Ludwig Ullmann: Ferdinand Bruckner gegen die Götter.

Ludwig Ullmann: Ferdinand Bruckner gegen die Götter (1932)

„Timon“ – Uraufführung im Burgtheater

Gesinnung gegen Geist? Es ist doch so. Ferdinand Bruckner weiß vermutlich warum. Und er schreibt bezaubernd gegen sich selbst.

Denn es ist des Dichters Gesinnung, die sogar mit den olympischen Göttern an­bindet. Sind es nur die olympischen Götter? Hat man im Burgtheater nicht vielleicht zu flüchtig gelesen?

Das ist doch das Welttheater eines Atheisten. Noch dazu eines Pazifisten und Defaitisten. Und überdies eines Bolsche­wiken des Geistes. Ein Kriegs- und Gott- und insbesondere Geldverächter hat einen rauschenden Theatererfolg. Nicht durchaus sogar mit populären Mitteln. Nur bis­weilen.

Etwa mit diesem Hitler-Gesicht des athenischen Kriegshetzers und -Schwätzers Alkibiades. Das ist gesprochener Offenbach. Oder wenn die Götter im Olymp Bernhard-Shaw-Konversation machen. Sie bezeichnen sich selbst, mitten auf der Burg­theaterbühne, als eine Erfindung der Menschen. Und sie sprechen auch so, wie Ausgeburten beschränktester und phrasen­berauschter Anbetung. Sie sprechen, wie Ferdinand Bruckner das Volk von Athen sprechen läßt. Auf einer höheren, vom Weihrauch der Schlachtvieh-Dummheit um­nebelten Ebene, wiederholen sie die Schlag­worte der Weltverblendung.

Der Kriegsgott trägt die Bramarbas-Züge des Alkibiades. Denn er wäre nicht, gäbe es diesen säbelrasselnden Ungeist nicht. Aphrodite plappert wie die athenische Dirne Myrthis. Das Donnerwort des Zeus wird vom Sturmwind der Unschlüssigkeit bewegt. Und das hat die Burgtheaterzensur durchgelassen. Natürlich, um Zeus kümmert sich keine Leo-Gesellschaft.

Nur Pallas Athene hat kein irdisch Ebenbild. Denn sie ist die Stimme der Vernunft, der unbestochenen und ungetrüb­ten. Zeus gehorcht ihr, nur ihr. Des Dich­ters besondere und besonders gallige Ironie zeigt: ohne befriedigendes Er­gebnis.

Noch ärger lästert Bruckner den Gott des Reichtums und diesen selbst. Um es gleich zu sagen: Der Unterschied zwischen Shakespeare und ihm ist kaum einer des Formats. Er ist, daß Shakespeare die Tragödie des Menschenhasses schrieb, Bruckner die der — irrigen —Menschenliebe. Aber Reichtum, darüber wird erst der ver­armte Timon belehrt, muß seinen eigenen Gesetzen genügen. Timon will den Reich­tum hintergehen, indem er sich hemmungs­los dem Geist ergibt. Etwa: Als Mann von Geschmack und Kultur vertraut er den„attischen Göttern“ mehr als einer aus­giebigen Schiffsversicherung. Und wird von einem landläufigen Schieber ausgelacht. Wird von einer Kokotte verspottet, weil er Menschenflucht für Menschenliebe hält. Erst in seiner Todesstunde klagt Timon diesen Geist der Dichter und Denker, mit dem er ein optimistisch einsames Leben verbrachte, des Betruges an. Ferdinand Bruckner, in dieser unklarsten seiner sonst rhetorisch fast überdeutlichen Szenen, läßt durchblicken: Zu Unrecht. Denn Geist ohne Tat muß unfruchtbar bleiben.

Timon versäumt die Tat, das ist seine tragische Schuld. Er treibt Verschwendung als Selbstzweck, das ist nur farbenprächtig, aber nicht heroisch. Er sei, sagen seine aus tiefer Gesetzmäßigkeit undankbaren Freunde, ein überflüssiger Mensch. Das ist er wirk­lich.

Freilich, es ist eine strahlende, eine be­zaubernde, eine beneidenswerte Überflüssigkeit. Timon rebelliert da ein wenig gegen seinen Hofmeister Bruckner. Er be­

kennt sich „gegen Fleisch und Blut“ für den Geist. Wer hat nicht Lust, sich mit und zu

ihm zu bekennen? In Todesangst, in aller­dings freiwillig gewählter, verleugnet er sogar Platon. Aber ist Todesangst ein Prüfstein des Geistes?

Bruckner bejaht es. Er bejaht über­haupt das tätige gegen das aphoristisch geistvolle Leben. Sein Timon ist schuldig durch seine Leidenschaft der Untätigkeit, besser gesagt, der Unterlassung. Aber er ist, gerade dadurch, auch groß, ja beinahe über­menschlich. Dieser Büßer eines morali­schesten Lebensgenusses ist seinem Dichter ein wenig entglitten. Er lebt, über den Sinn der Dichtung hinaus, sein Eigenleben in schmerzensreicher und in justament geist­gesegneter Glorie.

Dieser Sinn ist überaus aktuell. Er ist ein Aufruf, fast ein Kampfruf. Nicht zu­fällig tritt Alkibiades mit einem modernen Stahlhelm auf. Und es sind nicht bloß Ge­setze des Dialogs, denen zuliebe die Plutokraten Athens ihre Philosophie fühllos in sich „ruhenden“ Geschäftsgeists entwickeln. Dieser Dialog freilich, ist grandios, von Blitzen der Ironie hellsichtig durchzuckt, ein Gedankengefecht, bisweilen ohne Beispiel, zumindest ohne ein zeitgenössisches.

Bruckners Dichtung ist ja keineswegs schwächer als ihre Gesinnung. Nur: Diese

scheint diesmal wichtiger. Auch zeitgemäßer. Und dieses Athen, die „im unvergänglichen

Geiste lebende“ tote Stadt kennen wir zu genau. Nur dort wo Bruckner seinen Timon

Unrecht geben (oder tun?) muß, wird auch der dramatische Atem kürzer.

Das Burgtheater hat für die Größe wie für die Gewissensschärfe dieser dramati­schen Abhandlung fast nur den Timon Paul Hartmanns aufzubieten. Damit freilich eine Menschlichkeit, fast jenseits jeder Schauspielergrenze, eine Ruhe, eine Würde, eine Majestät der Qual, die den „gerad­linigen“ Hartmann von unheimlichen Lichtern seelischer Zerrissenheit umspielt zeigt.

Daneben darstellerisch Vortreffliches, wie den zärtlich fanatischen Diener Balsers

und seinen begeistert bettelnden Hunde­blick. Oder Herrn Heines unduldsam satten reichsten Mann. Dann Herr Heim, der eine kleine Szene sehr klug zerlegt. Und den standesgeblähten Aristokraten Herrn Höblings, der erstaunlich scharf und schlau beobachtet ist. Nicht minder: Die erquickend hinterlistige Schönheit Frau Wageners und Frau Wohlgemuths kühles, frei und fern schwebendes Götterwort.

Nur Herrn Hennings hat man in eine Karikatur des Alkibiades hineingehetzt, die mit seinen schönen Mitteln, seinem Talent und der keineswegs so flachen Idee dieser Figur Raubbau treibt.

Leider, leider unterschlägt überhaupt Herrn Heines Regie die phantastischen und auch die sarkastischen Möglichkeiten ihrer eigentlichen Aufgabe. Schon die großartige, symbolisch prächtige Bühnenvision Bruckners ist zur dürftigen, ja öfters fast lächerlichen Deutlichkeit entstellt. (In Berlin inszenieren den Timon Hilpert und Strnad!) Diese Götterszene etwa wäre höchstens einer Nach­mittags-Märchenvorstellung würdig und von des Dichters zu Bild und Prunk und Massenschrei erstarrtem Feuerwort ist nur ein bißchen exaktes Volksgewimmel übrig geblieben.

Auch aus den „Volksstimmen“ schlägt die redliche Kraft Herrn Sieberts und Herr Emmerich Reimers bestätigt wieder ein­mal die Vermutung, daß er ein überaus brauchbarer Charakterspieler wäre. Außer ihm noch Herr Schütze von schneidender, Herr Lohner von zart verklärter Bered­samkeit.

Noch ein Gruß an Paul Hartmann und seinen himmlisch holden, seinen irdisch flammenden Knabentrotz.

Stimmt man also für Ferdinand Bruckner oder für seinen Timon? Das ist nicht ganz das Nämliche. Bruckner (mit einer Technik, die schon dadurch über­wältigt, wie nebeneinander jagende Ge­danken zu stürmisch ineinander geflochtenen Gesprächsketten werden) ist gegen Gott und Geld und Glanz der Waffen wie der Worte: Timon, sein Timon, nicht der heilige Menschenfeind Shake­speares, ist ein Ästhet der Selbstvernichtung, Bruckner ist für Aufbau. Ohne Glanz, ohne Gott, ohne Geld. Timon wandelt in der Purpurwolke des Unterganges, von Flöten umgaukelt und von den erhabenen Lügen des Geistes. Bruckner ist selbst Timon, natürlich, oder er war es.

Und so dankte auch Theodor Tagger im Namen des Dichters.

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Und Röbbeling? Sein Anfang ist immerhin eine Verbeugung vor dem Geist. Man muß sie mitmachen. Nicht nur aus Loyalität…

In: Wiener Allgemeine Zeitung, 26.1.1932, S. 5.