: Furcht vor der Strafe, die vom Vater ausgeht, Furcht vor der Wiedervergeltung durch das eigene Kind. In der Kulturgeschichte der Menschheit wird die Couvade als eine Art Grenze bezeichnet: hier hört der Kampf auf, den Vater und Söhne seit Jahrtausenden führten, und die Liebe zu seinem Kinde erfüllt nunmehr auch den Vater.

In: Neues Wiener Tagblatt, 9.12.1920, S. 2-3.

Max Graf: Sanierung der Seelen

Abgesehen von seinen Wahl- oder Parteireden, oder den politischen Reden, die sich mit aktuellen Fragen beschäftigen, hält der ehrwürdige Seelsorger der österreichischen Republik, Bundeskanzler Dr. Seipel, in letzter Zeit immer häufiger Reden, die sich mit den allgemeinen Fragen des gesellschaftlichen Lebens beschäftigen. Diese Reden zeigen einen ernsten, nachdenklichen Mann von nicht alltäglicher Geistigkeit, dessen Blick nicht an den Vordergrunderscheinungen des Lebens haftet, mit denen Dr. Seipel von früh bis abends reichlich genug beschäftigt ist. Die Gedanken des Bundeskanzlers im schlichten Priesterrock gehen aufs Allgemeine, suchen Gesetze des Lebens, wollen die Richtung der Bewegung feststellen; es spricht der Moralist, der Gesellschaftskritiker, auch der Theolog, ein politischer und religiöser Denker, dem der schärfste politische Gegner die Reinheit der sittlichen Gesinnung nicht anzutasten wagen wird. Es bedeutet viel in Tagen, in welchen so viel gieriger Egoismus, so viel Gewinnsucht, so viel ungeistige Gewalttätigkeit entfesselt sind, in den wichtigsten Staaten Mitteleuropas Männer des Geistes die führenden Staatsmänner sind, mag ihr Denken frei und positivistisch sein, wie das des alten Masaryk und des Realisten Benesch, oder religiös gebunden, wie das Dr. Seipels. In Staatsmännern von solcher Art, denen Politik etwas anderes ist als Geschicklichkeit, sind geistige Kräfte, die sich auch im politischen Leben fördernd und belebend ausdrücken müssen. Noch immer sind Geist, Charakter, sittliche Gesinnung größere Kraftquellen, als die Kunst der politischen Gewalttätigkeit und Intrige, als ökonomische Macht und brutales Streben nach Vorteilen.

Die letzte Rede Dr. Seipels hat sich mit dem Luxus beschäftigt, der in Wien bei Festen sich zur Schau stelle. Es gefalle ihm – so meinte Dr. Seipel in seiner ernsten Rede – nicht, daß viele tausend Mitmenschen schwer um ihre Existenz ringen, und gleichzeitig ein Luxustreiben durch die Stadt gehe. Es gefalle ihm der Geist dieses vergnügungstollen Reichtums nicht, dem nichts am Staate liege und der andere verbittere. „Ich habe nicht den Ehrgeiz, als Staatsmann geschildert zu werden, der nur die Finanzen sanieren geholfen hat, sondern mit kommm[t] vor, daß wir auch die Seelen sanieren wollen meinte Dr. Seipel mit einer jener trefflichen Antithesen, die zur dialektischen Ausrüstung des Kanzelredners gehören, und es ist begreiflich, daß der Richter Dr. Seipel kein höheres, kein edleres Ziel kennt, als die Sanierung der Seelen. Die Sanierung der Finanzen, so wichtig und lebensnotwendig sie für den Staat ist, was kann sie dem Mann der Religion bedeuten, neben der viel wichtigeren der Sanierung der Seelen, die sein eigentlicher Beruf ist, um dessentwillen er den schwarzen Priesterrock angezogen hat, das Kleid der Streiter Christi, das Kleid der Seelenführer und Seelenretter? Ohne die Sanierung der Seelen muß dem Priester Dr. Seipel sein eigenes Werk unvollständig sein, denn der Mensch lebet nach den Worten der Heiligen Schrift nicht vom Brot allein.

Dr. Seipel denkt über die Zustände des modernen Staates und der modernen Gesellschaft kaum anders als der heilige Augustinus über den verderbten Römerstaat gedacht hat. In herrlich aktuellen Worten hat der heilige Augustinus im 2. Buch seines „Gottesstaates“ das Bild eines verkommenen Staates und einer verkommenen Gesellschaft entworfen: „Die Anbeter der heidnischen Götter kümmern sich nicht darum, daß die Republik durch alle Arten von Lastern befleckt ist. Wenn sie nur sich erhält – sagen sie – wenn sie nur blüht, siegreich und triumphierend ist, und vor allem, wenn sie vollkommenen Frieden genießt; was kümmert uns das übrige? Uns kümmert es nicht, daß jeder täglich seine Reichtümer vermehrt, um alle seine verschwenderischen Gelüste zu befriedigen und die wirtschaftlich Schwachen zu unterwerfen. Uns kümmert es nicht, daß die Armen die Schleppträger der Reichen werden, damit sie ihren Lebensunterhalt finden und im Schatten// der Protektion ein ruhig-müßgiggängerisches Leben genießen und daß die Reichen die Armen mißbrauchen, um sie zu Dienern ihres Luxus und ihrer Eitelkeit zu machen… Uns kümmert es nicht, daß man große und stolze Häuser baut, daß man überall und wo man Lust hat praßt, ohne gehindert zu werden, und die Nächte mit Spiel, Trinkgelagen und allen Arten Ausschweifung verbringt; daß man an allen Winkeln tanzt; daß die Theater von dem Geschrei jener widerhallen, die unzüchtigen oder blutigen Schauspielen applaudieren, und jener als Volksfeind betrachtet wird, der jene Vergnügungen mißbilligt; wenn nur weder Krieg noch Pest, noch ein anderes Unglück einen so glücklich sanierten Staat stören.“ Die Sanierung der Seelen war für den heiligen Augustinus die Errichtung des Gottesstaates, das siebente Zeitalter des Menschen, in dem er das göttliche Königreich besitzt, die ewige Glückseligkeit, das Leben nach dem Geist, der vollkommene Christenmensch. Man darf annehmen, daß auch dem Prälaten Dr. Seipel nach der Sanierung des Staates, die sein historisches Verdienst sein wird (wenn sie endgültig abgeschlossen sein wird) die Sanierung der Seelen, die der heilige Augustinus mit den Feuerworten seines afrikanischen Lateins gepredigt hat: die Sanierung durch den Glauben, als wichtigste Aufgabe erscheinen wird. Die Aufnahme der österreichischen Republik in die civitas die wird eine noch schwerere Aufgabe sein, als die Aufnahme Österreichs in den Völkerbund, und ernst und streng mahnt der Mann der Kirche, in dem die österreichische Republik ihren erfolgreichsten und geistig bedeutendsten Staatsmann gefunden hat, sich auf die Sanierung der Seelen vorzubereiten.

Mit sittlichem Ernst mahnt der österreichische Bundeskanzler immer wieder den Reichtum an seine sozialen Pflichten. Er steht mit diesen Mahnungen innerhalb der Traditionen der Kirche, welche in der Zeit, wo der Glaube am glühendsten, die Seelen noch frisch, der Fanatismus der Bekehrung ungeheuer war, im Reichtum Sünde gesehen hat. Kein Anarchist konnte heftigere Brandreden gegen den Reichtum halten, als der heilige Ambrosius. „Was sollen, oh Reiche, eure sinnlosen Begierden?“ – predigt der große Bischof von Mailand – „Glaubt ihr, daß ihr allein auf der Erde wohnt? Weshalb stößt ihr jene zurück, die die Natur als euresgleichen geschaffen hat, und beansprucht für euch allein den Besitz aller Sachen? Die Erde ist geschaffen zum gemeinsamen Gut der Reichen und Armen. Weshalb maßt ihr euch allein, o Reiche, das ausschließliche Recht an ihr an? Die Natur kennt keine Reichen, sie bringt uns alle arm auf die Welt, denn wir werden ohne Kleider geboren und wir sind nicht mit Gold und Silber behangen…Reiche! Ihr raubt alles den Armen, ihr entreißt ihnen alles und läßt ihnen nichts. Die Armen sind hungrig, wenn sie nichts haben. Ihr seid hungrig, wenn ihr euch mit Schätzen vollstopft… Ihr entreißt das Gold aus den Eingeweiden der Erde, aber nur um es von neuem zu verbergen, und wie viel Leben vergräbt ihr in das Gold!“

Niemals hat ein Proudhon den Reichtum mehr verdammt, als der heilige Ambrosius in seinem „Buch vom Naboth“[1]. Freilich: in der späteren Zeit hat die Kirche sich mit den Mächtigen der Erde zu verbünden gewußt und ist zeitweise der sicherste Schutz einer Gesellschaftsordnung gewesen, die dem Reichtum alle Macht und alle Vorrechte gegeben hat. Das Evangelium der Nächstenliebe hat nicht den Weltkrieg zu verhindern gemocht […], als für das große Morden in den Kirchen gebetet wurde. Und wo wird heute das „Liebet eure Feinde“ beachtet, wo doch von jeder Kanzel das Evangelium gepredigt wird. In der ungeheuren Weltumwälzung, die wir miterlebt haben, hat sich die Kirche ebenso schwach gezeigt, wie der Sozialismus, wie jede altruistische Gesinnung, die dem Masseneinbruch gewalttätiger, egoistischer Instinkte nicht widerstehen konnte.

In dieser Barbarei, in diesem allgemeinen Zusammenbruch der Kultur, des europäischen Gewissens, spricht Dr. Seipel das Wort aus von der „Sanierung der Seelen“. Ein schönes, ernstes und geistreiches Wort. Aber mit dem schönsten Predigtworten ist der aus den Fugen geratenen Welt nicht zu helfen. Die sittliche Verwüstung der Gesellschaft, die ja nicht auf Österreich beschränkt, sondern international ist, ist nur ein Zeichen einer fehlerhaften gesellschaftlichen Organisation. Die Gegensätze zwischen Reichtum und Armut sind in allen Ländern Europas, wo inmitten der Kriegsverwüstungen Vermögen zusammengerafft wurden und aus der Zerstörung des Besitzes neuer Reichtum an die Oberfläche kam, viel größer geworden, als sie vor dem Krieg waren, die soziale Bodenunruhe ist gewachsen, und welcher Einsichtiger würde nicht verstehen, daß die Welt in ein Zeitalter sozialer Erschütterungen, Umformungen, Kämpfe eingetreten ist – der Weltkrieg war nur eine blutige Episode dieser Weltkrise –, das noch lange nicht beendet ist. Die Gegensätze in der europäischen Gesellschaft sind viel zu groß, als daß sie mit Worten überbrückt werden könnten, deren Ohnmacht sich im Weltkrieg gezeigt hat. Wenn einmal der Neubau der modernen Gesellschaft vollzogen sein wird, wenn der Gegensatz von Reichtum und Armut durch die gesellschaftliche Ordnung gemildert, die Arbeit alle Mitglieder der Gesellschaft vereinen wird, werden auch die Herzen offen stehen für das Evangelium der Liebe und Menschlichkeit: Die „Sanierung der Seelen“ ist ein schöner Gedanke. Aber ein wohnliches Heim für diese Seelen muß vorerst geschaffen werden, während jetzt die Seelen der Reichen vor Furcht, die Seelen der Armen vor Erbitterung zittern. Denn auch die Verschwendung der Reichen, über die Dr. Seipel klagt, was wäre sie anderes als Furcht, ein Vermögen zu verlieren, dessen Besitz in einer Zeit allgemeiner Verarmung über Nacht entstanden ist, und die Gier, es zu genießen?

In: Der Tag, 20.1.1924, S. 1-2.


[1] De Nabuthe Iezraelita (Über den Israeliten Nabuth; Homilie gegen die Habgier, 389)

Hugo Bettauer: Die Neujahrsnacht der Banknoten.

             Um einen grünen Tisch herum sitzen wohlbekannte Gestalten, um sich nach rastloser Wanderung einer kurzen Muße hinzugeben und bei Punsch und Krapfen den Eintritt des neuen Jahres abzuwarten; der Einser, der Zweier, der Zehner und Zwanziger, der Fünfziger und Hunderter, der Tausender und Zehntausender haben genau nach Rang und Wert ihre Plätze eingenommen. Zwei Stühle sind für weitere Gäste reserviert. Der Einser und der Zweier befinden sich in despektierlichem Zustand. Abgerissen, fetzig, schmutzig, klaffende Risse notdürftig mit Heftpflaster verklebt, in sich zusammengesunken sitzen sie da, als wollten sie demnächst verenden.

             Dem Zehner ist die Nachbarschaft ersichtlich unangenehm, er rümpft die Nase, schüttelt sich vor Ekel und brummt wütend:

             „Ihr hättet auch lieber zu Haus bleiben können. Ordentlich kompromittieren tut Ihr die ganze Gesellschaft!“

             „Na, na, spiel‘ dich nicht auf, Zehner,“ ruft der Hunderter höhnisch, „schaust ja selber schon wie ein Pülcher aus! Auf ja und nein wird sich nach dir auch keiner mehr bücken wollen.“

             „Mir alle san halt strapaziert,“ keucht der beleidigte Zweier!

             „Volksfreunde san mir,“ echot der Einser, „Kinderfreunde und Genossen der notleidenden Klassen!“

             Das war zu viel der Anstrengung, der Einser rutscht vom Stuhl hinunter und sein Oberkörper trennt sich vom Unterleib. Der Zweier bückt sich, um dem Genossen zu helfen, dabei kommt auch er zu Fall und der Zehner stoßt sie beide wütend mit dem Fuß beiseite.

             Der Tausender beschwichtigt die Aufgeregten. „Laßt’s die armen Hascher lieger! Sie haben ja eh‘ die längste Zeit schon kein Leben mehr g’habt! Wann i der Hausherr wär, tät ich sei im neuchen Krematorium verbrennen! Kosten eh‘ mehr, als sie wert san!“

             Der Zwanziger will sich noch nicht beruhigen! „Eine Schande ist es, so mit uns umzugehen! Auf ja und nein kann uns allen dasselbe geschehen! In den letzten Wochen habe ich schon genug Schimpf und Schande erleben müssen.“

             Der Tausender reckt sich, wirft funkelnde Blicke aus den braunen Augen und meint:

             „Es herrscht eben keine Achtung und Ehrfurcht mehr in diesem Lande, seit der gute Kaiser Karl…“

             „Nichts von Politik,“ brüllt der demokratisch gesinnte Hunderter dazwischen.

             Der Tausender begehrt auf: „Wer etwa behauptet, daß ich Monarchist bin, ist ein Verleumder! Aber einen Herrn brauchen wir, sage ich! Wissen Sie, was mir neulich beinahe geschehen wäre? Beim Heurigen war es, als nach kräftigem Genuß von neuem Wein und Powidlgolatschen sich so ein reich gewordener Selcher beinahe, weil er nichts anderes zur Stelle hatte, mit mir…“ Die anderen Worte flüsterte der Tausender indigniert den Nachbarn zu, von denen der Hunderter erbleichte, während der Zehntausender in schallendes Gelächter ausbrach.

             „Allerdings, mir könnte das nicht so leicht passieren! Na, ja, schließlich bin ich auch unter den geänderten Verhältnissen ein Wertfaktor, den man respektieren muß!“

             „An Schmarrn bis du,“ kreischt der kranke, schäbige Zehner im Bewußtsein, eh‘ auf dem letzten Loch zu pfeifen. „Du und der Tausender, Ihr seid nichts als Schwindler, besonders seitdem Ihr von hinten wie die Zwillingsbrüder ausschaut.“

             Mit philosophischer Ruhe mengt sich der Fünfziger ein. „Meine Herren, geben wir uns keinen Illusionen hin, Schwindler sind wir alle! Jeder von uns will etwas vorstellen, was er nicht ist, und ob einer sich Tausender nennt oder Zehntausender, in Wirklichkeit ist er ein Dreck!“

             „Da muß ich doch sehr bitten,“ meint scharf der Zehnstausender. „Ich als der Erste und Beste unter Ihnen denke in diesem Punkt wesentlich anders…“

             Die Tür geht auf und der Herr Fünftausender tritt ein. Einen Moment ist alles baff, der Glanz des nagelneuen Gewandes, das der späte Gast trägt, fasziniert, der Hunderter vergißt seine demokratische Gesinnung , der Zehner seinen beleidigten Zustand, beide springen auf, um den Fünftausender an die Spitze der Tafel zu führen. Da schlägt der Zehntausender mit der Faust wütend auf den Tisch.

             „Oha, das wär‘ noch schöner! Da links von mir ist der Platz für den neuen Herrn, denn ich bin noch immer der Rangältere.“ Und spitz wendet er sich an den verwirrt und verlegen ins Licht blinzelnden Fünftausender:

             „Der Herr hat wohl mit Erfolg in Valuta spekuliert? Unsereins kann sich nämlich nicht so ohneweiters ein neues Gewand leisten.“

             Verdrossen, geknickt, zerrissen wacht der Zwanziger aus dem Halbschlummer auf.

             „Tun’s Ihnern nix an, Herr Präses, Sie gehören ja selbst zu den neuen Reichen, die was im Jahr 1914 noch gar net auf der Welt waren!“

             Der Fünftausender setzt sich artig, fühlt die neidischen und bewundernden Blicke und denkt sich: In eine schöne Gesellschaft bin ich geraten! Wer weiß, vielleicht schau‘ ich bald auch so aus, wie der stinkerte Zehner da!

             Jetzt kommt aber breitspurig, mit wuchtigen Schritten, würdevoll der letzte Gast, der Kommerzialrat Fünfzigtausender. Vergebens hat er sich allegorisch einzukleiden versucht, er sieht entschieden „eingewandert“ aus und je vornehmer er sprechen will, desto mehr jüdelt er.

             „Platz da, meine Herren,“ ruft er und setzt sich breitspurig an die Spitze der Tafel. „Hast ä Hitz, was Sie da haben! Nü, Herr Tausender, Sie sehen auch schon etwas mitgenommen aus, von die anderen Herren gar nicht zu reden! Und Sie, Herr Zehntausender, Ihnen ist auch nicht ganz wohl? Also,ich sag‘ Ihnen, jetzt, wo ich da bin, wird ein neuer Zug in die Sache kommen! Reißen wird man sich um mich und was echter Kavalier ist, wird gar nicht ohne mir in die Bar gehen wollen!“

             Und schon schließt sich alles gegen den neuen Eindringling zusammen. Der Zehntausender rückt von ihm ab und vom unteren Ende der Tafel werden stürmische Rufe“ „Schieber! Schieber! Schieber“ laut. Der Zehner kreischt: „Haut’s den Hebräer tor“, der Hunderter brüllt: „Wart nur, bei der nächsten Plünderung!“

             Der Lärm wird so groß, daß im Café „Zentral“ am Literatentisch, wo eben heftig über Stendhal, Daimler, Goethe, Julisüd, Wildgans und Chemosan diskutiert wurde, Unruhe entsteht. Die Türe fliegt auf und der Hausherr, Herr Gürtler, kommt mit der Nachtmütze auf dem Kopf und einem Staberl in der Hand.

             „Ruhe, Bagage, elende! Wan i euch allemiteinander nur schon los wär, ös elendige Gauner, ös! Marsch ins Steueramt mit euch! Aber rasch, sonst hol i mein Freund, den Rosenberg, und lass‘ euch alle zusammen abstempeln!“

In: Der Morgen, 2.1.1922, S. 4.