Hanns Saßmann: Premiere: Ferdinand Bruckner: Elisabeth von England.

Hanns Saßmann: Premiere: Ferdinand Bruckner: Elisabeth von England. (1930)

Schauspiel in fünf Akten.

I. Das Problem Ferdinand Bruckner.

In Wallensteins Lager finden sich die vier Verszeilen:

Ein Hauptmann, den ein anderer erstach,
Ließ mir ein paar glückliche Würfel nach,
Die will ich heute einmal probieren,
Ob sie die alte Kraft noch führen.

Wenn ein noch so routinierter Schiller-Rezitator auf diese vier belanglosen Verszeilen trifft, beginnt er stets zu stutzen und zu stocken; er unterbricht seinen Vortrag einen Herzschlag lang, nimmt sichtbarlich einen neuen, kräftigen Anlauf, als müßte er über ein Hindernis hinweg. Seine Empfindungswelle prallt gleichsam an die Peripherie eines magischen Kreises und wird zurückgeschlagen. Die zitierten Verse sind nämlich nicht von Schiller, sondern von Goethe, der sie in das Manuskript des „Lagers“ einfügte, das ihm Schiller 1798 zur Durchsicht über­sandte, als er — wie Wilhelm Scherer sagt— „zum erstenmal Goethes typische Methode in der Charaktergestaltung“ ange­wendet hatte.

Wenn wir ein Drama des mysteriösen Dramatikers Ferdinand Bruckner hören oder lesen, ergeht es uns wie dem Rezitator bei Wallensteins Lager. Wir stoßen auf Szenen und Dialogstellen, an denen der Strom der Geistigkeit wie ab­gedämmt sich unterbricht und feinnervigere Leser einen Schock verspüren. Diese Szenen und Dialogstellen sind von ganz anderer geistiger Art, sie sind stets leeres Theater und bilden in­ mitten der dämonischen Bewegtheit des Ganzen eine Gedanken­öde, die rings von den prunkenden Giftblumen der psycho­analytischen Sexualdramatik Bruckners üppig umblüht ist. Wir finden das Beispiel einer solchen Szene in Bruckners Ver­brecher, es ist die Szene zwischen den beiden  „Richtern“, die voll von törichtem, juridischem Tendenzschwatz, uns mit keinem Hauch des abgründigen Geistes berührt, der die unappetitliche, aber höllisch grandiose Gestalt der Köchin Marie schuf.

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Vier Jahre lang verbarg sich der mysteriöse Dramatiker Ferdinand Bruckner im Dunkel. Den Versuchen, seine Anonymität zu durchbrechen, trat er in zahlreichen Presseäußerungen entgegen, aus denen zuweilen der erschütternd echte Aufschrei einer Menschenseele klang, die jede Berührung mit der Welt als Qual empfinden mochte. Man war nahe daran, diese fast pathologisch erscheinende Sucht nach Verborgenheit z zu respektieren und den offiziellen Vertreter des Dichters Herrn Theodor Tagger zu bewundern, der als selbstschaffender Dramatiker die Selbstentäußerung aufbrachte, den lichtscheuen Dichter dadurch zu decken, daß er ihm geschäftlich die Prokura führte. Bis wir erfuhren, all dies sei nur Blendwerk gewesen und Theodor Tagger nicht nur der Inkassant des Unbekannten, sondern dieser selbst. Wenn das wahr ist, so geht es neuerdings über unser menschliches Begreifen, welcher Seelen, und Geistes­zustand es bedingt, daß ein Mensch jahrelang es vermeidet, sich zu seinem Werk zu bekennen, und dabei keine Abneigung zeigt, vor den Augen aller das Geschäft zu führen, das daraus wurde. Bisher wandten weltscheue Dichter die umgekehrte Methode an, wenn sie sich den materiellen Unannehmlichkeiten ihres Schaffens entziehen wollten.

Ferdinand Bruckners neues Werk überragt in seiner unerhörten dramatischen Wucht alles, was in den letzten Jahren auf deutschem Boden an Drama entstand. Ferdinand Bruckner wäre, wenn er nicht Psychoanalytiker, also durch Pansexualismus gehemmt wäre, mit diesem Werk der derzeit größte Dramatiker Deutschlands und einer der größten überhaupt. Wir müssen uns nun fragen: Hat Herr Theodor Tagger in seinem bisherigen Schaffen je eine Zeile geschrieben, die uns überzeugt, daß dieses unbekannte, gewaltige Dichterwesen, das wir Ferdinand Bruckner nennen, auch nur als Keimzelle in ihm lebte? Finden wir in Taggers bisherigen Werken auch nur eine Zeile, aus der uns auch nur ein Hauch der Geistigkeit be­rührt, der das neue monumentale Werk Bruckners entsprang? Wenn das nicht der Fall (was leicht zu beweisen ist) und wenn Herr Theodor Tagger trotzdem Ferdinand Bruckner wäre, dann stünden wir vor einem noch nie gewesenen Naturspiel, vor dem unfaßbaren Phänomen, daß sich — um es an einem Beispiel zu erläutern — ein Kotzebue über Nacht in einen Shakespeare verwandelt. Wir vermögen an solche Wunder nicht zu glauben und sind eher geneigt anzunehmen, daß die Dramen Ferdinand Bruckners die Arbeit zweier Autoren sind, von denen einer ein gewaltiger Dichter von Satans Gnaden, der andere — zum Schaden des ersteren — ein flacher Theatereffektemacher ist, der beide Hände voll gröbsten Kitsches hat. Seltsam sind heutzutage die Wege der Menschenseele und des Kommerzes.

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II. Das Werk.

Elisabeth von England, die jungfräuliche Königin, ist in Bruckners Drama bereits fünfundfün[f]zig. Ihre Libido — um mit Professor Freud zu reden — von dem auf königliche Selbstbehauptung heiß erpichten Ichtrieb erbärmlich verdrängt, befriedigt sich, in einer höchst widerwärtigen Objektbesetzung, durch die spielerische Lust einer halben Greisin an einem noch halben Jüngling, dem schönen Grafen Essex. Der Jüngling macht mit, steht nächtelang vor dem Fenster seiner Gloriana, merkt nicht, wenn es regnet, wodurch oben im Gemach der Königin die Libidostauung lustvoll gelöst wird. Doch dieses unbefriedigende Liebesspiel führt bei Essex zur sogenannten Libidoregression. Ganz vom Lustprinzip beherrscht, hält Essex sich schadlos, indem er sich in den scharmanten Philosophen Francis Bacon, Baron v. Verulam, verliebt, der seine Homosexualität längst zum politischen Ehrgeiz sublimiert hat. Essex will den geliebten Freund zum Kronrat von England machen, Elisabeth sagt nein; sie wittert den Nebenbuhler. Essex, der sich seiner Macht über das Weib in der Königin sicher glaubte, erleidet eine sogenannte Sexualeinschüchterung, für die sich, nach den Ge­setzen der Psychoanalytik, jede männliche Libido grausam zu rächen pflegt. Als Essex seine Elisabeth beim Ankleiden überrascht und ihre Runzeln sieht, nennt er sie „Mütterchen und Hexe“; er träufelt ihr das Gift sexueller Minderwertigkeitsgefühle ins Ohr und benimmt sich wie ein waschechter Renaissancemensch, der seinen übertragenen Ödipuskomplex abreagiert. Er verschwört sich mit den Lords gegen die Königin. Als die Sexualrevolutionäre Ihre Majestät bereits im Nachthemd durch // die Gärten des Schlosses jagen, verrät Bacon seinen Liebling Essex und Elisabeth ist gerettet.

Nun könnte der Fall, der uns geschichtliche Geschehnisse als Sexualsymbole darstellt, mit der Enthauptung des Grafen Essex schließen, der diese Enthauptung sogar herbeiwünscht. Man nennt das im psychoanalytischen Jargon „einen Kastrationskomplex haben“. (Siehe Professor Freud: „Die Symbolik des Köpfens für Kastration“.)

Doch der Autor will seine Grundidee, daß alle menschlichen Energiequellen ihren Ursprung in einem Konflikt zwischen dem Geschlechtstrieb und dem Ichbewußtsein haben, in einer welt­umspannenden Variation noch einmal zeigen. Er übersetzt zu diesem Zwecke die erbarmungswürdige Sexualtragödie des „Mütterchens Beß“ ins Großhistorische und beginnt das Spiel noch einmal von vorn. Der Geschlechtskampf zwischen Essex und Elisabeth wird auf den Kampf Englands mit Spanien über­tragen, nun werden sogar Königreiche zu Scxualsymbolen, die Genitaltheorie wird zur historischen Methode, Weltgeschichte wächst aus dem Uterus.

In der so entstehenden Repetition des Dramas wird König Philipp von Spanien an Stelle Essex das Lustobjekt Elisabeths. Sie weiß, daß der Spanier im Haß des fanatischen papistischen Asketen in ihr, der Protestantin, die Pestbeule am weltlichen Leibe des Herrn, die teuflische Unzucht des Fleisches ficht. Sie weiß, daß Philipp sich sehnt, ihre „flammende Er­leuchtung“ zu sein und sie in seinen Armen zum Scheiterhaufen zu tragen. Elisabeth weiß, daß der Weltbeherrscher Philipp nur aus diesem erotischen Motiv den Krieg will, und sie nimmt den Kampf auf. Sie ist mit einem Essex fertig geworden, sie wird (mit Hilfe des Sturmes, der die spanische Kriegsflotte vernichtet) auch mit Philipp fertig. Und nun, da sie ihr Geschlecht durch die Entmannung ihrer Liebhaber überwunden glaubt, fühlt sie sich reif, die englische Weltherrschaft zu begründen. Das „subjektlose Subjekt England“ wird Objekt ihrer Luststrebungen.

Diese weltpolitische Variante der Haupthandlung wird in die Geschlechtstragödie Elisabeths teils keilförmig eingeschoben, teils umrankt sie diese wie die Bruchstücke eines Ornaments. Vom dritten Akt ab spielt das Stück vier Szenen durch gleichzeitig auf zwei Schauplätzen, auf denen Philipp und sein Hof, Elisabeth und ihre Räte die gewaltigsten Probleme des spanisch-englischen Kulturkampfes in einem oft sinnlosen Durcheinander aufrollen, gleichsam zerbröseln und in den Wind streuen, der stellenweise da gemacht wird. Verwirrt und verheddert kreuzen sich die Linien der dünnen Geschehnisse, die zwei Hauptgestalten dieses Abklatsches der Essex-Elisabeth-Tragödie tun dabei das Schlimmste, das man auf der dramatischen Bühne tun kann, sie reden unaufhörlich aneinander vorbei. Dies ist der tödliche Fehler des Brucknerschen Schauspiels.

Den organischen Schluß des in seinem ersten Teil epochalen Werkes bilden zweifellos die zwei Szenen, in denen Elisabeth das Todesurteil über Essex unterschreibt und, ohn­ächtig im Turmfenster hängend, der Hinrichtung des Geliebten be[i]wohnt. Diese zwei Szenen, von denen die Hinrichtungsszene vom Regisseur Dr. Beer sinnlos verstümmelt und klanglich wie bildlich geradezu lächerlich inszeniert wurde, sind in ihrer dämonischen Kraft und unerbittlichen Geschlossenheit ein Wunderwerk dramatischer Kunst. Sie sind vom Dichter meister­lich dazu entwickelt, das Ende der Elisabeth-Tragödie zu sein. Wir fühlen deutlich, daß ihm hier ein fremder Wille ins Handwerk pfuschte, und unbedenklicherer Wille, der den gestaltungs­süchtigen Geist des anderen nach seinen Platten Plänen lenkte.

Es wäre wider alle Naturgesetze geistiger Erscheinung, wenn der banale szenische Einfall des Parallelgeschehens im zweiten Teil des Stückes von dem gleichen Dichter stammte, der die vorhergehenden zwei Akte von einzigartiger dramatischer Konsistenz schuf. Dieser unglückliche Einfall ist zweifellos das Werk eines ausgelernten Expressionisten aus der Zeit der Schrei- und Scheinwerferdramatik. Er zerstört die wundervolle Architektonik der Schöpfung Bruckners, vor dessen übermächtigem Talent wir trotz des satanistischen Elements in ihm ehrfürchtig erstaunen müssen; denn auch der Teufel (den ich für den Inspirator der Psychoanalyse halte) ist Geist und ein Produkt der Gedanken Gottes.

Die Besetzung der Rolle der Elisabeth mit Frau Konstantin ist eine Fehlbesetzung. Frau Konstantin als Schauspielerin virtuos aber nicht vital. Sie bringt nicht genug Überwindung auf, das naturwidrige Spiel der Geschlechtlichkeit einer senilen Halbjungfrau konsequent auf die Spitze zu spielen. Sie spielt zumeist eine königliche Tänzerin zwischen ihren polaren Trieben.

Unheimlich ist stellenweise Karl Forest als König Philipp. Ein grausiger Eitersack in Menschengestalt, aus dem sich flammend die Gott verbundene Menschenseele des Homo religiosus erhebt, der jenseits von Gut und Böse steht.

Hans Schweikhart ist kein Bacon; er spielt ihn mit großer darstellerischer Intelligenz, aber ohne die männer­bezaubernde Anmut und den Sex appeal philosophischer Genialität. Wolf Kersten dagegen ist als Essex ganz Sexus in Jugendkraft, man glaubt ihm nur nicht, daß er sich in einen Philosophen verlieben kann. Viktor Kutschera überwältigt als Dominikaner durch sein prachtvolles Organ und seine Plastizität.

Otto Schmöle ist wieder so adrett und pedantisch gut, daß man das Bedürfnis hat, ihn endlich in einer schwachen Leistung zu sehen. In den übrigen Rollen beweisen Siegfried Breuer, Louis Böhm, Walter Brandt, Emmi Förster, Homma, Theodor Grieg, Eduard Loibner, Lessen, Schafheitlin und Mitznegg, daß das Deutsche Volkstheater ein treffliches Ensemble bilden könnte, wenn es einen Regisseur an die Arbeit ließe, der nicht ausschließlich von geschäftlichen Er­wägungen geleitet wird. Alles übrige gehört, wenn auch als be­gabt, in die Provinz; als Kronräte Elisabeths und Lords des Parlaments sah man zwei grinsende Babygesichter aus der Klasse Professor Beers teils mit Bärten versehen, die Kirchen­chöre der englischen Protestanten hätte ein Regisseur in Znaim eindrucksvoller gemacht. Das Stück wurde im ersten Teil ein ungewöhnlicher Erfolg, der Schluß, ohne jede dichterische Kraft,

fiel ab.

In: Neues Wiener Journal, 21.12.1930, S. 3-4.