Kurt Sonnenfeld: Ein Gruß an Friedrich Adler
Kurt Sonnenfeld: Ein Gruß an Friedrich Adler (1918)
Die Revolution ist in vollem Gange. Ein fluchwürdiges, verrottetes System stürzt krachend zusammen und man kann nur inbrünstig hoffen, daß nicht auch Unschuldige unter seinen Trümmern begraben werden mögen. Eine beispiellose Gewaltherrschaft hochgeborener Nullen, die ihre politische und militärische Unfähigkeit durch Brutalität zu verdecken suchten, hat das mißhandelte und getretene Volk aufs äußerste verbittert, und es wäre zwar tieftraurig, aber kein Wunder, wenn jetzt, da der Zwang endlich gebrochen ist, über alle Erwägungen der Vernunft die blinde Rachsucht die Oberhand gewänne. Aber der Terror ist der ärgste Feind einer jeden Revolution. Wenn wir heute beten, daß diese Umwälzung unblutig verlaufen möge, so geschieht dies nicht aus unangebrachtem Mitleid mit den verbrecherischen Machthabern, die so viel unschuldiges Blut auf dem Gewissen haben und deren unermeßliche Schuld überhaupt nicht genügend gesühnt werden kann, sondern es geschieht aus Liebe zum Volke, das sich ja durch blinde Gewaltakte ins eigene Fleisch schneiden würde. Die Revolution braucht intellektuelle Führer, deren geistige Überlegenheit das Chaos gestaltend bewältigt, den Leidenschaften der Masse Ziele weist und dem Geiste zum Siege über die Gewalt verhilft. Radikalismus hat mit Verhetzung nichts zu tun. Niemand aber vermöchte bei all seinem unbeugsamen Radikalismus die leidenschaftlich erregten // so gut von sinnlosen Gewalttätigkeiten abzuhalten wie Friedrich Adlergeb. am 9.7.1879 in Wien – gest. am 2.1.1960 in Zürich; Politiker, Journalist Nach seinem Studium der Mathematik....
Er hat in diesen Tagen, in denen die früheren Autoritäten mit wohlverdienten Fußtritten davongejagt werden, die größte Autorität über das Volk – obwohl er nicht unter ihm weilt. Wo sein Name genannt wird, rauscht die Begeisterung auf und sein Bild erstrahlt in Märtyrerglorie. Sein Name ist heute ein Symbol, eine Fahne, eine Marseillaise.
Die Gunst der Straße bedeutet nicht viel. Sie wird auch Schwindlern und Nullen, Demagogen und Komödianten zuteil. Aber Fritz Adler verdient die Liebe und Verehrung, die mit gefalteten Händen nach ihm ruft.
Ist es nicht ein Widerspruch, daß gerade er, der Stürgkh getötet hat, die Menge von Ausschreitungen und Blutvergießen zurückzuhalten vermöchte? Es ist kein Widerspruch, denn Friedrich Adler, der sich zu einem mit Tolstoi und dem Urchristentum verwandten Sozialismus bekennt, lehnt die Gewalt als politisches Kampfmittel ab. Daß er trotzdem Stürgkh niederschoß, geschah gleichsam in der Notwehr, Denn Stürgkh war ein gemeingefährlicher Volksfeind, der in parlamentsloser Willkürherrschaft alle staatsbürgerlichen Rechte mit Füßen trat und den Massenhinrichtungen einer feilen und streberischen Militärjustiz mit verschränkten Armen zusah. Gewiß wäre es besser gewesen, wenn Stürgkh nicht erschossen worden wäre, sondern seinen Verfassungsbruch vor dem Staatsgerichtshof zu verantworten gehabt hätte. Aber wo war damals der Staatsgerichtshof!
Als ich die Aufbahrung der Leiche Stürgkhs sah und mich das Mitleidmit dem Toten übermannen wollte, dessen Kopfwunde von geronnenem Blut verklebt war, da brauchte ich nur an die verwesenden Leichen in den Drahtverhauen und an die unschuldig Gehenkten denken, – und alles Mitleid war dahin. Trotzdem gäbe Friedrich Adler vielleicht sein Leben darum, wenn er seinem Grundsatz der Gewaltlosigkeit damals hätte treu bleiben können.
Nach jenem Schusse, der den Grafen Stürgkh niederstreckte und dessen Widerhall weit hinaus über die Schützengräber dröhnte und wie ein Hilferuf aus dem Kerker klang, hätten die Alldeutschen und Klerikalen Friedrich Adler am liebsten gerädert, gehenkt und geköpft gesehen. // Als aber ein Lump von Leutnant einen Dragoner erstach und vor Gericht mit einer winzigen Strafe davonkam, die dem Mordbuben in seiner militärischen Laufbahn kam geschadet haben dürfte, da schwiegen sie fein still. Offiziere, die sich die schauerlichsten Soldatenmißhandlungen hatten zuschulden kommen lassen, waren pflichttreue und energische Vaterlandsverteidiger. Friedrich Adler aber war ein gemeiner Mörder.
Heute hat Friedrich Adler unzählige Freunde, aber vor zwei Jahren stand er allein. Seine Tat war beinahe ein Selbstmord und er hätte sie ja auch fast an Ort und Stelle mit dem Leben gebüßt, da ihn nach dem Schusse Offiziere mit dem Säbel bedrohten. Dann kamen die sechs Monate der Untersuchungshaft, in denen er mit der Vorbereitung für seinen Prozeß und mit wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigt war. In einem ergreifenden Briefe teilte er seinen Eltern eine wichtige Entdeckung mit. Um dieses einen Augenblickes willen verlohnte sich ihm das Leben.
Er hätte vielleicht für unzurechnungsfähig erklärt werden können; aber er verschmähte dieses Mittel, da er seine Tat nicht verkleinern und entwerten wollte, und nahm die volle Verantwortung auf sich. Seine Rede vor Gericht stimmt auch heute noch, obwohl wir seither so manches freies Wort sprechen und vernehmen durften, feierlich bis zur Andacht.
„Nicht alle sind tot, die begraben sind; denn sie töten den Geist nicht, ihr Brüder!“ Diese Worte der Osterbotschaft waren die letzten Worte, die er vor der Verkündigung des Todesurteils im Gerichtssaale sprach. Er stand vor den Richtern, die nach der Verfassung gar nicht berechtigt waren, über seine Tat zu richten. Dann schritt er zwischen Justizsoldaten hochaufgerichtet aus dem Saale. Die Frauen weinten und die Männer ballten die Faust.
Wir junge Menschen waren damals wie im Fieber. Ich schrieb ein Gedicht, das begann: „Der Glorienschein flammt dir ums Haupt…“
Bange Wochen mußten wir um sein Leben zittern, bis er endlich zu einer langen Kerkerstrafe begnadigt wurde. Er, der sein Recht wollte, wurde mit – Gnade abgespeist…
Die Götzenbilder, vor denen man in diesem Kriege zitterte und kroch, liegen zerschmettert. Der Cäsarenwahn, der noch vor wenigen Wochen in prahlerischen Gottes- // gnadentum schwelgte, ist besiegt. Hindenburg und Ludendorff, die der geängstigten Menschheit mit gepanzerter Faust drohten, sind heute geschlagene Feldherren. Friedrich Adlers Gestalt aber wächst und wächst.
Heute, da sich die Ideale erfüllen, für die er so viel gelitten hat, können wir nur inbrünstig hoffen, daß die lange Haft seinen Heldengeist nicht zu brechen vermochte. Ich wiederhole es: wir sitzen in einem Schnellzuge, der in jagender Fahrt einem Abgrunde zurast. Nur Friedrich Adler vermag zu bremsen. Das Volk liebt ihn und vertraut ihm. Er vermöchte die Revolution vor dem Terror zu bewahren. Die Menschen, die ihm folgen, bleiben rein von Blut.
Friedrich Adler, du Held des Volkes, in feierlichster Stunde geloben wir dir, daß wir uns deines Opfers nicht unwert erweisen werden. Sei gegrüßt! Sei in der Freiheit hochwillkommen!
In: Ver! Hg. von Karl F. Kocmata, Wien November 1918, S. 357-360