Dr. Eugenie Schwarzwald: Lob der Republik. Eine Festrede in der Schule
Wenn wir einen Geburtstag feiern, so
fragen wir uns: Wie stehen wir zu dem Gefierten, was bedeutet er für unser
Leben, was könnten wir für ihn tun? Das heutige Geburtstagskind ist unsere
Republik.
Was ist eine Republik? Die Republik
ist ein Land, ein Staat, in dem alle, das ganze Volk, alle Schichten, Klassen,
Stände, Berufe, beide Geschlechter sich an der Herstellung des Allgemeinwohles beteiligen,
also um alle öffentlichen Angelegenheiten tätig bemüht sind. An der Spitze
steht kein Monarch, weder ein absoluter noch ein durch Konstitution
beschränkter. Aber das ist nicht das Entscheidende. Ein Monarch kann ein Despot
sein, ein Willkür ausübender Tyrann wie Iwan der Schreckliche oder wie
Caligula; er kann aber auch ein heilsam schaffender Philosoph sein wie Marc
Aurel; ein Schützer des Landes wie der englische Protektor Oliver Cromwell, der
erste Diener des Staates wie Friedrich der Große, oder ein Menschenfreund wie
Josef II. Es kann sogar vorkommen, daß sich ein Volk unter einem Monarchen
wohlfühlt. Wenigstens hat dies der kluge französische Heinrich IV. angestrebt
und Harun al Raschid, wie die arabische Sage erzählt, erreicht. Aber ein von
oben regiertes Volk bleibt doch bevormundet, gegängelt, wenn nicht gar
versklavt und ausgebeutet. Wie ein Kind erst ein ganzer Mensch wird, wenn es
eine Angelegenheiten versteht und tätig selber wahrnimmt, weil es da erst in
den Besitz und den Genuß aller seiner Kräfte und Fähigkeiten kommt, so ist ein
Volk erst dann keine bloße Herde, wenn es nicht allein sich auf den Verstand
und den Charakter seines Herrn oder Hirten zu verlassen hat, so daß seine
eigenen Kräfte, seine Geistesgaben, seine Energie, seine organisatorischen
Fähigkeiten einschlafen, sondern wenn jeder Volksgenosse den öffentlichen Geist
und alle Angelegenheiten der Gemeinschaft mitbestimmt.
Haben wir aber dann schon eine wahre
Republik, wenn sich alle Glieder des Volkes um die öffentlichen Angelegenheiten
kümmern? Wenn sie eine Anstalt zum Besten aller sein soll, so müssen alle, die
damit zu tun haben, auch wissen, was das allgemein Beste ist, und wenn sie es w
i s s e n, es auch w o l l e n. Viele Leute glauben, das sei schon Republik, wenn
alles geschieht, was die Mehrheit beschließt. Wenn ihr etwas Gescheites
einfällt, so ist ja alles in Ordnung. Aber weiß denn die Majorität immer, was
recht ist? Verstand und guten Willen muß man haben, ob man nun ein Monarch,
eine Oligarchie von feudalen Rittern oder reichen Bürgern, ein Senat oder eine
Parlamentsmehrheit ist. Haben wir nicht gesehen, daß nicht nur Monarchen,
sondern auch Parlamente den Weltkrieg beschlossen haben? Ganze Völker können,
wie ein einziger, Kriege wollen und führen, um sich durch Eroberungen,
Unterdrückungen und Versklavung am Unglück anderer Völker zu bereichern. Ihr
habt ja römische Geschichte gelernt. Diese Republik ist ein berühmtes, richtiger
berüchtigtes Beispiel für das Gesagte. Solche Republiken können gefährlicher
und schädlicher sein als Despotien.
Soll also die Republik eine
Gemeinschaft zum Wohle aller werden, so müssen alle lernen, worin das
Allgemeinwohl besteht und müssen den Willen haben, dieses durchzusetzen, sogar
dann, wenn ihr privates, persönliches Interesse nicht damit übereinstimmt.
Viele glauben, daß sie ihre
Bürgerpflicht erfüllt haben, wenn sie sich einer politischen Partei anschließen
und nach deren Weisungen handeln. Dazu hat natürlich jeder ein Recht.
Insbesondere, wenn dieser Anschluß aus guten Gründen erfolgt, aus Überzeugung,
aus Sympathie oder Familientradition. Wir haben Parteien für alle Interessen,
Stände und Klassen. Parteien für die Bauern, für die Arbeiter, für die
Fabrikanten, für die Kaufleute, für die Beamten, und alle diese nehmen naturgemäß
die Interessen ihrer Mitglieder wahr. Alle diese Interessen sind berechtigt und in Ordnung und verdienen
geschützt zu werden, solange sie niemand anderen verletzen. Der Bauer hat das
klare Recht, in Frieden und ungestört die Früchte des Bodens und seiner Arbeit
zu genießen und zu verwerten. Und seine Partei handelt richtig, wenn sie
Einrichtungen, die ihm nützen und seine Arbeit erleichtern, schafft und darauf
acht gibt, daß das Gemeinwesen nicht unternimmt, was ihm schaden könnte. Wie
aber würde euch das gefallen, wenn diese Partei ihre Macht im Staate dazu
gebrauchen wollte, alle, die keine Bauern sind, zu zwingen, ihre Lebensmittel
zu besonders teuren Preisen beim Bauern zu kaufen? Oder wenn die
Fabrikantenpartei den Bauern zwingen wollte, daß er für die Industrieprodukte,
die er braucht, mehr bezahlt als sie wert sind, damit es dem Fabrikanten
besonders gut gehe? Oder wenn irgendeine Partei die Fabriksarbeiter zwingen
wollte, auf ihre wohlverdiente Muße, auf den Schutz ihrer Gesundheit und ihrer
Sicherheit zu verzichten? Oder sie verhindern wollte, Arbeit dort zu suchen, wo
sie am besten bezahlt wird? Wenn eine Partei es durch Zahl, Macht und Agitation
durchsetzt, daß die Interessen irgendeiner Klasse zum Nachteil der anderen
Klassen im Staate bevorzugt werden, so ist die Republik nicht besser als eine
Despotie. Kurz gesagt: die Interessen
jedes einzelnen müssen auf die des anderen Rücksicht nehmen. Wir nennen einen
Privatmann, der sein Wohl auf Kosten oder gar zum Schaden anderer fördert,
einen elenden Egoisten. Ebenso müssen wir den Staat nennen, wenn er ebenso
handelt. Die echte Republik kann nur auf allgemeiner Gerechtigkeit beruhen, mit
Schonung aller für alle.
Das erste Wort der wahren Republik
heißt: Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg‘ auch keinem andern zu.
Dieser einfache Satz, den ihr ja alle kennt, ist die Grundlage alles sozialen
Lebens, des Staates und der ganzen Zivilisation. Dieser bescheidene Satz
verwirft den Streit in der Kinderstube, den Unfrieden in der Schule, den Parteienzwist,
die unaufrichtige Diplomatie und verdammt den Krieg, der einen Staat auf Kosten
des andern vergrößert und bereichert. Er fordert gebieterisch, daß die Staaten und
Völker miteinander umgehen wie anständige Menschen im Privatverkehr: mit
Achtung und Rücksicht, liebenswürdig und höflich, krasse Eigenliebe, Roheit und
Unhöflichkeit ablehnen. Durchboxen gehört nicht in die Republik.
Dieser Satz: Ne fais pas á
autrui ce que tu ne voudrais pas qu’on te fasse, braucht nicht erst bewiesen zu werden. Er ist, wie
die Logiker oder Mathematiker sagen, ein Axiom, ein Satz, der von selbst
einleuchtet. Weshalb Vischer in seinem Roman „Auch Einer“ seine Helden sagen
läßt, das Moralische verstehe sich von selbst, alle zehn Gebote fließen aus
diesem Satze. Jedes denkende Hirn, jedes fühlende Herz schafft diesen Satz
sozusagen neu aus sich selbst heraus, sonst könnte die Welt längst nicht mehr
bestehen. In unaufhörlichem Streit und Kampf müßte die Menschheit zugrunde
gegangen sein, natürlich ohne auch nur die kümmerlichste Kultur und
Zivilisation entwickelt zu haben. Und auf die wollt ihr doch nicht verzichten?
Die wahre Republik ist die
Verwirklichung der Gerechtigkeit für alle unter Mitarbeit aller. Auf diesem
Fundament erst kann die zweite Stufe des
menschlichen Zusammenlebens aufgebaut werden, die auf dem indischen Worte
beruht: Hilf, wo du kannst, denn wer nichts tut, tut übles. Die Gerechtigkeit
besteht nämlich nicht in der bloßen Enthaltung von Schadentun, Verletzen,
Kränken. Natürlich kann man damit schon ein ganz anständiger Mensch sein. Aber
das ist zu wenig. Euch kommt ein solcher Mensch sicher kalt und wenig
sympathisch vor. Und er erinnert euch an Kellers „gerechte Kammacher“, die ihr
ja alle nicht leiden könnt. Er lebt nämlich nach dem egozentrischen Grundsatz:
„Sehe jeder, wo er bleibe, sehe jeder, wie er’s treibe, und wer steht, daß er
nicht falle.“ Ein richtiger Mensch aber, den geht es sehr an, daß auch die
anderen, gleichgültig, ob mit oder ohne ihr Verschulden, nicht fallen. Ist er
aber gar glücklich, so hat er das Bedürfnis, alles um sich her wenigstens leidlos zu sehen. Das
ist der innerste Kern des Christentums, welches als notwendige Ergänzung zu der
Gerechtigkeit des alten Dekalogs hinzugetreten ist.
Oft hört ihr, Republik sei nichts
anderes als Freiheit. Aber die Freiheit ist nichts Positives. Man kann sie
definieren als Abwesenheit von Gewalt. Solange Gewalt von Despoten, Siegern und
Eroberern, von Cliquen, Klassen, Parteien, Bündnissen oder Banden sich geltend
machen kann, gibt es keine Gerechtigkeit. Freiheit ist also nichts Aufbauendes,
sondern bloß die unentbehrliches Vorbedingung für das ordentliche Zusammenleben
der Menschen. Das Positive aber muß gelehrt und geübt werden.
Auf unsere junge Republik dürft ihr
stolz sein. Sie ist nicht in guten, friedlichen Zeiten, durch den starken
Willen, den Freiheitsdrang oder die Selbstbesinnung einzelner geschaffen
worden. Eine gewaltige internationale Katastrophe hat wie ein Sturmwind die
alten Herren hinweggefegt und uns vor die Notwendigkeit gestellt, das neue
Gemeinwesen aus eigener Kraft unter den schwersten Verhältnissen aufzubauen. So
ist uns eine Aufgabe zuteil geworden, unvergleichlich schwerer als etwa jene
der Schweizer, deren Vorfahren vor Jahrhunderten ihre politische Freiheit
verteidigt und erobert haben. Diese haben es leicht, ihre Gemeinschaft langsam
und bedächtig zu immer besserer Gesittung weiter zu gestalten. Aber je
schwieriger die Aufgabe, desto größer die Ehre und Freude am Geleisteten. Was
schon in wenigen Jahren geschehen ist, ist nicht wenig. Wenn ihr bedenkt, daß
unser Land im Zustand äußerster Zerrüttung, wirtschaftlich fast zugrunde
gerichtet, seiner besten Männer beraubt, seiner wichtigsten Hilfsmittel
entkleidet, sich neu zu fassen und nicht nur neu zu organisieren, sondern erst
wieder lebensfähig zu machen hatte, so werdet ihr verstehen, was das heißt, daß
es bei uns im Lande keine äußerste Unordnung gegeben hat, daß wir den
auflösenden Kampf aller gegen alle zu vermeiden gewußt haben. Wir haben unsern
armen Staat in leidlicher Ordnung wieder aufgebaut, sind ein geachtetes
Mitglied der europäischen Völkerfamilie geworden und ein wichtiges Stück der
Kulturgemeinschaft geblieben. Ja, es gibt sogar einige Dinge, in denen wir
anderen Ländern als Beispiel dienen. Dies alles ist das Verdienst gewisser
Eigenschaften des Österreichers. Sein Sinn für geduldiges und rücksichtsvolles
Zusammenleben, für Verständigung und Ausgleichung von Gegensätzen macht ihn für
die Republik besonders geeignet. Diese Eigenschaften haben uns vor der Anarchie
verzweifelter zurückströmender Armeen bewahrt, vor Aufständen hungernder
Volksmassen, vor blutigen Gewalttaten der Revolution, wie vor Handstreichen der
Reaktion. Die Zusammenarbeit der verschiedenen Interessengruppen, Parteien und
Bestrebungen könnte in der Geschichte, wenn die Geschichte Luft hätte, auch
schöne Dinge aufzuschreiben, als ein Beispiel aufgezeichnet werden, wie sich
ein Volk durch seinen Charakter aus der äußersten Notlage hilft.
Die Eignung zum Republikaner ist die
erste Voraussetzung für die wahre Republik. Da ihr sie besitzt, wird es euch
leicht sein, alles zu lernen, was zu einem rechten Republikaner gehört, und es
dann auch mit aller Liebe zu eurem schönen Vaterland zu tun. Wenn wir alle fest
wollen, fleißig arbeiten, nicht nach links und nicht nach rechts sehen, sondern
geradeaus, nicht groß tun und nicht verzweifeln, dann kann unsere Republik ein
wohnliches Heim für alle werden. Dann wird sie mit Recht Republik heißen.
Legt euren Willen zur Republik als
Geburtstagsgeschenk zu ihren Füßen.
In: Neue Freie Presse, 12. November 1925, S. 14