David Bach: Kampf der Welten. Bruckners Elisabeth von England im Deutschen Volkstheater.
David Bach: Kampf der Welten. Bruckners Elisabeth von England im Deutschen Volkstheater (1930)
Zwang einer historischen Notwendigkeit bestimmt schon die Elisabeth in Schillers Maria Stuart. Die Heldin freilich ist die schottische Maria, nicht die englische Elisabeth. Die ist nur Gegenspielerin, allerdings eine von großem Format. Aber merkwürdig genug, seit zwanzig Jahren gilt den Tragödinnen Elisabeth interessanter als Maria (in früheren Zeiten ist die Besetzung beider Rollen oft genug vertauscht worden). Der Geschmack an der edlen Dulderin Maria verging mit jener Zeit, die sich noch mit Schumannscher Musik „Er, der Herrlichste von allen“ vorsingen ließ. Die tätige, kühne Elisabeth, die auch bei Schiller das Böse tut, weil sie es tun muß, sie zog die Liebe der Darstellerinnen, wenn schon nicht die Liebe der jugendlichen Schwärmer im Zuschauerraum, an sich. Ist Elisabeth schon rein menschlich im Kampf gegen eine Frau interessanter als die Nebenbuhlerin, so wächst ihre Gestalt an Bedeutung, je mehr man sich in ihre geschichtlichen und psychologischen Voraussetzungen vertieft. Vor wenigen Jahren ist ein Buch über die Königin Elisabeth erschienen, von Strachey, das nach Art der neueren, von der der Psychoanalytischen und andrer psychologischer Forschung beeinflußten Biographik Elisabeth als die Schöpferin eines neuen England zeigt, als die Mitbegründerin einer weltgeschichtlichen Epoche, die man als Renaissance bezeichnet. Elisabeth kommt hier zu diesem Ruhme nicht auf dem Weg der üblen höfischen Geschichtsschreibung. Die Königin Stracheys ist nichts weniger als ein Engel, vom Himmel auf Erden gesandt, um die Menschen zu beglücken; sie ist dies schon nicht in einer der Quellen Stracheys, in der Geschichte Englands des großen Philosophen David Hume, der auch ein großer Politiker gewesen ist. Sondern sie kommt zu diesem Ruhm als Trägerin bestimmter geschichtlicher Tendenzen, denen ihre persönliche Veranlagung entsprach. Das nordische, reformistische England, das sich eben anschickte, ein Weltreich mit ungeheurem Kolonialbesitz zu werden, mußte das katholische spanische Weltreich ablösen. Und an diesem Schnittpunkt zweier Zeiten und zweier Welten steht eine Frau, von
deren „weiblichen Schwächen“ zu sprechen ein Ueberbleibsel einer veralteten und sinnlos gewordenen Ausdrucksweise ist. Wenn man, wie ihr neuester Biograph, ihre Stärke in ihrer Schwäche sieht, weil nur ein „hilfloses Weib“ so mächtig sein konnte, so macht nicht Elisabeth, wohl aber oft die männlichen Geschichtsschreiber aus der Not eine Tugend.
Hebbel sagt einmal, die Tragödie siedle sich am besten am Schnittpunkt zweier Welten an. Nun, auch hier ist ein tragisches Werk, eine bedeutende Tragödie entstanden, Elisabeth von England von Ferdinand Brucknereigentlich Theodor Tagger, geb. am 26.8.1891 in Sofia - gest. am 5.12.1958 in Berlin/West; Schriftsteller, Dramatiker, K.... (Das Buch ist im S.-Fischer-Verlag, Berlin, erschienen.) Ferdinand Bruckner, der Dichter der Verbrecher, die ihrem Autor Weltruhm gebracht haben, hat schon Jahre vorher und vor den Krankheiten der Jugend unter seinem ersten Namen Theodor Tagger eine Reihe Theaterstücke (eines ist vor ungefähr zehn Jahren in den Kammerspielen gegeben worden) und interessanter philosophisch-ästhetischer Abhandlungen geschrieben. Daß er lange Zeit hindurch sein Pseudonym nicht lüften wollte, ist ihm von einer in Privatdingen unangenehm neugierigen Journalistik arg verübelt worden. Wie er sich nennen will, ist seine Angelegenheit; sein Werk jedoch ist von ihm losgelöst und gehört allen. Wie gleichgültig, wer Ferdinand Bruckner persönlich ist! Wie wichtig und wie schön, daß sein Werk es ist, und daß das deutsche Theater mit einem neuen Werk einen neuen Dichter gewonnen hat.
Weltanschauliche, weltgeschichtliche Gegensätze erzeugen die dramatische Spannung in Bruckners Schauspiel; daß die Gegensätze an lebendige Menschen gebunden sind, den tragischen Konflikt. Es ist tragisches Schicksal, individueller Träger einer geschichtlichen Entwicklung zu sein. Dieses Schicksal umwittert Elisabeth, auch ihren Gegenpol Philipp von Spanien. Deshalb ist Elisabeth keineswegs eine pathetische Tragödie, ihr Schicksal geht nicht auf Stelzen. Sie wandelt auch nicht auf der Menschheit Höh’n, sondern auch sehr in den Niederungen der Menschlichkeit, solange sie sich weibliche Triebe, Privatleben überhaupt gestatten darf. Mit den Füßen steht sie auf dem Boden einer gemeinen Wirklichkeit, hat ihre Triebe und ihr Triebleben; mit dem Haupt rührt sie an die Gestirne einer Welt, welche die Menschheitsgeschichte umspännt. So vollzieht sich das Geschehen in diesem Drama auf zwei Ebenen. Die eine heißt Elisabeth-Essex, die andre Elisabeth-Philipp. Die erste bringt das Spiel vom Weibe, das aufhören muß, Weib zu sein, um seiner Aufgabe willen, die Außermenschliches verlangt. So läßt die alternde Elisabeth ihren jungen Günstling und Liebhaber, der auf einer Verschwörung ertappt wird, ohne Gnade hinrichten. Die Schillersche Elisabeth läßt Maria Stuart töten, weil sie nicht in Ruhe leben kann, solange die andre atmet.. Die Brucknersche Elisabeth verfährt ebenso mit Essex, weil sie ihrer Aufgabe nicht treu bleiben kann, solange jeder hübsche Junge ihr Herz ins Schwanken bringen kann. In beiden Fällen wird ihr Tun nicht bloß politisch oder gedanklich motiviert, sondern rein menschlich, aus den Trieben und Leidenschaften eines Weibes. Nur bei Bruckner, gemäß den neueren Anschauungen über die Rolle des erotischen Trieblebens im Unbewußtsein. Dieses Triebleben verbindet als psychologisches Band die zweite Ebene des Dramas mit der ersten. Auf der zweiten entwickelt sich der polare Gegensatz zwischen
Elisabeth und Philipp. Sie beide sind Träger des Geschehens in derselben geschichtlichen Zeit; mir Philipps Tod wendet sich eine Welt ihrem Abend zu, die überlebende Elisabeth hilft einen neuen Morgen herausführen. Es sind weltanschauliche Kämpfe, die hier ausgetragen werden. Aber von Menschen, deren ursprüngliche menschliche Triebe außerhalb der Vergeistigung, der Sublimierung, wie man dies nennt, noch gerade zu körperlich, materiell sichtbar bleiben. Elisabeth empfindet Philipp zeitlebens als ihren Gegensatz, das heißt gleichzeitig als ihre Ergänzung. Es ist eine Haßliebe, die auf Jahrzehnte zurück ihre eine Wurzel im Erotischen hat; die andre Wurzel aber ruht in Geistigen und ist in ihrer Unerschütterlichkeit um so mächtiger, unzerstörbar. Philipp stirbt, Elisabeth bleibt. Doch hatte nicht er recht, er, dessen Andenken länger Bestand hat als seine Taten? Von Elisabeth wird ihr Wert bleiben, ein neues England — ein tragisches Schicksal verbindet alles Schöpferische; das Individuum, zum Schaffen berufen, geht in dem Werk der Allgemeinheit auf. Elisabeth ist Trägerin und gleichzeitig Dichterin ihres Schicksals.
Noch eine Verbindung gibt es zwischen jenen zwei Ebenen des Dramas. Es ist eine dramaturgische Verbindung, durch den Aufbau des Stückes, durch seine Form. Die Form ist mit dem Inhalt notwendig verbunden, daher eine neue Form gefunden werden mußte. Nicht zufällig hat sich die Technik der Simultanszene, das heißt der Gleichzeitigkeit mehrerer Szenen herausgebildet. Man mag in ihr sogar die Vergeistigung und technische Vollendung dessen sehen, was als „Revuesiehe: Ausstattungs-Revue bzw. Politisches Kabarett“ so lange die Bühnen beherrschte. Denn die Revue ist eine Mechanisierung, eine Versachlichung des „Lebensbildes“ älterer Theaterperioden. Es wird in einer neuen, weniger verzerrten, menschlicheren Form wiederkehren. Seine letzte geistige Entwicklung verwandelt das unmittelbare Nacheinander der Szenen in eine Gleichzeitigkeit. Also sehen wir Elisabeth und ihren Hofstaat in einer anglikanischen Kirche und gleichzeitig oben Philipp und die Seinen in der katholischen Kirche. An beiden Orten wird um den Sieg gebetet. Noch wichtiger, daß sich an beiden Orten gleichzeitig die Seele Elisabeths und die Seele Philipps offenbaren. Ja, es werden Beziehungen zwischen den Gesprächen oben und unten geschaffen, scheinbar zufällig, aber dem Hörer verständlich. Dies allein wäre allerdings nur ein alter Komödientrick, wie ihn am höchsten Nestroy in dem Haus der Temperamente ausgebildet hat. Aber bei Bruckner herrscht diese Beziehung in Wahrheit schon zwischen den Seelen Elisabeths und Philipps; es wird nur dargestellt, was wirklich ist. Diese Szene hat ihr Gegenstück auf der ersten Ebene. Auch hier gibt es einmal ein Oben und ein Unten. Oben hängt Elisabeth im Fenster und hört halb ohnmächtig zu, wie unten ihrem geliebten Essex das Todesurteil verkündet wird. Hier ist die Beziehung noch unmittelbar deutlich. Ganz ins Gedankliche gehoben wird sie durch den Schluß des Dramas. Philipp stirbt und sein Werk geht in ihm auf. Die überlebende Elisabeth verzichtet auf eigenes Leben, denn ihr Werk verschluckt sie. Die Tragödie von der Leidenschaft des Herzens und der Vernunft des Verstandes, eine Spiegelung dieses Dramas, nicht das ganze Drama, wird nie zu Ende gekämpft werden.
Die geistige Gleichzeitigkeit der beiden Schlußszenen ist im Buch selbst zwar durch das Ineinandergreifen der Sätze angedeutet, aber schon hier szenisch in ein Nacheinander aufgelöst. In der Wiedergabe des Theaters tritt das Nacheinander noch stärker hervor, nicht immer bequem für den Hörer, der auch die geringste geistige Anstrengung scheut. Ganz zu lösen wäre die Aufgabe nur nach dem Vorbild des Films; es ist eine seelische Überblendung, die hier szenisch ausgedrückt werden soll. Aber wie vortrefflich hat im allgemeinen das Deutsche Volkstheater hier die schwierigen Probleme bewältigt! Die Bühnenbilder von Alfred Kunz sind doch mehr als bloß geschickt, weil solch eine Geschicklichkeit, die den Absichten des Dichters und des Spielleiters (Dr. Rudolf Beer) ausgezeichnet dient, an sich schon vom Handwerklichen ins Geistige umschlägt. Die Spielleitung erfaßt ihre Aufgabe sehr richtig vom Geistigen her, gibt Bilder der Seele und nur dort, wo es unumgänglich notwendig ist, Abbildungen einer Wirklichkeit; der Regisseur ist da mit Recht gelegentlich sogar zurückhaltender als der Dichter. Gleichzeitig auf den verschiedenen seelischen Ebenen zu spielen, ist die ungeheure Aufgabe für die Darstellung der Elisabeth. Frau Konstantin kann sich rühmen, den größten Teil siegreich bewältigt zu haben; die letzte Geistigkeit, namentlich des Schlusses, bleibt noch zu erobern, und wird von ihr erobert werden. Den Philipp spielt auf seine Art Herr Forest, das heißt, immer interessant auch für denjenigen, der die Figur ganz anders sieht. Herr Forest nähert sie seinem Zaren im „Patriot“ an; die Geisteskrankheit heißt hier religiöser Wahn. Der Wahn löst Furcht aus; die Überwältigung durch eine Weltanschauung, die auch Philipp verkörpert, wird nicht so deutlich. Für den Grafen Essex hat man Herrn Wolf Kersten, einstmals Mitglied des Raimund-Theaters, aus Berlin berufen; es war ein Fehlgriff. Die „Sonne Englands“, wie er genannt wird, ist ohne Glanz, seine Rede nicht Feuer, sondern schlechte Deklamation. Aus dem Gefolge hüben wie drüben treten Herr Schmöle als Kanzler, Herr Lessen als Kardinal — welch ein Schauspieler, der schon durch Haltung und Miene zu wirken versteht! — und Frau Liedermann als Infantin hervor. Ein Mann für sich Herr Schweikart als Francis Bacon. Dieses Monstrum an Gelehrsamkeit war rein menschlich ein Ungeheuer, ein um so grausameres, als er von der Naturwissenschaft herkommt, und im Menschen nur ein wertloses Mittel des Weltgeschehens sieht; so grausam können nur noch Dichter sein. Herr Schweikart spielt diesen Bacon mit einer blitzblanken Gescheitheit, mit einer Leidenschaft des Verstandes, die immer ruhig, immer voll tötlicher Sachlichkeit bleibt.
Der Erfolg des Abends war ungeheuer groß. Die Wirkung des Dramas und seiner Aufführung kann nicht getrübt werden durch die üble Nachrede, die ihm ein stückeschreibender Rezensent hält. (Die Schande unserer Lessinge von heute ist schon oft in der Arbeiter-ZeitungGegr. 1889, verboten 1934, illegal 1934-1938, 1938 verboten, neugegr. 1945, eingestellt 1991 Aus: Arbeiter-Zeitung, 12.... aufgezeigt worden. Damals haben Direktoren und Schauspieler geschwiegen, im Gefühl einer Abhängigkeit, die nur in ihrem eigenen Glauben an die Allmacht einer korrupten Presse besteht. Herr Direktor Beer setzt sich jetzt in einer öffentlichen Erklärung zur Wehr. Wird dieser Mut vorhalten?