N.N.: Der Verrat des deutschen Geistes.

N.N.: Der Verrat des deutschen Geistes. (1933)

Die Feigheit der deutschen Intellektuellen. – Drei Beispiele: Der Vortrag eines mutigen Revolutionärs, ein Kriegshetzerfilm, ein Haßgesang.

Hoffnungslos ist die Nacht der Barbarei, die über Deutschland liegt. Die blutige Reaktion hat den Geist er­schlagen, und wie einst im Kriege sind die meisten sogenannten Geistigen im bürgerlichen Lager mit wehenden Fahnen über­gegangen, um Sicherheit und Einkommen nicht zu gefährden. Der deutsche Geist ist verraten. Drei Beispiele bringt der Tag — da gab es gestern den mutigen Vortrag eines deutschen Schriftstellers gegen die bürgerlichen Intellektuellen, da gab es gestern die Aufführung eines nationalistischen Kriegshetzerfilmes, da brachte der Zufall ein „Deutsches Gedicht“.

Diese drei Ereignisse, sie zeigen das Deutschland von heute auf, sie zeigen den Geist, der verneint — an diesem neuen deutschen Wesen muß die Welt verwesen!

Leo Lania richtet die deutsche bürgerliche Intelligenz

„Die Verlotterung der Geistigen in Deutschland, die Verlumpung der Begriffe, sie vor allem sind — neben der furchtbaren Not und der Wirtschaftskrise schuld— an dem Ausbruch der Barbarei in Deutschland. So konnte Hitler viel schneller als Mussolini alles Sozialistische in seinem Programm sinken lassen und den brutalsten Terror wal­ten, alles Demokratische und Sozialistische niederknüppeln  lassen. Wie folgerichtig barbarisch und gewalttätig Hakenkreuzlertum in Deutschland vorgeht, gehe daraus hervor,

daß in Deutschland tausende Menschen in den Kerkern
sitzen, daß aber kein Mensch weiß, wo die Verhafteten
sind,
daß es niemand gelingt, zum Beispiel mit Ossietzky sprechen zu können.

Kein Mensch weiß, ob da nicht, wie bei Liebknecht und Rosa Luxemburg, ein Fluchtversuch konstruiert wor­den ist, bei dem das Opfer umgekommen ist.

Die Massen in Deutschland, die seit einem Jahrzehnt in politischer Hochspannung leben, sind politisch geschult. Hitler ist es nicht gelungen, die Proletarier von ihren Parteien abzusplittern. Aber es ist ihm gelungen, die Träger des Geistigen in Deutschland, die Publizisten, die Intellektuellen einzuschüchtern, so daß sich niemand gefunden hat, der auch nur ein Wort des Widerspruches gegen die Behandlung eines Mannes wie Thomas Mann erhoben hätte.

Ich konzendiere den Intellektuellen nicht das Recht auf Feigheit
aus Furcht vor dem Tantiemenentgang!
An den Pranger mit den bürgerlichen intellektuellen Schichten,
die die deutsche Demokratie verraten haben!“

So hat Leo Lania, der Schriftsteller und Publizist, gestern Abrechnung gehalten mit der deutschbürgerlichen Intelligenz. Aber noch strenger war das Gericht, das er über

die österreichische bürgerliche Presse  

abhielt. „Wenn in Deutschland Blätter der bürgerlichen Linken sich dazu hergeben, gegen die ganze Tradition der Intelligenz zu schreiben, wenn das Berliner Tageblatt“, das Kritik bis zum letzten Augenblick geübt hat, nun schweigen muß, so ist die Haltung der bürgerlichen Presse in Österreich das Unerhörteste, das sich denken läßt.

Den Rekord hält in dieser Hinsicht die Neue Freie Presse. Das ist nicht mehr politische Haltung, das ist Ueberläufertum, das ist nicht mehr gesunder Menschenver­stand — in welchem die Times dieser Presse zum Muster dienen kann – das ist der Verrat alles Geistigen. Oder soll man diese Herren als Nationalsozialisten ansprechen? Die Herren werden sich auch irren, wenn sie nicht bloß aus Angst, sondern auch mit der Hoffnung ins nationalsozialistische Lager abschwenken, vor dem Hakenkreuzlertum auf dem Bauch liegen, etwa leckere Geschäfte zu machen. Diese Spekulation wird mißglücken, sie werden kein Leumunds­zeugnis ihrer „Bravheit“ erhalten, sie werden nichtsdesto­weniger vom Nationalsozialismus „gekillt“ werden!

Was jetzt? Was haben die geistigen Menschen zu tun? Die Massen, soweit sie denken — und das sind in Deutschland dreizehn Millionen — sind gegen die hakenkreuzlerische Barbarei. Aber die Maste hat selbst keinen Mut. Sie braucht das beispielgebende Tun der Einzelnen, um mutig zu werden, sie braucht die mutigen geistigen Führer.

Hier erwächst den Intellektuellen ihre Sendung, sie gegen die pseudorevolutionäre und pseudosozialistische reaktionäre Gewalt des Hakenkreuzlertums zu führen, sonst versinkt Deutschland im Mittelalter. Darum: Sozialisten, Bürger, Republikaner! Werdet hart!“

                                                                       I.

Zwei Verhaftungen

Im Zusammenhang mit dem Störungsversuch, den Nationalsozialisten während des gestrigen Vortrages des Berliner Schriftstellers Leo Lania unternahmen, wur­den von der Polizei zwei Stänkerer verhaftet. Die Verhafteten wurden zur Polizei gebracht, wo mit ihnen ein ausführliches Protokoll ausgenommen wurde. Dann wurden sie wieder auf freien Fuß gesetzt.

                                                                       II.

Kriegshetzfilm „Morgenrot“

Diese Geschichte von den Kämpfen eines deutschen U-Bootes hat nichts mit einem Film zu tun, sie ist nationalistische Kriegspropaganda, die sich eben auch des Filmes bedient. Gestern wurde dieses Machwerk der Ufa zum ersten Male, im Beisein von Regierungsvertretern, in Wien aufgeführt. Der ehemalige Unterseebootoffizier von Spiegel fand es notwendig, als Ver­fasser dieser Bildreihe, eine Rede zu halten. Der Mann ist schon einmal in Wien, in der Urania aufgetreten, wo er die Zuhörer mit dem Faschistengruß empfing. Gestern sprach er von deutscher Aufrüstung, Deutschland müsse wieder seinen Platz an der U-Boot-Sonne haben und von ähnlichen Dingen. Dann folgte die Ufa-Wochenschau, die Aufnahmen aus dem verbrannten Reichskanzlerpalais brachte, Titel: „Kommunistische Brandstifter haben…“ Allerdings war dieser Teil der Wochenschau stumm, die Nazibegleitrede in einem Wiener Kino zu bringen, das hat man sich doch nicht getraut.

Und nun zum „Morgenrot“. Man hat schon eine ganze Reihe von Kriegsfilmen gesehen, aber so etwas war noch nicht da! Selbstverständlich ist der Feind ein elender Schuft, und nur die deutschen U-Boot-Helden, die be­kanntlich nie ein Handelsschiff torpediert haben, nur sie sind Kavaliere. In der Heimat aber schreien die — damals noch nicht marxistisch verseuchten — Leute unentwegt „Hurrah!“, Labedamen futtern die Soldaten, die egal singen: „Wir fahren gegen England…“ und überhaupt ist deut­sches Mannessterben im Kriege der schönste Tod. Der U-Boot-Kommandant aber hält ununterbrochen patrio­tische Reden: „Wir Deutschen verstehen zwar nicht zu leben, aber wir verstehen zu sterben…“, „…es tut den Deutschen gut, wenn nach langer Nacht ein scharfer Wind um ihre Ohren bläst…“ und so. Und die deutschen Matrosen, sie hören es gerne und sterben mit Begeisterung, für Vater­land und Kriegsverdiener, für Kaiser und Etappenschweine. Stolz weht die Fahne Schwarzweißrot und das Luther-Lied ertönt.

Den Film „Im Westen nichts Neues“ durfte man in Österreich nicht ausführen, weil die öffentliche Ruhe und Sicherheit, infolge der Nazikrawalle gefährdet war. Ob etwas ähnliches bei diesem Kriegshetzerfilm geschehen wird? Denn es ist sehr zu bezweifeln, daß man diese Provokation so ruhig hinnehmen, daß sich die Wiener Arbeiterschaft diese aus Deutschland ein­geschleppte gefährliche Kinopest widerstandslos gefallen lassen wird.

„Morgenrot“ — ein deutscher Film? Nein, Zelluloiddreck, made in germany.

Haßgesang gegen Polen

Wie einst im Mai des großen Stahlbades: Deutsche Konjunkturdichterlinge stehen auf und machen ihr patrio­tisches Geschäft. — In den oberschlesischen Naziblättern erscheint jetzt ein Gedicht Haßgesang gegen Polen. Die Polen haben dieses Brechmittel in ihren Blättern abgedruckt und selbstverständlich mit entsprechenden Kommentaren ver­sehen. Ein neuer Krieg wird vorbereitet, dank eines deut­schen Geistes, der den Himmel und die Erde und die Mensch­heit verneint, eines deutschen Geistes, der die Welt wieder in den Abgrund des Krieges stürzen will.

„Gott, hilf der deutschen Sache, der gerechten,
Laß deutsche Männer nicht von Polen knechten!
Gib uns die Kraft, der Polen Macht zu brechen,
Mit Blut und Feuer grausig uns zu rächen.
Schick Krankheit. Seuchen, laß ihr Land verpesten,
Laß giftige Früchte wachsen an den Aesten!
Die Teufelsbrut, die schmutzig dreckigen Polen,
Euch soll die Hölle, soll der Teufel holen!
Wird Schlesien polnisch, Gott, dann laß krepieren
Im Mutterleib die Kinder gleich den Tieren!
Dann lahme Gott der Polen Füße, Hände,
Laß sie verkrüppeln, ihre Augen blende!
„Ein deutsches Herz, das läßt sich nicht erweichen,
Nicht Friede: Haß sei zwischen beiden Reichen!
Und wenn ich einst zum Todeskampf mich rüste,
Ruf sterbend ich: Polen, Herr, zur Wüste!“

In: Der Abend, 4.3.1933, S. 3.