David J. Bach: Das Problem der Arbeit (Zu G. Kaisers Drama „Gas“.)
David J. Bach: Das Problem der Arbeit (Zu G. Kaisers Drama „Gas“.) (1920)
Die Industrie ist bis an einen äußersten Punkt vorgeschritten. Ein Gas, als stärkste Energiequelle entdeckt, wird in einer einzigen Fabrik erzeugt, um von hier aus die gesamte Industrie zu versorgen. Und diese einzige Fabrik wird in Scherben geschmettert, Hunderte von Menschenleibern, Proletarierleibern, mit ihr, durch eine Explosion. Die Formel, nach der das Gas erzeugt wird, stimmt durchaus, der Weltgeist, der Sinn, die Bestimmung des Menschen hat dagegen revoltiert. So faßt es der Fabrikant, der Milliardärssohn (diese Bezeichnung für einen Mann mit grauen Haaren hat den Zweck, das Drama durch die Person, auch leitmotivisch, mit einem früheren Werk Georg Kaisers, mit der Koralle zu verbinden). Der Fabrikant geht im Tun wie im Denken bis an die letzten Grenzen. Er hat versucht, aus dem kapitalistischen Betrieb alle sozialpolitischen Möglichkeiten hervorzutreiben, vor allem durch die Gewinnbeteiligung der Arbeiter am Betrieb. Es sind Scheinmöglichkeiten. Die Gewinnbeteiligung wirkt nur als Peitsche für Mehrarbeit. Aber sie hat noch weit furchtbarere Folgen.
Der Fabrikant nämlich will aus dem Joch der Fabrikation, aus der Erzeugung von Gas heraus. Wenn die Formel richtig war, und sie war es, welches Verbrechen also, von einer Explosion zur anderen Gas erzeugen zu wollen! Jenes Gas, das den höchsten Stand der Industrie bedeutet und ihn gleichzeitig verbürgt. Nicht die Fabrik allein, die ganze Menschheit ist an einem entscheidenden Wendepunkt angelangt: der Gipfel der industriellen Entwicklung ist erreicht, nun gilt es, neue, höhere Daseinsformen zu finden. Der Fabrikant will die Fabrik nicht wieder aufbauen, sondern das ungeheure Areal unter die Arbeiter aufteilen, damit sie als freie Menschen in einer Art Agrarkommunismus leben. Tut er’s, so müssen die anderen Industriebetriebe, die alle von der Gaserzeugung abhängen, ihm wohl oder übel nachfolgen.
Das Experiment der Menschheitsbeglückung scheitert. Es muß scheitern, weil es nicht so sehr die Tragödie des Beglückers als vielmehr die Tragödie der arbeitenden Menschheit enthielt. Dies ist die große Leistung Georg Kaisers, dies erhebt sein Werk über alle seine anderen, ihn selber über die gesamte Dichtergeneration. Er hatte vermutlich keine „Absicht“, als er das Drama Gas schrieb; aber es ist das Zeichen wahrer künstlerischer Größe, daß ein Kunstwerk über den Schöpfer, über sich selbst hinausführt zu neuen Reichen, zu künftigen Zeiten, daß es unserem Denken und Fühlen neue Möglichkeiten offenbart, die gleichwohl alle in unserem Bewußtsein geschlummert haben. Es ist die Tragödie der Arbeit an sich, die in Gas geoffenbart wird. Der Arbeiter nämlich, verflochten in das kapitalistische System, auferzogen in dem Begriff der Pflicht — Arbeit ist Pflicht —, angetrieben von der Gewinnbeteiligung, will von der Arbeit nicht lassen. Umsoweniger, da dieses materielle Sein auch hier den ideologischen Überbau der heroischen Gefühle und Vorstellungen erzeugt, den „Helden der Werkstatt“, den wahren „Herrn der Welt“. Vielleicht ist es ein Zufall, daß der kategorische Imperativ dem Erwachen der deutschen Industrie, dem Erstarken des Bürgertums zur Herrschaft unmittelbar voranging. Der große Denker Kant war weit davon entfernt, mit seiner sittlichen Forderung den Unterdrückern gegen die Unterdrückten eine Waffe in die Hand geben zu wollen. Doch sie ist eine Waffe geworden, nicht erst im Krieg, sondern auch im Frieden der industriellen Ausbeutung. Das Proletariat kann der großen Denker und ihrer großen Gedanken nicht entbehren: aber es tut not, überall an die Wurzel zurückzugehen und so auch bei Kant, auf das fast gleichzeitig geborene Recht der Persönlichkeit. Dieses Recht ist in der kapitalistischen Welt dem Proletarier als unerfüllbares, nur der herrschenden Klasse zugängliches Ideal so ferne gerückt, wie ihm das andere Ideal, das Götzenbild der Pflicht, der Arbeit, als greifbare Wirklichkeit vor Augen steht. Also sind auch die Arbeiter des Milliardärssohnes in die fürchterliche Umklammerung ihrer Arbeit verstrickt. Zuerst fordern sie freilich die Entlassung des Ingenieurs, der das Gas ersonnen hat. Nicht eher wollen sie die Arbeit aufnehmen, bevor dieser Sühneforderung nicht Genüge geschehen ist. Die Forderung ist befristet, denn der Vorrat an Gas für die Industrie der ganzen Welt ist in drei Wochen erschöpft. Je gewisser das der Fabrikant weiß, umsoweniger will er den Ingenieur entlassen. Nicht weil dieser schuldlos ist, sondern weil er darin die sicherste Gewähr sieht, die Arbeiter von der mörderischen Arbeit fernzuhalten. Die Welt soll endlich aufhören, eine immer mehr und mehr wachsende Sammlung von Fabrikschloten zu sein, bis überhaupt kein Platz für etwas anderes mehr da ist, weder auf dem Boden noch in den Gehirnen; Mit einem Schlag, mit dem Tode der Industrie, will er die Welt säubern. Gegen die Tragödie des einzelnen läuft die Tragödie der Zeit, die Tragödie der Klasse. Der Fabrikant will die Industrie ausschalten; den Kapitalismus vergißt er. Die Entlassung des Ingenieurs wird fast zum Schiboleth. Die Herren der Industrie, die nach Gas hungern, würden begreifen, daß der Fabrikant den Ingenieur behält, um „Herr im eigenen Hause“ zu bleiben; daß er ihn hält, um Arbeiter in Hinkunft vor mörderischen Explosionen zu bewahren, gilt als Verbrechen. Man ist entschlossen, gegen ihn die Gewalt der Regierung anzurufen. Was ist der Ingenieur? Da er nun einmal die Formel des Gases erfunden hat, kann jeder andere an seine Stelle treten, um nach diesem Rezept zu arbeiten. Dem Kapitalismus ist das Schicksal des Erfindergeistes ebenso gleichgültig wie das des einzelnen Arbeiters, der ein Stück seines Körpers, die Hand, den Fuß oder das Auge, so untrennbar an seine Arbeit heftet, daß er aufhört Mensch zu fein und nur Hand oder Fuß oder Auge ist, ja nur noch ein Stück Maschine. Der Ingenieur erfährt die wahre Absicht des Fabrikanten. Sie dünkt ihm ungeheuerlich, weil auch er dem Moloch der Arbeit, dem Moloch Industrie verfallen ist. Eine Streikversammlung bringt die Entscheidung. In Reden, die ein wahrer Dichtergeist zu revolutionärer // Sprengkraft geballt hat, wird nochmals die Entlassung des Ingenieurs gefordert. Unbemerkt wohnt der Milliardärssohn der Versammlung bei. Schließlich besteigt er die Rednertribüne. Diese eine Forderung, sagt er, ist zu geringfügig. Fordert mehr! Weit mehr! Und als die Versammlung stutzt, da entwickelt er seine Idee: sortiert euer Recht aus Menschentum, reines Menschentum; löst euch vom Werk und bebaut das Land, damit die anderen folgen! Schon packt die Arbeiter der Wille zu dieser neuen Freiheit, da stürzt von der anderen Seite der Ingenieur in die Versammlung. Sich selber will er zum Opfer darbringen, nicht bloß die Entlassung nehmen, obwohl er schuldlos ist, sondern auch sein Leben hingeben: aber werdet nicht Bauern, bleibt Arbeiter. Kämpfer und Vorkämpfer der Industrie! Dieselbe Versammlung, die ihn beim Erscheinen fast tätlich bedroht hat, folgt seinem Ruf. Die Arbeit ist stärker als der Arbeiter. Will doch auch der Büroschreiber, dem die Explosion einen Arm gelähmt und das Nervensystem vollkommen zerstört hat, durchaus zu seinem Schreibtisch zurück, selbst auf die Gefahr einer neuen Explosion.
Es hat noch seinen zweiten tiefen Grund, daß die Arbeiter zur Arbeit zurückkehren; er ist im Drama nicht ausgesprochen, vielleicht nicht einmal erkannt, aber er steckt, wenn auch unbewußt, in den Voraussetzungen der Dichtung. Der Sozialismus nämlich, der, wie jede echte Lebensform, seine tragischen Konflikte in sich birgt, ist eine optimistische und nicht eine hoffnungslos pessimistische Anschauung. Sein Reich beginnt nicht erst in jenem Augenblick, wo aus der Welt jedes Fleckchen grüne Erde getilgt ist; aber es beginnt unter allen Umständen mit der Beseitigung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Hier in dieser kapitalistischen Ordnung den Sozialismus zu verwirklichen ist nicht möglich, weder durch Gewinnbeteiligung noch durch Abschaffung der Industrie. Die Entwicklung des Proletariats fordert die Entwicklung der Industrie; doch die erste wird schneller laufen als die zweite, dank den geistigen Antrieben, die das Proletariat erhält, nicht zuletzt durch wahrhafte Dichtungen, wie deren eine Georg Kaisers Gas ist. Auch der Fabrikant bleibt trotz seines Beglückerwillens an kapitalistische Anschauungen gefesselt. Um die Arbeiter an dem Wiederaufbau der Fabrik zu hindern, hat er für seinen Grund und Boden militärischen Schutz erbeten. In der besten Absicht natürlich: doch man ruft nicht ungestraft die Machtmittel des kapitalistischen Staates an. Sie wenden sich gegen den Fabrikanten, das heißt gegen sein wahres Selbst, gegen seine Erlöserabsicht. Die Regierung ist zwar jederzeit bereit, auf streikende Arbeiter schießen zu lassen, und ein Steinwurf gegen die Hüter des Gesetzes könnte nur mit Maschinengewehren beantwortet werden. Aber dieselbe Regierung, dieselbe kapitalistische Regierung macht trotz aller Verbeugungen vor dem Eigentumsrecht des Fabrikanten von ihrem Enteignungsrecht Gebrauch — denn die Rüstungsindustrie ist in Gefahr! So muß der Fabrikant endlich selber die Zustimmung geben, daß die Arbeiter mit dem Wiederaufbau beginnen, um Waffen in jedem Sinne gegen sich zu schmieden…
Der Milliardärssohn bleibt allein, verzweifelnd an der Menschheit; seine Tochter, deren Mann sich getötet, weil er von falschen Ehrbegriffen nicht loskommen konnte, der Milliardär seine Schulden nicht bezahlen wollte, um ihn zu einem höheren Menschentum zu zwingen, diese Tochter will den neuen Menschen gebären: Die Tragödie des Fabrikanten wird sich fortsetzen; doch sie ist unbeträchtlich gegen die Tragödie der Welt. Vielleicht wollte Georg Kaiser diese Tragödie gar nicht schreiben; aber er hat sie geschrieben. Sein Drama ist unpolitisch; aber es gehört dem Proletariat. Nicht allein, weil es durchaus, ob mit Willen oder ohne Absicht, antikapitalistisch ist; sondern weil es wie jede echte Tragödieschon mit seiner Problemstellung in die Zukunft führt. Das Proletariat ist die Klasse der Zukunft, diejenige Klasse, die über sich selbst hinausweist — darin ist sie eins mit der Kunst.
Das Deutsche Volkstheater hat mit der Aufführung dieser Dichtung selber auch ein Zukunftswerk geleistet. Die Dichtung fordert in Rede und Szene neuen Stil; die Aufführung hat ihn vollbracht. Gas ist ein Gegenwartsdrama jenseits der gemeinen Wirklichkeit. Probleme der Gegenwart steckendarin, aber dadurch, daß sie enthüllt und dichterisch geformt werden, sind sie aus eine höhere Wahrheit gebracht. Diese Realität der Idee, die mit dem Naturalismus gar nichts zu schaffen hat, wird durch die Aufführung des Deutschen Volkstheaters wunderbar erzeugt. Kaum daß in der Versammlungsszene, die am leichtesten dazu verführt, noch schwache naturalistische Spuren zu finden sind; gerade hier aber zeigt sich die Vortrefflichkeit der Regie (Direktor Bernau), die alles Licht wörtlich und bildlich jeweils auf den entscheidenden Punkt zu sammeln weiß. Ausgezeichnet Herr Klitsch als Fabrikant. Der leise Zuschuß an Bürgerlichkeit, der allen seinen Gestalten innewohnt, macht die Figur nur um so glaubhafter: in Rede und Spiel ist er der neuen Aufgabe, dem neuen Stil vollkommen hingegeben. Prachtvoll als Ingenieur Herr Everth, ein Schauspieler, den man erst nach Gebühr schätzen wird, wenn er nicht mehr in Wien sein wird. Nur seine erste Szene müßte trotz aller fieberhaften Erregung deutlicher gesprochen werden, wie denn überhaupt anfangs ein bißchen zu viel geschrien oder auch umgekehrt zu leise gesprochen wird, zum Beispiel von Herrn Goetz. Seine Erscheinung ist ganz nach dem Willen der Dichtung geradezu aufreizend gespensterhaft; ebenso Herr Nowotny von der Halluzination besessen. Vorzüglich in der Streitversammlung Fräulein Danegger, Frau Werner und Frau Volckmar, die ein Talent zu sein scheint; eben so vorzüglich als Arbeiter die Herren Brausewettter, Kammany und Zetenius. Sehr gut sind auch die Fabrikantentypen herausgearbeitet, verkörpert durch die Herren Schreiber, Knabe, Elfeld, Pater, Iwald. Auch Herr Ranzenhofer als militärischer Kommandant sei lobend genannt. Herr Kutschera gibt sich mit dem Regierungskommissär alle dankenswerte Mühe, aber er ist für dieses Symbol bürokratisch-kapitalistischer Regierungsweisheit in seinem Wesen denn doch zu weich. Wenn die Schauspieler gewusst hätten, welche Ehre es ist, in solch einer Aufführung mitzutun, wenn sie geahnt hätten, welche Erfolgmöglichkeiten in jeder, auch in der kleinsten Rolle stecken, sie hätten darum gerauft. Die BühneGegründet 1924 durch den umstrittenen Zeitungsunternehmer Emmerich Bekessy, erschien die Zs. ab 6.11.1924 als Wochenzei... folgt der Dichtkunst nach; das Publikum auch.