Paul Stefan: Gustav Mahler in der Literatur

            Nicht davon soll hier gesprochen werden, daß die Gestalt eines Gustav Mahler in dem Musiker von Wassermanns „Gänsemädchen“ erkannt wurde und daß, nach anderen, sogar der Johann Christoph gewisse Züge Mahlers verraten soll; daß ein Roman „Die vierte Galerie“ den dämonischen Einfluß Mahlers auf eine jüngere Generation schilderte, und daß eines der schönsten lyrisch-hymnischen Gedichte, die Frauen je gelangen, seine fünfte Symphonie nachzugestalten versucht. Auch von den Gedichten Mahlers kann nicht die Rede sein, die er zum größten Teil selber vernichtet hat, und nicht von seinen Briefen, die, ein Schatz von Ausbrüchen und Erleuchtungen, nunmehr, soweit sie sich zunächst dazu eignen, zur Veröffentlichung vorbereitet werden (durch Frau Alma Maria Mahler bei Tal). Was für diese Blätter allein in Betracht kommt, sind die Spuren, die Mahlers Arbeit in den Studien und Schriften von Interpreten und Gegnern gezogen hat.

            Es gab eine Zeit der grenzenlosen Vereinsamung für Mahler, in der er nach einem Hörer, nach einem Menschen schrie. Er fand kaum keinen, und wer ihm auch nur ein wenig Aufmerksamkeit schenkte, persönlich oder schriftlich, wurde von ihm aufs rührendste bedankt. Darum verdienen die Steinitzer, J. B. Foerster, Batka, Seidel, Marschalk und einige andere Musiker und Schriftsteller dieser Jahre mit ihren Versuchen um die früheste Erkenntnis Mahlers noch heute unsere Beachtung. Sie sind die Vorläufer zahlreicher Aufsätze und Betrachtungen besonders von Wiener Kritikern, denen sich allmählich Autoren aller Länder und Sprachen anschlossen. Eine Sammlung von Zeitungsausschnitten über Mahler, die ich seinerzeit begann, wäre heute kaum noch von einem Privaten unterzubringen. Gar manche von diesen Aufsätzen würden es verdienen, aufbewahrt und studiert zu werden; ich erinnere allein an die von Julius Korngold, deren Sammlung verschiedentlich angeregt wurde.

            Sehr bald beschäftigten sich auch Bücher mit Mahler, zunächst kleine Schriften, wie die von Schiedermaier und des Ostpreußen E. O. Nodnagel Studie „Jenseits von Wagner und Liszt“. 1905 begegnet uns ein bekannter Name: Richard Specht gibt in der Broschürensammlung „Moderne Geister“ ein Heftchen über Mahler heraus, das die ersten Daten und ersten Erläuterungen von Werken gab. Drei Jahre später folgte eine (heute gleichfalls vergriffene) polemische Schrift von Paul Stefan: „Gustav Mahlers Erbe“, die die Summe von Mahlers Wiener Opernwirksamkeit zog und ihrem Verfasser außer Zustimmung und Widerspruch auch eine Gegenschrift (von Paul Stauber) zuzog. Abermals zwei Jahre später, 1910, gab Stefan, zum fünfzigsten Geburtstag Mahlers, „Widmungen“ von Zeitgenossen an Gustav Mahler heraus, mit Beiträgen von Gerhart Hauptmann, Bahr, Pfitzner, Bittner, Oskar Fried, Stephan Zweig, Romain Rolland und vielen anderen Künstlern, mit Rodins Mahlerbüste geschmückt; auch dieses Buch ist vergriffen. Zu gleicher Zeit erschein in dem gleichen Münchner Verlag von Reinhard Piper, einem begeisterten Verehrer Mahlers, die erste Biographie dieses Meisters von Paul Stefan, als einführende Studie gedacht. Das Buch ist wiederholt, zuletzt 1920, in immer neuer Gestalt erschienen und 1912 ins Englische übersetzt worden (1913 in Amerika verlegt); eine vorbereitete Übersetzung ins Französische vereitelte der Krieg. Auch die „Chronik der Jahre 1903 – 11“, die Stefan unter dem Titel „Das Grab in Wien“ 1913 erscheinen ließ, schildert nochmals das „Milieu“ der Mahler-Zeit.

            1913 erschien eine eingehende Würdigung des Wesens und der Werke von Specht, zunächst mit vielen Bildern, in den folgenden zahlreichen Auflagen mit bloßem Text; Specht hatte mittlerweile auch die sehr verbreiteten ausgezeichneten Analysen der einzelnen Symphonien verfaßt. An die Bücher von Specht und Stefan reihte sich bald darauf eines von Guido Adler, dem Ordinarius der Musikwissenschaft an der Wiener Universität. Adler, ein Jugendfreund Mahlers, brachte besonders neues biographisches Material bei. Artur Neißer schrieb eine kurze zusammenfassende Arbeit für Reclams Universalbibliothek.

            Abermals neue Ausblicke waren der großen Monographie von Paul Bekker („Gustav Mahlers Symphonien“) zu danken, Erweiterungen des in seiner Schrift „Die Symphonien von Beethoven bis Mahler“ in den Grundsätzen Angedeuteten. Bekkers Buch, im Frühjahr 1921 verlegt, ist vorläufig das jüngste Werk über Mahler. Bruno Walter und Friedrich Loehr, Jugendfreunde Mahlers, bereiten ein neues vor.

            Auch in fremden Sprachen ist über unsern Meister mancherlei gesagt worden, besonders Kluges von William Ritter, einem französischen Schweizer. Gelegentlich des Amsterdamer Mahler-Festes (1920) ist als Programmbuch eine schöne Studie von Doktor C. Rudolf Mengelberg in holländischer Sprache erschienen, nicht das einzige literarische Ergebnis der Mahler-Pflege in Holland: je ein Buch von Herman Rutters und von C. van Wessem beschäftigen sich mit Mahler.

            Bei alledem darf man sich nicht verhehlen, daß für Mahlers Werk und für die Erforschung seines Lebens noch allerhand Arbeit übrigbliebe, und daß insbesondere eine ausführliche Biographie einmal auf nicht geringe Schwierigkeiten treffen wird. Das Material ist groß und weithin verstreut.

            Hoffentlich gelingt die Arbeit des Sammelns dennoch irgendwie, irgendwann, irgendwem.

In: Moderne Welt, H. 7, 1921–22, S. 8-9.

Fritz Rosenfeld: Ernst Toller

Das hohe Drama der Gegenwart erhebt wie das jeder Sturmzeit mit vollem Recht Anspruch darauf, mehr zu sein wie Literatur. Georg Kaiser, der bedeutendste Dramatiker unter den Expressionisten, spricht (in seiner Vorrede zu Ywan Golls „Methusalem“) von einer Dramatat und prägt damit den bezeichnenden Ausbruch, der das Wesen unserer heutigen dramatischen Dichtung am schärfsten umreißt. Das moderne Drama will und muß aus innerer Notwendigkeit mehr sein als eine auf Buch oder Bühne eingeengte geistige Kombination. Es kann nicht daran Genüge finden, zu schildern, Probleme zu konstatieren, Themen zur Diskussion zu stellen. Es steht mitten drin im pulsenden Leben, darf daher nicht bei Kritik des Heute haltmachen, es muß Wegweiser in die Zukunft sein. Diese besonders dem Drama der Umsturzjahre, in denen Tollers Werke entstanden, eigene Tendenz erhebt über den ersten Teil aller Fortschrittsarbeit, das Niederreißen des Alten, den bedeutenderen schwereren zweiten, den Aufbau des Neuen. Es versteht sich von selbst, daß ein von derartigen Bestrebungen erfülltes Drama weder am Einzelfall haften bleiben, noch in erster Linie Formkunst sein kann. Die bewegenden Probleme der Zeit springen auf und verlangen gebieterisch noch Entfaltung. Primär ist der Stoff, sekundär die Formung. (Früher, und besonders in ruhigen, beschaulichen, ästhetisch formal gerichteten Epochen, sucht der Dichter den Stoff, um seine Gestaltungskraft zu erproben. Der Moderne hat den Stoff und sucht die Form, in die er ihn gießt, damit er, losgelöst von der eigenen Seele, die ihn aus tausend Erscheinungen der Umwelt sammelte, der Menschheit sichtbar werde.) Das heiße, explosive Erleben, in dem das Problem aufbrennt, heischt eine ebenso eruptive, elementare Form. Der Dichter kombiniert daher nicht mehr so sehr Einzelfälle, die gleichnishaft sein sollen, sondern läßt meist die kämpfenden Gewalten als solche, abstrakt, aufeinanderstoßen. Wo es sich nicht um eine zeit- und raumgebundene Einzelwirklichkeit, sondern um die letzten Fragen der Menschheit handelt, stellt sich die Abstraktion als naturnotwendig ein.

Diese Form der Erschöpfung eines Kunstwerks durch Abstrahierung konkreter Eigenerlebnisse gilt für die ersten Dramen Ernst Tollers. Ihre Entstehung ist eng mit dem Schicksal des Dichters verknüpft und ihr Problem in seiner ganzen Tiefe ohne Kenntnis des Lebensganges des Dichters kaum erfaßbar.

Ernst Toller wurde am 1. Dezember 1893 als Sohn eines Kaufmannes geboren, ging durch den militärischen geisttötenden Drill des preußischen Realgymnasiums und wird dann von Neugier und Unrast in die Welt hinausgetrieben, studiert in Frankreich, bis die Nachricht vom Kriegseinbruch ihn nach Deutschland zurückführt. Er meldet sich als Kriegsfreiwilliger, durchdrungen vom Bewußtsein der Pflicht, sein Leben und seine Kraft in den Dienst des Vaterlandes stellen zu müßen. Das bürgerlich-militärische Vaterlandsideal beherrscht ihn, wenn er auch durchaus in das Haßgeheul der chauvinistischen Tournaille nicht einstimmt. Und im Grauen des Waffenmordens, im Stöhnen der Niedergemetzelten, zwischen den Schreckbildern der Totengrippe an dem Stacheldrahtzäunen, unter den Aufschreien der geschändeten Kreatur, wächst ein neuer Mensch in Toller. Wie Schuppen fällt es von seinen Augen. Als er einen Leichenhaufen erblickt, eine schauerliche Verkrampfung französischer und deutscher Menschenopfer, da will sein Sinn nichts mehr wissen vom Waffen- und Nationalitätsunterschied, der Worten gebietet. Und er ist bis ins tiefste Gewissen erschüttert, er klagt sich in wilder Zerrissenheit als Mörder an, dessen Schuld niemals gesühnt werden kann. Als Kriegsbeschädigter kehrt er nach München zurück, ein anderer, als er zur Front furch: Ein „Rebell im Blut“. Aber die Erkenntnis der namenlosen Verbrechen, die an zahllosen Kriegsschauplätzen täglich und stündlich am Menschen geschehen, konnte sich selbst nicht genügen. Sie drängte nach Abhilfsversuchen. Die Jugend soll aufstehen, die revolutionäre Jugend allein kann dem Menschenschlachten Einhalt gebieten. Eine von utopisch-sozialistischen Ideen getragene Verschwörung wird beraten, von der deutschen revolutionären Jugend soll die Brücke zur revolutionären Jugend der „feindlichen Länder geschlagen werden. Schriften sollen verbreitet, Licht unter die im Dunkel irrende Menschheit gestrahlt werden. Aber die Schergen des deutschen Militarismus wittern die Empörung und sprengen das Häuflein selbstloser Idealisten auseinander. Toller flieht nach Berlin, wo er unter anderem mit Kurt Eisner Verbindungen anknüpft. Hier studiert er emsig, informiert sich über die Kriegsschuldfrage, erkennt das Verbrechen der Herrschenden an ihren betrogenen Untertanen. Hier wird ihm sein Weg klar, der ihn zum Proletariat führt. Anfang 1918 ist er wieder in München, nimmt am Munitionsarbeiterstreit teil und wird wegen „Landesverrats“ verhaftet. Im Militärgefängnis beginnt wieder die Arbeit an sich selbst. Der Revolutionär aus Gefühl wird revolutionärer Sozialist aus Erkenntnis. Und hier, im Kerker, entsteht sein erstes Drama, die „Wandlung“. Der Ausbruch der Revolution öffnet seine Zelle. Die Unabhängige Sozialistische Partei in München wählt ihn im März 1919 zum Vorsitzenden. Obwohl überzeugter Räterepublikaner, will er die Ausrufung der Diktatur des Proletariats verhindern, weil die Zeit dazu noch nicht reif ist. Als die Räteregierung aber eingesetzt ist und es nur mehr gilt, die revolutionären Errungenschaften zu bewahren, tritt er ihr bei. Seine Rolle war eine mäßigende, sein ganzes Streben ging dahin, Gewaltaten* zu verhüten, Todesurteile aufzuheben. Als die Revolution zusammenbrach, wurde er mit anderen vor das Münchner Standesgericht gestellt und Mitte Juli 1919 zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Er sitzt seither im Kerker der Festung Niederschönfeld, der man nicht mit Unrecht den Namen einer „bayrischen Bastille“ gegeben hat. Die größten Geister Deutschlands haben an die Machthaber der Reaktion appelliert, es war vergebens. Wie sollten auch die Befehlshaber einer Mordbande, die Vertreter eines Systems, dem Handgranaten und Gummiknüttel die einzigen Argumente sind, Verständnis haben für das Martyrium eines Künstlers, den eine unmenschliche Hand fern von der Welt und seinen Brüdern in die trostlose Enge eines dumpfen, lichtarmen Kerkers verbannt. Die Mörder sozialistischer Führer gehen frei herum und werden durch Triumphbogen geehrt. Für den Dichter, dessen einziges „Verbrechen“ es ist, sich zur Sache der Arbeiterschaft bekannt zu haben, gibt es keine Erlösung. Sie wissen, was sie tun, die Hitler und Ludendorff. Der Dichter, Mensch und Künstler schert sie nicht. Den Führer wollen sie der Waffe rauben, den Mann, dessen machtvolles Wort Ansporn und Aufruf ist. Sie lassen ihn nur durch das Buch in seine Mitwelt wirken – und auch das nur unter ihrer Kontrolle, ihrer Zensur. Nicht eine Zeile des gesamten Kunstwerts Ernst Tollers ist außerhalb des Kerkers niedergeschrieben. Das wird, wenn die Schmutzwelle der Reaktion verebbt sein wird, die Kerkermeister Ernst Tollers richten, die idiotischen Krautjunker, denen die berühmtesten Dichter Deutschlands nicht einen Tag abringen konnten, an dem es Toller ermöglicht wäre, einer Aufführung eines seiner Dramen beizuwohnen. Was wissen, was ahnen sie von der Qual eines Künstlers, dessen Nächte von Geschichten erfüllt sind und der die Fleischwerdung seines Traumes nicht erleben darf, weil die Rotte hirn- und herzloser, stumpfsinniger Büttel der Großindustrie seinen Kerker nicht für ein paar Stunden öffnen will. So bleibt ihm nur das Schaffen, der unermüdliche Aufruf seiner Brüder. Rastlos ist er am Werk, sendet Buch um Buch in die Welt, um den Muttergrund aufzuackern, auf den dereinst das Saatkorn der befreienden Tat fallen soll.

Millionen Menschen haben in ihrer Seele den Umschwung vom patriotischen Hochgefühl, von Nationalhaß und Kriegsbegeisterung zur Erkenntnis des Kriegsverbrechens, zur übernationalen Menschenliebe und zum Pazifismus durchgemacht. Ernst Toller, der diese Umkehr der verirrten und verführten Bestie zum Menschen intensiver erlebte als je einer, konnte sie formen, prägnanter und deutlicher als die anderen Dichter. Er mußte, wollte er die „Wandlung“ zeigen, die sich in Millionen Menschenherzen vollzog, nur an Stelle der konkreten Gegenkräfte, mit denen er rang, das letzte nackte Wesen, das Abstrakte, setzen. Wie der Dichter nur einer unter Millionen ist, die überwältigt und durchwühlt ein Gleiches erleben, so ist auch der Held sein einmaliger Mensch, nur Träger Wandlung. Er darf deshalb in Variationen auftreten, wie die Unzähligen verschiedene Gestalt hatten, an denen die gleiche Wandlung geschah. Kein Einzelfall rollt ab, gewaltiges, stürmendes Zeitgeschehen erfüllt das Drama. Daher der hinreißende Pulsschlag, daher die weiten Horizonte. Ein Wortspiel, das in seiner grausigen Genialität einzig dasteht, umreißt die seelische Grundlage, auf der das Problem wächst und zeigt die Gewalten, deren Überwindung Inhalt des Dramas ist. Das Drama selbst ist ein Wechsel von realen und überrealen Szenen, von Szenen, die zwischen dem Helden und anderen Menschen, und traumferne Geschichte, die in der Seele des Helden selbst spielen. Mit kühnem Griff ist das Wesen des Problems zu höchster Deutlichkeit erhoben. Die Wandlung vom verlogenen Ideal der Vaterlandsliebe zu dem reinen der Menschlichkeitsliebe ist ja kein Konflikt zwischen zwei, sondern in einem Menschen. Der Held ist nicht so sehr Kämpfer wie Schauplatz des Kampfes. Die in ihm ringenden Mächte, das absterbende bürgerliche Nationalgefühl und das fliegende proletarisch-revolutionäre internationale Menschheitsgefühl, müssen nach außen projiziert und in Gestalten aus der Umwelt, die nur Verkleidungen des Abstrakten sind, verkörpert werden. So ist das Drama mit seinen Geschehnissen zwischen verschiedenen Personen nur der Spiegel der unerklärt gewaltigen Ereignisse in der Seele eines Menschen, des Menschen schlechthin, der, aus dem Irrsinnstaumel des Weltblutbades mit schaudernden Sinnen erwacht, die Statue des „siegreichen Vaterlandes“, die er schaffen wollte, zertrümmert (wie kristallklar und eindrucksstark ist dieses Symbol) und die Welt nun mit anderen Augen betrachtet. Er hatte sehen müssen, wie wahnsinnig die Lebenskraft der Menschheit im Kampf gegeneinander vergeudet wird, statt daß sie im Kampf für- und miteinander nutzbringend, mühebringend und schmerzlindernd wirkte. Er hatte erkannt, daß über dem Vaterland die Menschheit steht, und er hatte, Ernst Toller, der Dichter, Friedrich, der Held der „Wandlung“, den größten Teil der Menschlichkeit, das Proletariat, von falschen Schlagworten verführt, vom Gift des Militarismus planmäßig durch eine habgierige Bourgeoisie verscheucht, und von eben derselben Bourgeoisie, die die Arbeiterschaft so freigiebig mit „Idealen“ belieferte, wirtschaftlich, geknechtet gefunden. Nationalhaß wird Klassenhaß, Nationalliebe Klassenliebe. Aber der Mensch, der in unsagbarem, inneren Zerrissensein diese Wandlung erfuhr, darf nicht schweigen, nicht die neue Erkenntnis für sich behalten, er muß unter die Brüder hinausgehen und die Botschaft verkünden, die große Botschaft von der Rückkehr zum Menschen. In grandioser Steigerung baut Toller im letzten Bild der „Wandlung“ diese Rede auf, dieses Manifest an die Menschheit, endlich den Schutt von Unlust und Gram, Verbitterung, Elend, Haß und Neid, die den Geist ersticken, wegzuschaufeln, den Geist, den geschändeten unter Kommissstiefeln zertretenen und von Offiziersschranzen verhöhnten Geist zu befreien. In seinem Zeichen soll der Kampf gegen die Unterdrücker beginnen, das Ringen ums Licht, die Abschüttelung des Vampirs Kapital. Romain Rolland hat in seinem „Clerambalt“ dieselbe Wandlung gestaltet, aber mit tragischem Ausgang, weil dem großen französischen Dichter mit seinem schärferen Zukunftsbild die Dinge nicht so zuversichtlich erschienen, wie dem jungen Toller, der in diesem, dem aufwühlendsten Werk der Revolutionszeit nicht nur eine befreiende Beichte ablegte, sondern ekstatisch zukunftssicher ein neues Evangelium der zerrütteten, zermalmten, nach Erlösung lechzenden Menschheit verkündete.

Im Zeichen des Geistes sollte die Erhebung gegen Kapital und seinen Trabanten Militarismus geschehen – die Revolution kam, und ging nicht ohne Blutvergießen, ohne Menschenmord ab. Toller selbst steht in ihrem Zentrum. Wirklichkeit und früheres Phantasiebild wollen nicht übereinstimmen. Bei dem Gegensatz zwischen der Notwendigkeit des Augenblicks, der Blut forderte, und der utopisch-pazifistischen Erneuerungsabsicht von ehedem wächst ein Konflikt, der Tollers Seele tief durchwühlt. Revolution und Evolution stehen gegeneinander. Ohne Gewalt und ohne Wort sollte der Aufstieg des Proletariats erfolgen. Jetzt ballen sich ringsum Gefahren, denen man nur mit der blanken Waffe begegnen kann. Wild, zerstörend mag dieses Ringen im Dichter gewesen sein. Als die Revolution verflammt, der Befreiungsversuch niedergeschlagen und der Dichter eingekerkert war, beherrscht ihn dieses Problem so stark, daß er es zweimal formt, in der „Waffe Mensch“, in den „Maschinenstürmern“. „Waffe Mensch“, dem Stil nach der „Wandlung“ sehr ähnlich, Traumszenen und Realität vermengend, gestaltet die Tragödie des Individuums, des geistigen idealistischen Menschen, der im reinen Streben, der gefesselten Arbeiterschaft zu helfen, einen Streit anzettelt, die Erhebung vorbereitet und schürt, aber in dem Augenblick, da die Empörung Blut fordert, Einhalt gebietet und nun von der vorwärtsstürmenden Waffe als Hindernis empfunden wird. Der Befreiungsversuch des einzelnen, hier eines Intellektuellen, hat die Lawine ins Rollen gebracht, die nun unaufhaltsam niederbricht und die Ursache des Ausbruchs angestauter Kräfte, den einzelnen,  unter sich begräbt, einfach, weil er im Wege steht. Aus dem Streit wird Aufruhr, aus dem gütlichen Begehren nach Wohlfahrt für alle wird Kampf mit blutiger Waffe. Hier muß der Einzelmensch sich der losgeketteten Urmacht entgegenwerfen. Als Anstifterin des Aufstandes verhaftet, könnte die Intellektuelle von der Waffe befreit werden, sie lehnt es aber ab. Denn auch sie hat eine Wandlung durchgemacht. Sie hat erkannt, daß das noch so edle utopische Streben des einzelnen die Waffe nicht zur Befreiung führen kann. Auch die Waffe findet hier ihr Golgatha, erlebt ihre Tragödie; überwältigt vom Erlebnis „Revolution“, fortgerissen und gebannt von den Gewalten, die aus ihr brechen, tötet sie die, die ihr Gutes wollten. Da die Wut, die Brandung der Empörung abgeflaut ist, erkennt die Waffe, im „Namenlosen“ personifiziert, das sittlich-hohe Wollen des Individuums, das sich Blut und Waffen widersetzte, weil das die Machtmittel eben jener Gesellschaftsordnung sind, die überwunden werden soll. In dem Ausspruch des Namenlosen: „Du lebst zu früh“, liegt die Perspektive auf die Lösung des Problems, auf die Zeit, in der der Aufstieg des Proletariats ohne Bajonett und Kanone aus Furcht der Entwicklung sich ereignen wird.

Hier ist die Tragödie der Waffe und die des Individuums im unmittelbaren Eindruck der Revolution als Ringen der Prinzipien, als Aufeinanderrasen der abstrakten Kräfte geformt, wieder in Abwehr vor allem Gebunden und Einmaligen, wieder im Aufstieg ins Zeit- und Raumlose. Der Mikrokosmus des Dramas ist nichts als eine Sichtbarwerdung seelischer Vorgänge, die sich abertausendmal abgespielt haben mögen.

In den „Maschinenstürmern“ ist das Problem Revolution-Evolution im Gewand des Ludditenaufstandes aus dem England des Jahres 1815 nochmals gestaltet. Die Linienführung ist hier die denkbar einfachste, alles Phantastische ausgeschaltet, so daß sich ein Monumentalaufbau ergibt, der von der ersten bis zur letzten Szene das Interesse bei sorgfältiger Verteilung der Spannungselemente in ansteigender Richtung erhält. Ungeheuer deutlich die Explosion, die Sitzung im englischen Oberhaus. Die durch Aufkommen mechanischer Webstühle verschlechterte Lage der Arbeiterschaft ist Gegenstand der Debatte, in der die Weltanschauung der Parteien scharf gekennzeichnet wird. Das heuchlerische, egoistische, „Die Armut ist ein gottgewolltes, ewiges Gesetz“ des Geldsacks und der Ruf des einzigen Arbeiterfreundes, Lord Byrons: „Natur will, daß alle leben“. In knappen Bildern wird die furchtbare Lage der Arbeiterschaft erschütternd geschildert, ein Märchen vom „Immerelend“ und „Sorgenlos“ hält die sozialen Gegensätze mit elementarer Prägnanz fest. Die zwei Prinzipien gewaltsamer Selbsthilfe und langsamen Reifens geraten aneinander, der Apostel, der, weiterbildend als die im Ausbruch der Erbitterung erblindete Waffe, die Erlösung nicht im gewaltsamen Umsturz, sondern im Zusammenschluß der Werktätigen aller Länder sieht, wird überhöht und erschlagen. Die Gewalt triumphiert, aber ihr Erfolg ist Blendwerk, ist Erfüllung für den Augenblick. Denn es ist nur die eine Maschine zerstört, und nicht das System gebrochen. Im Rasen der Empörung den großen Zusammenhang vergessen und in der vorübergehenden Lösung eines örtlichen Konfliktes Genüge finden, das ist die Tragödie der Waffe, die Tragödie der Revolution.

Wie Rolland in der gigantischen Sinfonie seines Werkes ein heiteres Intermezzo einfügt, dein „Meister“, so unterbricht Toller die Reihe der Zeittragödien durch ein galantes Puppenspiel, die „Rache des verhöhnten Liebhabers“, in dem er eine Novelle Bandellos dramatisiert hat, eine derb-fröhliche Geschichte vom geprellten Ehemann, der selbst mitlacht, weil er einen anderen für den Betrogenen hält. Aber des Dichters Sinn will nicht bei Scherz und Liebesgetändel verweilen. Aus dem Venedig des sechzehnten Jahrhunderts eilt er zurück in unsere Schreckenszeit und schafft im „Hinkemann“ die düsterste, verbittertste und erschütterndste Tragödie der letzten Jahre. Es ist die Lebenstragödie des Kriegskrüppels, das Martyrium des Menschen, der für Gott, Kaiser und Vaterland ins Feld gejagt wurde, entmannt zurückkehrt und nun, neben der Qual im Verhältnis zu seinem jungen, lebenslustigen Weib noch den brutalen Sohn einer völlig entmenschten Umwelt erleben muß. Diese Kriegskrüppeltragödie, deren Tragik nicht darin liegt, daß ein Mensch zugrunde geht, sondern wie er zugrunde geht, ist aber nur der Anlaß, das scheußliche Antlitz unserer Zeit zu enthüllen, die Geilheit und Unmenschlichkeit einer Epoche darzustellen, die aus dem Delirium des Weltkrieges nichts gelernt hat, auf dem Blutweg weitereilt und zum Gipfel menschlicher Brutalität gelangt: die „unter Gelächter mordet“. Im höllischen Taumel dieser Dämonen ist der Mensch, der eine Seele sein eigen nennt, zum Leid verdammt; leben kann nur, wer der Vernichtung von Gefühl und Gewissen, die unsere Zeit systematisch vornimmt, seinen Widerstand entgegensetzt. Hinkemann, die „elementarische Seele“, muß in dieser Welt des Schreckens und Gelächters verderben, weil man ihm die Kraft zum Ideal geraubt hat, und „wer keine Kraft zum Traum hat, hat keine Kraft zum Leben“. Hier ist wohl der letzte und stärkste Ausdruck für das Wesen unserer Zeit gefunden. Nicht mehr zwei Willen stoßen aufeinander, sondern zwei Existenzen. Gut und Böse, Ohnmacht und Brutalität, Mensch und Bestie stehen einander gegenüber. Darum leidet der Held nur, darum handelt er nicht. Sein Dasein in dieser Welt bedingt schon seine Tragödie. Jede Auflehnung würde die Katastrophe beschleunigen, statt sie zu verhindern. Dieses Drama ist von so plastischer Deutlichkeit, daß jeder Mensch Sinnbild wird, jeder Satz Allgemeingültigkeit erhält. Es wächst so weit über die Gattung „Drama“, daß es den ganzen grasen Inhalt einer scheußlich grausen Zeit restlos zu fassen vermag. Wenn je Kunst das Gewissen der Menschheit war, so ist es hier.

Tollers Dramen sind ein Abbild der Bewußtseinswandlung seit 1918, der großen seelischen Vorgänge. Im ersten Stück der ekstatische Pazifismus, die schwärmerische Allmenschenliebe und der Hymnus auf die rote Zukunft. In den folgenden beiden der Revolutionsskeptizismus, Ernüchterung, ja Enttäuschung. Im „Hinkemann“ die letzte Vernichtung des Menschentums, das 1919 so herrlich aufflammte. Hier aber werden die Gewalten schon zu Höllenfratzen, hier sind sie Ungetüme, deren Scheußlichkeit nicht mehr von dieser Welt zu sein scheint. „Hinkemann“ hielt dem Deutschland der Nachkriegszeit den Spiegel vor und ist ein Trauerspiel. Die letzte Abrechnung  mit dem geblähten neumilitaristischen, nationalistischen Deutschland, „Der entfesselte Wotan“ ist eine Komödie. Ein Werk, das die Gestalten abzeichnet, die heute auf der politischen Bühne Deutschlands agieren, muß zur Posse werden. Ernst zu nehmen sind ja die völkischen Maulhelden nicht, die Phrasenjongleure, deren Reden von Kriegsbegeisterung überließen und die beim ersten Schuß auf den Bauch fallen und sich angstschlotternd tot stellen. Es ist nötig, den Hausierern mit abgebrauchten Lügenidealen ihre Erbärmlichkeit und Lächerlichkeit zu beweisen. Aber diese Auseinandersetzung kann nicht tragisch enden. Tragisch wurde der Welt eine Gestalt wie Wilhelm der Letzte, dessen Lieblingsgebärde durch dieses Stück geistert; er hatte die Macht, er wußte was er wollte, er war gefährlich. Die Wortführer von heute, die ihn kopieren, sind lächerlich, weil ihre Gewalt ein Phantasiegebilde ist, wie die brasilianische Farm in Tollers Komödie. In einer anspruchslosen, aber geistreichen Handlung wird nun hier das nationalistische Deutschland von heute verspottet. Mit Sternheimscher Schärfe sind die Gestalten gezeichnet, die schnoddrigen, selbstgefälligen, beschränkten, sensationslüsternen, geldgierigen Bierbankspießer, die abgetakelten Generale, die in teutschen Idealen machen, der schwammige Merkantilgeist, das Krämertum, die ach so gefühlstiefen himmelblauen adeligen Fräuleins. Um ein Hirngespinst, ein Gut in Brasilien, dreht sich die Bosse, um ein großzügiges Unternehmen, dessen Anbeginn und Ende die Ausplünderung dummer, den Schlagworten aufsitzender Philister ist. Als alles zusammenkracht und der Schwindler Wotan ins Gefängnis muß, wird ihm versichert, daß ihm nichts geschehen wird. Treuteutsche Richter werden dem [recte: den] treuteutschen Mann nicht unsanft behandeln. Er wird, wie Wilhelm der Wahnsinnige, seine Memoiren schreiben, ein unverstandener Erlöser, er hat noch eine Mission, sein Volk aufzurufen, und dieses Volk hat die Mission, Europa, ja die Welt zu retten, denn es ist der einzige berufene Schützer der Kultur, der Menschlichkeit, der Zivilisation. Es hat sich ja nie, niemals an seinen Dichtern vergangen und nie aus dem Leben reiner, unschuldiger Menschen mit teuflischer Faust fünf Jahre einfach weggestrichen.

Wenn auch Ernst Toller vor allem Dramatiker ist, darf man den Lyriker Toller nicht vergessen. Seine Dramen haben dieselbe Rhythmik und Melodie wie seine Gedichte, die knappe, markige Sprache, die Prägung des Ausdrucks, und die Chorwerke Tollers, der Karl Liebknecht geweihte „Tag des Proletariats“ und das „Requiem den gemordeten Brüdern“, das dem Andenken Gustav Landbauers gewidmet ist, sind ja ein Mittelding zwischen Lyrik und Drama, sie haben den Empfindungsüberschwang des lyrischen Gedichts, in Dialog und Waffengespräch ausgelöst, in Explosionen gegeneinandergestellt. Der Sonettenband „Gedichte der Gefangenen“ zeigt in ergreifender Einfachheit die Stimmung Tollers in der Kerkerzeit, die bohrenden Gefühle der Einsamkeit während draußen ein ungestümes Leben vorwärtseilt, in dem der der* Dichter einen Platz auszufüllen hätte. Es stehen hier ein paar Gedichte, die nicht nur zum Größten zählen, was Toller schuf, sondern zum Reinsten, Tiefsten und Erhabensten der modernen Lyrik überhaupt. Tollers letzte Veröffentlichung ist das „Schwalbenbuch“, eine Reihe von Gedichten, die ihm übersommern einen Schwalbenpaares in seiner Zelle eingab. Wer nur wenig empfänglich ist für die Melodie des Mitleids, muß durch diese volkliedhaft-schlichten Gesänge eines Einsamen und doch unermeßlich Reichen, bis in die tiefste Seele durchwühlt werden.

Was uns den gefangenen Dichter so nahebringt, was uns so eng mit ihm verknüpft, ist, daß seine Probleme Probleme der Waffe, Zeithemen, Gegenwartsfragen sind, daß er die ästhetisierenden Tüfteleien und die komplizierte Psychologie angeblich bedeutender Einzelfälle meidet. Seine Welt ist die proletarische Welt, ist die Welt der Waffe. Darum muß er mit anderen Maßstäben gemessen werden, mit neuen Maßstäben. Die bürgerliche Kritik hat an ihm manches auszusetzen, sie kommt mit formal-ästhetischen Gesichtspunkten und stellt die alten Parallelen auf. Gewiß, so mancher Dichter hat auf Toller starken Einfluß genommen. Vor allem Büchner, dessen „Dantons Tod“ dem Problem der „Waffe Mensch“ nahesteht und dessen „Woyzek“ im “Hinkemann“ starke Spuren hinterlassen hat. Aber was beweist es gegen Toller, daß in den „Maschinenstürmern“ die Betrunkenenszene und das Märchen an „Woyczek“* erinnert? Was ist alle Formkunst gegen den Inhalt, gegen das Leben, das hier pulst, und das unser Leben ist! Sie, die ihn einkerkern, können ihn auch nicht verstehen. Aber weder durch gehässige Kritik noch durch körperliche Fessel können sie ihn töten. Sie könnten ihn uns rauben, konnten ihn fünf Jahre von uns trennen. Die fünf Jahre sind um. Wir grüßen ihn, Ernst Toller, unseren Dichter!

Die Werke Ernst Tollers: „Die Wandlung“, „Waffe Mensch“, „Hinkemann“, „Der entfesselte Wotan“, „Das Schwalbenbuch“ (Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdam), „Die Maschinenstürmer“ (Verlag E. P. Tal, Wien,) „Gedichte der Gefangenen“ (Kurt Wolffs-Verlag, München), „Die Rache des verhöhnten Liebhabers“ (Paul Cassirer-Verlag, Berlin,) „Der Tag des Proletariats“ und „Requiem den gemordeten Brüdern“ (Verlagsgesellschaft „Freiheit“, Berlin).

In: Der Kampf 17 (1924), H. 7, S. 293-297.

Fritz Rosenfeld: In den Tiefen der Erde V.

  • Franz Jung: „Die Eroberung der Maschinen.“ Malik-Verlag, Berlin.
  • Hermynia Zur Mühlen: „Licht.“ See-Verlag, Konstanz.
  • Concha Espina: „Das Metall der Tote.“ Verlag W. B. Mörlin, Berlin.
  • Hans Kaltneker: „Das Bergwerk.“ Donau-Verlag, Leipzig und Wien.

Franz Jungs unter Bergarbeitern spielender Romans „Die Eroberung der Maschinen“ ist in Stil und Inhalt gleich eigenartig. In kurzen, abgehackten Sätzen wird eine recht unklare Geschichte erzählt, die keine handelnden Einzelpersonen hat. Die Masse ist Trägerin des Geschehens. Eine derartige Gestaltung ließe sich wohl durchführen, wenn die Willensäußerung der agierenden Menge in Bildern gezeigt würde. Durch die ganz unbildhaften trockenen Berichte von Vorgängen wird der Roman aber farblos und eindrucksarm, entfernt sich vom Kunstwerk zur theoretischen Abhandlung. Will ein Dichter seine Gedanken in einem Roman vorbringen, so kann er nicht darüber hinweg, sie in Handlung umzusetzen. Er muß Vorgänge erfinden, die die Einbildungskraft des Lesers anregen, die dieser sich „vor“zustellen vermag. Abstrahiert der Autor aber von jedem vorstellbaren Geschehnis, bringt er nur den sachlichen Extrakt des Ereignisses in der Art einer Zeitungsnotiz: Das und das ist da und dort geschehen, so ergibt sich ein auf gemeinverständliche Basis gestellter theoretisches Buch, das an sich ganz interessant sein mag, aber ein Unding wird, wenn es den Titel „Roman“ beansprucht. Die wenigen Vorgänge, die das innere Geschehen des Romans verdeutlichen sollen, sind aneinandergereihte Belanglosigkeiten, nüchterne Tatsachenfeststellungen. Dichtung ist ganz etwas anders. Auch der Stil des Buches ist, wie der aller Werke Jungs, ungenießbar. Explosive, geballte Sätze, sind als Ausdruck der Hast unseres Erlebens in der Literatur unserer Tage längst heimisch geworden. Aber keine Sprachballung entschuldigt es, daß ein Arbeiter (nicht in Dialektnachahmung, sondern in der Erzählung des Autors), „auf Arbeit“ geht. Neben falschen Telegrammsätzen stehen dann wieder lange, schlecht gebaute, unverständliche Perioden, die das Lesen des Buches zur Qual machen.

            Ohne jedes Sprach- oder Gestaltungsexperiment hat die treffliche Sinclair-Übersetzerin Hermynia Zur Mühlen einen Bergarbeiterroman „Licht“ geschrieben., der (wohl vom Standpunkt des Kommunismus) das Problem der Bewußtseinserweckung des Proletariers behandelt. Mit erstaunlicher dichterischer Kraft führt Hermynia Zur Mühlen ihr Thema durch, belebt sie den Gang der Handlung durch viele Episoden, die oft tiefmenschlich gefühlte, an sich runde Einzelbilder von Proletarierschicksalen bieten. Der Einfluß des großen amerikanischen Schriftstellers, den sie verdeutscht, erweist sich vor allem in dem stark positiven Zug ihres Werkes. Sinclair war ja einer der ersten, die mit dem sozialen Roman älteren Schlages, bei dem der Aufruhr stets mit der blanken Waffe niedergeworfen wird, aufräumten und in der richtigen Erkenntnis, daß es zweideutig ist, die Sieghaftigkeit der Die durch physische Gewalt scheinbar abzuschwächen, den zuversichtlichen Ausgang an Stelle der Niederlage zu setzen. Die Dichterin bringt wohl (das bedingt die Wahl des Themas) inhaltlich nichts Neues, aber sie formt den bekannten Stoff in schlichter, markiger Sprache.

            In eine uns neue, mit Naturwundern gesegnete, aber von der Profitgier der besitzenden Klasse zur Hölle gewandelte Welt führt uns die spanische Dichterin Concha Espina in ihrem Roman „Das Metall der Toten“. Die Handlung des Werkes verbindet erfundene Liebesverwicklungen und Eifersuchtstragödien mit historischen Geschehnissen. Diese sind: Ursachen, Entstehung und Verlauf einer Erhebung gegen die Ausbeutergesellschaft. Der groß angelegte Streik führt zwar nicht zum Sieg, endet aber mit der Auswanderung der Bergsklaven, die es vorziehen, in der Fremde ihr Bort zu verdienen, als in der Heimat für fremde Herren (die Kupferminen von Riotinto in Südspanien, die der Schauplatz des Romans sind, gehören englischen und deutschen Gesellschaften) zu roboten. Die gewaltige Summe aus erdichteten und tatsächlichen Begebenheiten ist aber letzten Endes nur der Anlaß zur Entfaltung eines Stils, der durch die gewiß nicht unbedeutenden Hemmungen der Übersetzung hindurch seine Eigenart und seinen Reiz bewahrt. Als Ganzes genommen trägt das Werk wohl alles an sich, was Dichtung geben kann: Beschreibung, Handlung, Menschenzeichnung, Problemgestaltung. Die knappen, gehaltreichen Schilderungen des Landes erinnern zuweilen an Martin Andersen Nexös „Sonnentage“, haben aber vor der Reisebeschreibung des dänischen Arbeiterdichters von Vorzug voraus, daß eine Einheimische hier spricht, die nicht nur das äußere Bild, sondern vor allem die Seele des Landes sieht. Und diese Milieuzeichnung ist für uns von größter Wichtigkeit, weil wir nur von ihr aus so manchen Charakterzug der Personen, so manches Geschehnis verstehen können. Der Stolz, eine Eigenschaft, die für das spanische Volk längst sprichwörtlich geworden, ist eine günstige Grundlage für die Ausbreitung der revolutionären Befreiungsideen, das südländische Temperament aber treibt gleichzeitig zum Extrem, zum unbedachten Drauflosschlagen, zur Gewalt, führt den spanischen Proletarier leicht ins kommunistische Lager. Von der radikalen Seite sind die Vorgänge gesehen und geschildert. Seitenhiebe auf die Sozialisten finden hier ihre Begründung. Neben dieser Neigung zum brutalen Radikalismus läuft eine religiöse Inbrunst und Hingabe, ein uns ganz fremder Fanatismus, der seine Ursachen in der jahrhundertelangen Pfaffenherrschaft hat, der aber den Arbeiter nicht im mindesten von seiner revolutionär-klassenbewußten Gesinnung abhält. Kommunistische Überzeugung und religiöser Fanatismus gehen hier Hand in Hand. Die Schilderung dieser durchaus wahren, wirklichkeitsgetreu gesehenen Verhältnisse erfordert eingehende, aufmerksame Lektüre. Zu diesen interessanten Charakterzügen, die das ganze Volk betreffen, kommt die Lebendigkeit der vorgeführten Einzelmenschen, deren Gestaltung durch und durch auf das Seelische eingestellt ist. Leidenschaften flammen auf, Versuchungen werden überwunden, die Eifersucht reißt zu Verbrechen hin, Menschenherzen verbluten. Hunger und Liebe, die beiden Urkräfte allen menschlichen Handelns, bestimmen Gefühl und Tat dieser unverbrauchten, unvergifteten Elementarmenschen, die mir ihrem fieberhaften Wechsel von Glücksekstase und Verzweiflung, Liebe und Haß, Begeisterung und Ernüchterung, zähe Vorkämpfer im Ringen um ihr Menschenrecht werden, wenn das Saatkorn der Aufklärung in ihre Seele gelangt ist. Als Hintergrund der Vorgänge entrollen sich Bilder von schauriger Farbenpracht, wird eine Landschaft gezeigt, die in ihrem romantischen Zauber, ihrer unirdischen Schönheit dem Wesen der Menschen, die sie bewohnen, entspricht.

            Ein Drama „Das Bergwerk“ des jüngst verstorbenen Wieners Hans Kaltneker, das anläßlich der tausendsten Wiener Arbeitervorstellung aufgeführt wurde, läßt sich in seinen Motiven auf mannigfache Vorbilder zurückverfolgen. Es ist nicht anzunehmen, daß der Dichter die lange Reihe von Bergarbeiterromanen, die wir hier durchbesprochen haben, kannte. Die frapante Ähnlichkeit mit Jansons „Im Dunkel“, Sinclairs „König Kohle“ und della Grazies „Schlagende Wetter“ erklärt sich aus der geringen Zahl von Möglichkeiten, die der Bergarbeiterberuf dem gestaltenden Künstler bietet. Wenn es sich um ein Drama handelt, engt sich der Kreis der Situationen von selbst auf die wenigen dramatisch brauchbaren ein: die Frauen harren beim Schachteingang verzweifelt der verschütteten Männer und fordern Öffnung der Grube. Oder: die eingeschlossenen Arbeiter werden vor Hunger zum Tier, schänden im Ansturm des Selbsterhaltungstriebes ihr Menschentum. Der Grundgedanke dieses Dramas klingt an Tollers „Masse Mensch“ an. Das Individuum entfesselt den Aufruhr und schreckt dann vor der Tat zurück, wird als Hindernis empfunden und deshalb beseitigt. Der heiße Atem tiefer Menschlichkeit, der uns aus dem Werk entgegenschlägt, verscheucht jedoch die Erinnerungen an formale und inhaltliche Vorbilder. Ein Dichter, den der Tod nur allzufrüh dahinraffte, hat eine Dichtung geschaffen, die als Drama viele technische Fehler aufweist, aber des ehrlichen und kraftvoll begeisterten Willens halber, der in ihr ist, nicht vergessen werden darf.

In: Bildungsarbeit, Nr. 7/8, 1922, S. 66-67.

Edwin Rollett: Artur Schnitzler

            Es ist nicht die Zugehörigkeit zu einer literarischen Partei oder Schule, die dazu veranlaßt, heute an Artur Schnitzlers 60. Geburtstag mit jener Achtung zu erinnern, die ein arbeits- und erfolgreiches Menschenleben beanspruchen darf. Er gehört in keine Gruppe, ist Individuum, Einzelerscheinung, Spezialität und war auch nie etwas anders. Trotz seines Ranges in der zeitgenössischen Literatur war er nie einer der Bannerträger, die ihren eigenen Ruhm laut in die Welt posaunen und, um ihm größeren Nachdruck zu verleihen, eine Schar von Nachahmern an sich anschließen. Selbst als Junge, Aufstrebender zählte er keiner Schule zu.

            Von den Naturalisten, seinen Altersgenossen, hat der junge Schnitzler wohl einiges angenommen. Manche ihrer Programmpunkte mußten ihm als naturwissenschaftlich gebildetem Arzt und Arztessohn entweder im Blute sitzen oder, wenn sie von außen kamen, besonders nahegehen. Aber er blieb doch dieser Richtung gegenüber immer in Reserve. Eine Landschaft in einer Schnitzlerschen Dichtung gehört zu den Seltenheiten, und spielt sie einmal hinein wie im „Weiten Land“, so ist sie durch das Auge des Hochtouristen gesehen, dem der Nervenkitzel des Kletterwegs mehr zählt als die Fernsicht vom Gipfel. Auch Gestalten aus dem Volke, wie der blinde Geronimo und sein Bruder, sind wohl größtenteils vom Standpunkte dessen betrachtet, der im Wagen an ihnen vorüberfährt. Ebenso kann Schnitzler den Schattenseiten des Lebens nichts abgewinnen. Die Dämmerung lockt ihn mehr. Für Häßlichkeit vollends empfindet er nicht die geringste Vorliebe – gerade das Gegenteil. Grazie, Schönheit, Gleichgewicht sind ihm auch für die Formung des kranken Zustandes unerläßliche Erfordernisse. Es gibt sozusagen salonfähige oder poetische Krankheiten und nur für solche scheinen Schnitzlers Gestalten empfänglich zu sein. Dabei taucht auch immer wieder ein merkwürdiges Verständnis auf, etwa für das Mädchen, das angesichts des kranken Geliebten Abscheu, für die Tochter, die vor der Pflege der todkranken Mutter Ekel empfindet. Und tritt der Tod – in den melancholischen Dichtungen Schnitzlers ein sehr häufiger Gast – in seiner ganzen Unerbittlichkeit in den anmutigen Reigen seiner Gestalten, so weiß auch er sich stets wohlgesittet zu benehmen. Ein Dolchstoß, ein Giftbecher, ein Schlaganfall, ein Sturz vom Pferde oder ein Pistolenschuß ritterlicher Ehrenrettung.

            Auch den sozialen Problemen ist Schnitzler meistens aus dem Wege gegangen. An manchen Stellen in „Freiwild“, in der „Hirtenflöte“, in der „Liebelei“ klingen wohl verwandte Töne mit, verstummen aber sehr rasch wieder. Selbst in „Professor Bernhardi“, der am stärksten auf diese Seite zuneigt, ist das soziale Element nicht Thema. Und Schnitzlers personenreichstes und vielleicht persönlichstes Werk, der Roman „Der Weg ins Freie“, bringt die politischen Anklänge, wie Fremdkörper in eine psychologische Novelle eingefaßt, nur nebenbei. So kann es denn begegnen, daß Dichtungen, die scheinbar eine Tendenz beinhalten, wie „Märchen“, „Freiwild“ oder „Das Vermächtnis“, eigentlich deren zwei in sich bergen. Nur im „Leutnant Gustl“ ist die einzige angeschlagene Linie nicht verlassen. Fraglich bleibt es bei diesem vielumstrittenen Werke allerdings, ob der Autor auf die darin liegende Tendenz besonders Gewicht gelegt, ob ihn nicht ausschließlich die interessante Situation dazu getrieben, „zu fassen, zu formen, zu bewahren“. Der Wert dieser außergewöhnlichen Seelenstudie liegt natürlich in keinem versteckten Hintergedanken, sondern ausschließlich in ihrer Psychologie und ihrer Form.

            Das gilt nicht nur für sie allein. Das ganze Schaffen Schnitzlers kann aus diesen zwei Perspektiven am deutlichsten und richtigsten betrachtet werden. Ein Psychologe ersten Ranges mit ungewöhnlich feinem Organ für die subtilen Vorgänge des Seelenlebens spricht aus allen seinen Werken. Ein Forscher, den die unscheinbaren und bedeutungslosen Vorgänge ebenso, ja mehr reizen als die augenfälligen. Psychologische Kleinkunst sind die sieben Erlebnisse des „Anatol-Zyklus“; Fein beobachtete und exakt analysierte Symptome eines Falles, manchmal bis zur Alltäglichkeit unbedeutend. Und doch präpariert die sorgsame Dichterhand trefflich das Edelmetall des psychologischen Gehaltes heraus. Lieber noch sind ihm freilich die Aparten, ungewöhnlichen, überraschenden Verknotungen des inneren Erlebnisses. Das blinde Mädchen, das eine Erinnerung an entschwundenes Glück in den Tod jagt, die Virtuosin der Verstellungskunst, die gerade durch das Schwinden jeder Gefahr zum Geständnis getrieben wird, das sind typische Beispiele von Schnitzlers Lieblingsstoffen. Daneben zieht ihn das Gebiet der unklaren Seelenzustände mit großer Macht an. Ja selbst der hypnotische Schlafzustand ist mit in das Gesichtsfeld einbezogen, und einmal gelangt der Dichter sogar bis in die Gefilde der Magie und schwarzen Kunst.

            Mit der Vorliebe Schnitzlers für solche Dämmerzustände und seiner alles umfassenden Zweifelsucht, die den Tod als einzige und letzte Wahrheit bestehen läßt, hängt es wohl zusammen, daß viele seiner psychologischen Knoten nicht zur Gänze gelöst oder mit einem kühnen Schwerthieb zerhauen werden, sondern daß er lieber, wo das Gewirre nicht mit zarten Händen zu lösen geht, melancholisch lächelnd einen ungelösten Rest zurückläßt. Besonders in seinem Roman findet doch eigentlich keine der suchenden Gestalten den „Weg ins Freie“ wirklich. Und das „Zwischenspiel“, dieses Scherzo mit melancholischen Unterstimmen, bringt seine Personen auch in der letzten Szene nicht aus dem Dilemma heraus, das die erste einleitete. Wohl ist aus den merkwürdigen Verschlingungen manche nachdenkliche Perspektive eröffnet; eine Lösung aber, die ihm selbst zweifelhaft und nebensächlich erscheinen würde, verschmäht der Dichter. „Denn das ist das Charakteristische aller Übergangsepochen, daß Verwicklungen, die für die nächste Generation vielleicht gar nicht mehr existieren werden, tragisch enden müssen, wenn ein leidlich anständiger Mensch hineingerät.“

            Die Erkenntnis der Kompliziertheit aller Lebensvorgänge hat Schnitzler zu sehr durchdrungen, als daß er seinen Dichterberuf als Priesteramt auffassen könnte. Viel eher denkt er sich seine Sendung so wie die des Wundermannes Paracelsus, der eine Welt des Wahns ebenbürtig neben die der Wirklichkeit stellt und die dazwischenliegenden Grenzen schwinden macht. „Ich lasse den Vorhang aufgehen, wenn es anfängt, amüsant zu werden, und lasse ihn fallen in dem Augenblick, wo ich recht habe.“ Ein Puppenspiel ist es in dem die Personen der Bühne und die des Publikums in gleicher Weise an den unsichtbaren Drähten hängen, der Dichter selbst mit ihnen.

            Die Vereinigung solcher geistiger Elemente zu einem abgerundeten Werk hat Schnitzler in einer ihm nach Herkunft und Heimat geläufigen Form vollzogen. Aus der Keimzelle des Wiener Feuilletons sind ihm die stärksten formalen Impulse zugekommen, in der Kulturatmosphäre großstädtischen Gesellschafts- und Salonlebens sind sie gediehen. Der unübertroffene Plauderton seiner Novelletten, deren lyrisch-musikalische Unterstimme wohl auch ein wenig vom allgemeinen, zum Erstarken der Lyrik drängenden Zug zeitgenössischer Literatur beinflußt ist, die genaue abwägende Berechnung der Sprachelemente, die dann doch in ihrer Gesamtheit den Eindruck des Ungezwungenen, Improvisierten macht, das sind die Elemente der vornehmen, durch französische Schule gegangenen Wiener Feuilletonistik. Naturgemäß mußten der dramatischen Wirksamkeit dieser Dichtungsweise gewisse Hemmungen entgegenstehen. Die breite Geste des Theaters verträgt sich schlecht mit solch feinen Formelementen. Das Ringen um die dramatische Gestalt ist denn auch in der Frühzeit Schnitzlers deutlich zu erkennen. Dem „Märchen“ haften unstreitig gewisse papierene Qualitäten an, die „Liebelei“ versuchte in einem ersten Entwurf, sich den Gesetzen des Volksstückes anzupassen, und erst eine ganz besondere Ausgestaltung aller im Rahmen seiner Technik gelegenen Möglichkeiten brachte den vollständigen Sieg über die Bühne. Unterstützt war die Eroberung des Theaters zum voraus durch das ausgesprochene Talent Schnitzlers, Interessantes zu finden, und durch seine glückliche Hand, die alles interessant zu machen verstand. Die geistreich-prickelnde Konversation der höchsten Gesellschaftsklassen, in der aus graziös unbedeutendem Getändel mit einem Male durch eine Zuspitzung eine blitzartig erhellende Perspektive auf Bedeutendes fällt, das Ineinanderschlingen schlagfertiger Aperçus die wechselvolle Beleuchtung eines Gegenstandes, der, fingerfertig hin- und hergewendet, den Nervenkitzel gedanklichen Flackerfeuers erzeugt, die Freude am geistreichen Paradoxon, der Hang zum leicht Exotischen, alle diese Elemente der Saloncauserie hat Schnitzler der Bühne dienstbar zu machen verstanden.

            Das große Geschehen spiegelt sich wider, aber vollzieht sich selten wirklich, so wenig wie Napoleon im „Jungen Medardus“ die Bühne betritt. Der Reiz des intimen Seelenvorganges steht überall im Vordertreffen und verschleiert auch in den dramatischen Historien den Schritt der Geschichte. Moderne Inhalte hüllen sich in das Kostüm vergangener Zeiten, und so erwächst auch die bestrickende und verwirrende Farbensinfonie des merkwürdigsten Werkes in Schnitzlers reichem Schaffen, die romantische Umdichtung der todgeweihten Stadt Bologna, in deren Mitte das Rätsel Beatrice wandelt. Geheimnisvoll, abgründig, ungewußt, ein Symbol für Schnitzlers ganze Dichtung, geht sie ihren Weg in unbegreiflichen Verschlingungen, doch dem Innersten ihrer Seele gehorchend, vor der alle großen Ereignisse gleich gelten gegenüber dem Diktat ihrer Weiblichkeit. Solcherart bietet sie vielleicht den letzten Schlüssel zu Schnitzlers Absicht, die er am deutlichsten ein andermal, im „Weiten Land“, bekannt hat: „Wenn man Zeit hat und in der Laune ist, baut man Fabriken, erobert Länder, schreibt Sinfonien, wird Millionär, aber glaubt mir, das ist doch nur Nebensache, die Hauptsache seid Ihr! – Ihr! – Ihr!“ Ein aufhellenderes Zitat findet sich bei ihm kaum wieder.

            Als Dichter des Weibes von Paracelsus‘ Zeiten über Casanova in die Salons der modernen Großstadt, als Gestalter der ganzen Stufenskala von Liebesmöglichkeiten und Liebeszweifeln, als Rätselkünder mehr denn als Rätsellöser darf Schnitzler gelten. Als einer, der die Kunde vom weiten Land der Seele vermehrt und bereichert hat, schürft und baut der Sechzigjährige weiter, graziös, apart, kultiviert, wie er es stets getan.

In: Wiener Zeitung, 13.5.1922, S. 2-3.

Felix Salten: „Der Zauberberg.“

Roman von Thomas Mann. – S. Fischer Verlag, Berlin.

Das ist nun allerdings ein ganz ungewöhnliches Werk.

Einmal, weil es Thomas Mann zum Verfasser hat, der heute als der Erste unter den deutschen Erzählern gilt. Ferner, weil dieser Roman zwölfhundert Buchseiten füllt, was eine starke Leistung für den Autor ebenso wie für den Leser bedeutet. Besonders aber, weil alle Geschehnisse sich da zwischen Lungenkranken zutragen, abseits von der Welt der Gesunden, in einem Sanatorium zu Davos.

Dieser Schweizer Höhenort ist der „Zauberberg“. Ein junger Mann erklimmt ihn eines Sommertages, nur für drei Wochen, nur um seinen Vetter zu besuchen, der schon monatelang hier oben weilt und sich kuriert. Aber der junge Mann bleibt nun gleichfalls auf dem Zauberberg, nicht bloß drei Wochen, sondern an die sieben Jahre. Erst als der Krieg ausbricht, im August 1914, eilt er zu Tal, kehrt heim in die Welt der Gesunden, die nun so schwer erkrankt ist und in Fieberparoxysmen erbebt.

Wahrscheinlich ist er heute tot, der brave Hans Castorp, entweder gefallen oder den Strapazen erlegen. Thomas Mann gibt über Leben oder Sterben dieses jungen Mannes keinen Bescheid, aber er läßt nur wenig Hoffnung. Hans Castorp stammt aus einer Hamburger Senatorenfamilie, ebenso wie sein Vetter Joachim Ziemßen. Er ist ein netter, inwendig reiner, sympathischer Durchschnittsmensch, lernbegierig, duldsam, angenehm gesellig, wenn auch gehalten und maßvoll. Joachim Ziemßen, der Offizier werden will, wenn er geheilt ist, stellt die Ergänzung von Hans Castorps Wesen vor. Er hat noch viel mehr „innere Zucht“, noch viel mehr Schweigsamkeit und birgt unter straffer Haltung zartes, schamvolles Empfinden. Es ist wahrscheinlich die Absicht Thomas Manns, an diesen beiden jungen Leuten den Typus des deutschen Bürgers zu schildern, geteilt in zwei Spalten, in eine zivilistische und eine militärische, im ganzen jedoch von einheitlicher Art: anständig, unpolitisch, naiv und, wenngleich nicht hervorragend, so doch hinlänglich geistig. Merkwürdig bleibt, daß Joachim Ziemßen, der sich’s so aus ganzer Seele gewünscht hat, Offizier zu werden, noch im Frieden auf dem Zauberberg stirbt, indessen Hans Castorp, der immer friedlich gedacht hat, diesem Zwölfhundert-Seiten-Roman als bewaffneter Krieger entschreitet, um in den Kampf zu ziehen.

Man wird nun fragen, was in den sieben Jahren Sanatorium an Ereignissen eigentlich vorgehe, daß zwei exemplarisch umfangreiche Bände damit gefüllt werden. Die Matrosen in den Romanen des Kapitän Marryat, in diesen schnurrigen Romanen, die vor drei, vier Generationen das Entzücken aller Knaben waren, der jungen wie der erwachsenen, die Matrosen also forderten darum einen Kameraden zum Erzählen seiner Abenteuer regelmäßig mit den Worten auf: „Nun, so spinne dein Garn.“ Und der also Herausgeforderte fing seine Geschichte regelmäßig mit den Worten an: „Ach was … es ist eine lange Gasse, die keine Wendung hat.“ Diese Erinnerung aus fernen Jugendtagen kommt mir jetzt wieder in den Sinn. Thomas Mann hier sein Garn gesponnen, gelassen, ausführlicher noch und reifer, selbstverständlich, als in seinem Erstlingsroman „Die Buddenbrooks“. Und es ist richtig eine lange Gasse geworden, die keine Wendung hat. Was in den sieben Jahren, die Hans Castorp auf dem Zauberberg verbringt, vorgeht, ist Menschentum. Auch in all der Zeit, die vor diesen sieben Jahren liegt, wie in der Zeit, die nachher abrollen wird, geht immer Menschentum vor. Nicht mehr und nicht weniger, nicht gewöhnlicher und nicht außerordentlicher als es in diesen beiden Bänden verzeichnet steht. Damit rückt jedoch die Kunst des Erzählers ganz dicht an die Wirklichkeit, fügt sich ihr vollkommen ein und überragt sie trotzdem. Es ist ein Stück poetisch durchleuchteten Menschtums, das ein helles Glänzen sanft um sich her verbreitet.

Die Ereignisse zu wiederholen, bleibt eigentlich überflüssig und wird beinahe unmöglich. Hans Castorp sieht viele junge Menschen sterben, qualvoll die einen, in Euphorie und schmerzlos die anderen. Auch Joachim Ziemßen, sein Vetter, stirbt sanft, nach einem kurzen Aufenthalt in der Heimat, während dessen es ihm gelingt, Leutnant zu werden und sich total zu ruinieren. Viele Menschen lernt Hans Castorp kennen und sie sind alle durch ihre Krankheit, durch die beständige Todesnähe gelöster, freier, menschlicher als die Normalen. Da ist Settembrini, der eine Art letzten Ritter der bürgerlichen Revolution vorstellt. Dann Elia Naphta, ein Vorkämpfer der Protestantischen Revolution, der sich in einem seltsamen Duell, das er mit Settembrini hat, selber tötet. Da ist Clawdia Chauchat, die reizvolle Russin, die Hans Castorp lange schwärmerisch liebt und die ein einziges Mal sein eigen wird. Da ist Peeperkorn, der königliche Holländer, der so viel Macht über den Willen der anderen besitzt, der die schöne Clawdia als Geliebte besitzt und der Selbstmord verübt, da er seine Manneskraft schwinden fühlt. Die Aerzte sind da, Hofrat Behrens mit seiner massiven Sachlichkeit; sein Assistent, Dr. Korowski [recte: Krokowski], der Vorträge über die Liebe hält und offenbar von Freuds Lehre beeindruckt ist, bis er endlich mit Medien und Séancen ganz auf die Seite von Schrenk-Notzing fällt. Ein Schwarm von Schicksalen und Gestalten zieht langsam vorüber. Alle von einer unerhörten Plastik, alle von einer fabelhaften Lebendigkeit, einprägsam und vorstellbar. Denn wie bei Homer jede Figur immer mit ihren malenden, merkzeichnenden Attributen genannt wird, so daß sie sich der Phantasie einstempelt, wie da Odysseus immer der Listenreiche heißt, Hektor beständig der Helmbuschumflatterte, Juno die Anhängige usw., so gibt Thomas Mann die gleichen bezeichnenden Merkmale, mit denen er sie bei ihrem ersten Erscheinen geschildert hat, jedesmal wieder, so oft sie erscheint.

Es ist nicht zu leugnen, daß er seine Geschöpfe alle, ohne Ausnahme, ein wenig von oben herab behandelt; ungemein sorgfältig, meisterhaft im formenden Zugreifen, aber doch von oben herab, wie ein Souverän, oder wie ein Großmeister der Arzneikunde, was ja die Dichtkunst auf ihre Art auch ist. Er hat, wie ja ein großer Arzt auch, so viele Menschen dem Dunkeln entrissen, hat so viele Menschen ins Dunkle stürzen gesehen, daß er kein Aufhebens mehr davon macht. Sein Ton ist ruhig, harmonisch kühl, ohne jede Sentimentalität, und von einer pikanten ironischen Untermalung fast immer durchschimmert. Spricht er, was oft geschieht, persönlich, oder redet er, ganz im Stil der großen alten Erzähler, den Leser geradezu an, dann wird seine reine Objektivität fast schmerzhaft deutlich und ein Distanzhalten wird erkennbar, das ebenfalls beinahe schmerzhaft wirkt. Manchmal, sehr selten, dringt Wärme in seinen Ton. Der Reiz, den er dadurch gewinnt, ist unbeschreiblich stark, und an der Intensität solcher Stellen fühlt man, was es mit seiner Objektivität und mit seinem Distanzhalten für eine Bewandtnis hat.

Gespräche breiten sich in diesem Roman so ausführlich, so gelassen hinströmend, daß man die nur mit den ruhig fließenden Dialogen im „Stechlin“ vergleichen kann, wie ja Thomas Mann so manche Wesensähnlichkeit mit Theodor Fontane besitzt, als dessen Fortsetzer und Vollstrecker man ihn ansprechen darf. Was diese Zeit bewegt und beschäftigt, wird in den Gesprächen erörtert, die man auf dem Zauberberg führt. Demokratie und Monarchismus, Probleme des Liebeslebens, Sternkunde, Sozialwissenschaft und sehr viel Tuberkulose. Es ist zu sagen, daß diese gründliche Beschäftigung mit den Zuständen tuberkulöser Erkrankungen, mit Fieberkurven, Sputum, Bazillentabletten, Injektionen, chirurgischen Eingriffen, Todeskämpfen und Sterbestunden, daß alle diese fabelhaft eindringlichen und wunderbar plastischen Schilderungen im Anfang Grauen, ja Entsetzen erregen. Das Empfinden, das man von der hinfälligen Gebrechlichkeit den menschlichen Körpers erhält, das Bewußtsein der vielen Gefahren, das in einem wachgerüttelt wird, ist so alarmierend, daß ich mich während der Lektüre des ersten Bandes hypochondrischer Anfälle nur mühsam erwehren konnte. Und es bleibt bis zum Schluß des Romanes im Leser ein fortdauerndes, leises Erstaunen, daß es überhaupt noch gesunde Menschen auf der Welt gibt.

In den Jahren, in denen er sich dem Fünfziger nähert, den er binnen wenigen Monaten erreichen wird, in diesen entscheidenden Jahren hat Thomas Mann das Werk gearbeitet, das für sein ganzes Schaffen entscheidend und charakteristisch bleibt. Er hat im Brennspiegel des abgesonderten und engen Krankendaseins die Fülle der Menschlichkeit eingefangen, hat am Rand des Todes den großen Reichtum des Lebens entstehen lassen. Man kann diesen Roman, der gar kein Tempo der Handlung, dafür aber einen starken Pulsschlag der Gedanken und ein großes Tempo an Lebensweisheit hat, nicht so rasch durchfliegen wie irgendein Unterhaltungsbuch. Aber man wird den „Zauberberg“ in vielen stillen Stunde mit Ergriffenheit, mit Zustimmung und Widerständen lesen und wird ihn, aufgewühlt und erregt, wie man ihn schließlich aus der Hand legt, mit allen Einwänden und mit aller Bewunderung, die man ihm entgegenbringt, niemals wieder vergessen können.

In: Neue Freie Presse, 7.12.1924, S. 1-3.