Stefan Grossmann: Bertolt Brecht II.

Stefan Grossmann: Bertolt Brecht II. (1922)

Nach Arnolt kam Bertolt; Brecht nach Bronnen. Die beiden trafen in schöner Eintracht aus dem Süden ein, Bronnen mit ver­düstertem Knabengesicht, Brecht mit listig-lustigem Altbauernkopf. Bronnen einsilbig, tragisch betont, Brecht gesprächsfreudig, heiter maskiert, undurchsichtiger. Eines Tages wurde Bronnen in Berlin berühmt und rief: „Kennen Sie Bert Brecht?“ Inderen Tags wurde Brecht in München berühmt und rief: „Ich muß nach Berlin, Bron­nens neues Stück zu inszenieren.“ Schöne Eintracht, schon über sechs Monate dauernd, nicht gestört durch Erfolge des anderen, eine Freundschaft nicht für die Galerie, nicht bloß durch die Allite­ration der Namen hervorgerufen, sondern offenbar aus einem Kon­trast verwandter Naturen erwachsen. Talente treten selten isoliert auf, eher in Rudeln. Diese zwei Stärksten der jungen Generation sind schon ein Rudel.

                                                                                   III.

Bronnen und Brecht gemeinsam ist der Kleinbürgerboden, dem beide entsprossen. Der Korbwarenerzeuger Balicke könnte mit dem Amtsschreiber und Gemeinderatskandidaten aus dem „Vatermord“ verschwägert sein. Bronnens Sohn, der zu den Prüfungen geprügelt wird, ist ein Vetter von Brechts Anna, die vom Bräutigam mißbraucht wird. Kleinbürgerluft, durch die ein revolutionärer Luft­strom stößt. Aber Bronnen ist Monologist und tragisch gestimmt, Brecht ist Balladendichter und zum Cynismus entschlossen.

Diese dramatische Ballade heißt Trommeln in der Nacht. Ein schöner lyrischer Titel. Aber wenn die Komödie nicht im Deutschen Theater vor allzu feinen Leuten, sondern im Osten vor dem Volk gespielt würde, dann müßte sie einen herzhafteren und passenderen Titel kriegen: Anna mit den beiden Bräutigams oder Heimkehr aus Afrika oder das letzte Wort des Stücks: Jetzt sind es vier Jahre.

Ein einfach gezimmertes Werk. Erster Akt: Der gefangene Andreas Kragler platzt ins Elternhaus seiner ihm eben weggeschnappten Braut. Bester Volksstückstil. Vielleicht ein bißchen zu viel Hohn gegen die Alten. Im Deutschen Theater wurde diese Verhöhnung der Kleinbürger noch unterstrichen. Ich begreife den Brecht’schen Hohn, mit fünfundzwanzig Jahren ist man gegen die heimatliche Klasse unerbittlich, aber der Regisseur hat doch gegen die Familie Balicke so wenig einzuwenden wie gegen die Familie des Großhändlers Werte? Warum so Th-Th-Heinisch? Hier waren nicht „Szenen aus dem deutschen Familienleben“, sondern ein Volksstück vorzuführen.

Zweiter Akt: Ännchens Verlobung wird in der Piccadillybar ge-// feiert. Das Gespenst, der Kriegsgefangene, der erste Bräutigam taucht wieder auf. Er wird pöbelhaft behandelt. Zu pöbelhaft für mein Gefühl. Warum den Kleinbürger noch verleumden? Legte sich der edel gestimmte Journalist nicht dazwischen, der Wieder­erstandene würde sofort hinausgeschmissen. So steht er stammelnd da — sein Stammeln, seine Unfähigkeit, vier Jahre in Worte zu pressen, ist sprachlich-dichterisch überzeugend — er erfährt, daß seine Braut schwanger ist und läuft in die Novembernacht hinaus. Dort dröhnen Trommeln. Im Zeitungsviertel wird Revolution ge­macht.

Der dritte Akt heißt, literarisch gebildet: Walkürenritt. Eine Nacht lang wird an dem Bestand der Welt gerüttelt. Trommeln, Schüsse, roter Himmel. Die Braut mit Gefolge sucht ihren Andreas. Dramatischer Stillstand. Ein Akt, den man auslassen kann und soll. (Weil man kann.)

Vierter Alt: In der Destille. Revolutionsstimmung. Huren, ano­nyme Menschen, Schnapswirte, alles in Revolte. Andreas erscheint und führt das große Wort. (Sehr schön seine Soldatensprache. Im Kriege waren wir hart daran, uns vom Zeitungsdeutsch zu befreien. Die Schützengrabensprache war saftig, knapp, bildhaft, das Papier war verdrängt. Diese fest geschnitzte Volkssprache ersteht hier wieder.) Andreas, der die Braut verloren, trommelt zur Re­bellion.

Letzter Akt: Auf dem Weg zur Barrikade findet der Soldat seine Braut wieder. Er läßt die Revolution im Stich und zieht seinem frierenden Mädchen die wärmende Jacke an. „Jeder Mann ist der beste Mann in seiner Haut.“ Vergebens alle Zurufe, Vorwürfe, Auf­rufe. Er pfeift auf die Weltgeschichte, ihm winkt ein weites, weißes Brautbett.

III.

Hier steht ein Volksstückdichter vor uns. Einer, der nicht vor das Tiergartenparkett gehört, sondern vor schlichte Leute. Wenn die Volksbühne nicht ganz taub und verbabt, sondern lebendig wäre, dann hätten die Trommeln in der Nacht auf dem Bülowplatz ge­rührt werden müssen. Volkstümlich der schlichte Stoff, volkstüm­lich die feste Sprache (von Rohheiten leicht zu reinigen), volks­tümlich die Neigung zum Bänkel im Drama, volkstümlich die un­heroische Nüchternheit des Schlusses: Das Beste ist bei seinem Mädchen schlafen…. Dies ist das erste Drama, das aus der Zeit ist und doch nicht in Rhetorik fällt. Es hat schon Distanz zur Re­volution. (Um Brecht herum gewinnt vielleicht jedes Thema Distanz, die Probleme kommen ihm nicht zu nahe.) Ein Revolutions­drama? Nein. Ein etwas höhnisches Volksstück über die deutsche Revolutionshysterie.

In: Das Tagebuch, H. 52/1922, S. 1794-1795.