Emil Kläger: Das Tanzdrama. Aus einem Gespräch mit Gertrud Bodenwieser.

N.N.[E. Kläger]: Das Tanzdrama. Aus einem Gespräch mit Gertrud Bodenwieser (1924)

Originalbericht des NWJ, 30.1.1924, S. 7

Wort und Gebärde — die beiden Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen. Sie ergänzen sich, aber wenn die Gebärde des Wortes entraten muß, wirkte sie bisher nicht restlos. Der Stumme, der sich notgedrungen der Zeichensprache bedient, erweckt, weil man ihn schwer versteht, schmerzliche Peinlichkeit und bei so mancher Pantomime auf der Bühne, deren Vorgänge unklar bleiben, fragte man sich, warum die Erklärung der Handlung nicht einfach durch die Sprache erfolgt. Doch gibt es Dinge, zu zart, um in Worte gekleidet zu werden, die ihren duftigen Schmelz kaum noch behalten, wenn eine sparsame Gebärde darauf hinweist. Sie sind dem Ausdruck durch die Pantomime vorbehalten und zu ihnen gesellt sich neuestens alles, dessen Gegenständlichkeit sich durch die Geste darstellen läßt. Gertrud Bodenwieser, die junge Professorin an der Musikakademie und eine der ersten in der kleinen internationalen Gemeinde der denkenden Tänzerinnen, will nun ein neues Tanzdrama gestalten, ausschließlich mit Vor­gängen, für die das Wort nicht die richtige Ausdrucksmöglichkeit gibt. Schon ist ihr erstes Werk dieser Art entstanden und am 4. Februar will sie vor der Öffentlichkeit mit ihren Schülerinnen Herold ihrer neuen Ideen sein.

Gewalten des Lebens heißt das Tanzdrama, das zeigt, was sich nicht aussprechen läßt, und es zerfällt in vier Teile. Ein Wesen ist der erste Abschnitt betitelt, den ein Mann und eine Frau darstellen. In harmonischer Form, zur Musik von Debussy, entrollt sich dem Zuschauer das urewige Bild vom Kampf der Geschlechter, das Sichanziehen und Sichmeiden derer, die von Anbeginn zusammengehören und doch immer wieder voneinanderstreben. Nie finden sie das erlösende, befreiende Wort; das Gefühl, das Minenspiel verraten allein, was sie bewegt.  Im ganz scharfen Gegensatz zu dem uralten Thema dieses ersten Teiles steht das ultramoderne des zweiten. Dämon Maschine heißt er und soll die schreckliche Schönheit

dieses langsam die menschliche Kraft verdrängenden Ersatzes bis zur Umwandlung des Menschen zum Maschinen­bestandteil zeigen. Hier erschließt Frau Bodenwieser der mimischen Kunst tatsächlich ein ganz neues Gebiet. Ihre Phantasie erfand eine Darstellung für Kette, Schraube, Hebel, sie baut den Maschinendämon aus Menschenleibern, denen ihre Vision jede eigene Gedankenfunktion nimmt und sie dazu verdammt, Teile eines Ganzen mit immer sich gleich bleibender Tätigkeit zu sein. Die in ihrem ewigen Einerlei furchtbare Arbeit der menschlichen Hilfskraft bei einer Maschine ist hier phantastisch bis zur Umwandlung des Menschen in einen Maschinenbestandteil durchgeführt. Keine bekannte Melodie sang das Lied des klopfenden, stampfenden, Menschen fesselnden und bezwingenden Dämons; diese Musik mußte neu geschaffen werden.— Lisa Maria Mayer bemühte sich um die Lösung dieser Aufgabe — und Katharina Barjansky entwarf dazu wie auch für die beiden nächsten Bilder die Kostüme. (Ein Wesen, verkörpert durch Mann und Weib, bekleidet Franz Bayros.)

Die Gestaltung des Dämon Maschine dürfte durch die Originalität des Gedankens wohl den Höhepunkt des neuen Tanzdramas bilden. Was darauf folgt, ist so alt wie der Kampf der Geschlechter — dem Tanz ums goldene Kalb gehört der dritte Teil. Hier geht nur die Ausdrucksform neue Wege. Das brutale Drängen und Verdrängen, das Überstürmen des einen durch den anderen, der wüste, von Geldgier geleitete Menschen­knäuel, gebildet von Charaktertänzerinnen, wird hier schrecklich zu neuer Musik von Felix Petyrek zu schauen sein.

Zuletzt folgt die Erlösung durch Güte. Bedarf sie des Wortes, um Menschen aus den gräßlichen Gewalten ihrer Urtriebe zu befreien? Gewiß nicht. Sie kommt und mit ihr der aus tiefster Seele quellende, tief in die Seele dringende Friede. Güte löst den Kampf der Geschlechter in Liebe auf, Güte befreit von der Fron, die Dämon Maschine gebieterisch in ununterbrochener Qual der ihm Hörigen von ihnen verlangt, Güte endlich überstrahlt den Glanz des goldenen Kalbes, daß es seinen grauenhaften Zauber verliert. Und seltsam, diese Güte, die sich in Wirklichkeit bisher nie einstellte, obwohl sie in der Gestalt des Messias seit Jahrtausenden erwartet wird, findet ihre Begleitmusik in einem Tonstück von Mussorgsky und selbst ihr Kleid ist nicht im neuesten Kunststil, sondern in den edlen Linien der Frührenaissance geschaffen. Unbewußt drückt die Schöpferin des neuen Tanzdramas damit etwas aus, woran sie eigentlich gar nicht dachte. Sie, die auf eine der Zukunft vorbehaltene Erlösung hindeutet, zeigt in Wirklichkeit, daß der Friede immer nur der Vergangenheit gehört. Ausgelöscht muß die Erinnerung an alles Böse und Häßliche sein, Güte ist erst die Begleiterin des Vergessens. Das alles auszudrücken, beabsichtigt Gertrud Bodenwieser jedoch gar nicht, ihre Güte schreitet durch die aufgeregte Welt mit ausgebreiteten Armen, mit segnender, beruhigender Gebärde. Wortlos, als Trägerin des Friedensgedankens.

Jeder einzelne der vier Teile des Tanzdramas hat eine Handlung, die mit dem Wort nichts anzufangen wüßte. Souverän herrscht die Bewegung, das Spiel der Mienen und der Muskeln. Eigentlich ist das die einzig richtige, fast möchte man sagen, die einzig mögliche Form der modernen Pantomime. Pierrot und Kolombine sind tot, es leben Dämon Maschine und seine Epigonen.                                                                                                        — r.

Aus: Neues Wiener Journal, 30.1.1924, S. 7