Max Eisler: Die Kunst unserer Zeit
Max Eisler: Die Kunst in unserer Zeit (1930)
Im Oberstock des Künstlerhauses ist seit einigen Tagen eine Ausstellung zu sehen, die den Formenwillen unserer Zeit bis auf den Grund klarlegen möchte. Sie setzt sich also ein geistiges Programm. Denn es geht ihr nicht um das vollkommene Beispiel, sondern um Sinn und Weise der modernen Gestaltung. Was sie will, ist eine Klärung des Wirrwarrs, in dem wir gedankenlos vegetieren, eine Atempause der Selbst- und Weltbesinnung in dem überhitzten Tempo, von dem wir uns treiben lassen, also den Weg zur Erkenntnis der tieferen Beweggründe und der Einheit im Schaffen der Gegenwart.
Um das aufzuzeigen, werden – besonders innerhalb der Malerei – die Werke dreier Generationen, aber auch sehr verschiedene Betätigungen – etwa Erzeugnisse der heutigen Technik, sozial-ökonomisches Bauen und endlich Bilderkunst – miteinander konfrontiert. Die Gegenüberstellung der drei malenden Generationen – von Hans Tietzegeb. am 1.1.1880 in Prag – gest. am 11.4.1954 in New York; Kunsthistoriker, Essayist, Redakteur, Ausstellungskurator, ..., dem verdienstvollen Urheber der Aufstellung, schon einmal versucht – erweist sich auch diesmal sehr fruchtbar. Aber schon bei den zwei Zimmern, welche die Einrichtung in den Jahren 1900 und 1930 charakterisieren sollen, wird man grundsätzlich Bedenken haben; denn der Raum vom Jahre 1900 ist kein rein charakteristisches Beispiel, sondern ein mit drastischer Absicht zusammengebrachter Auswuchs der Zeit, wie er sich auch für die Gegenwart leicht hätte finden lassen. Bedenklicher noch scheint uns die Zusammenführung so entlegener Dinge wie etwa eines höchst rationellen Staubsaugers und der neuesten Malwerke. Denn da werden, nach unserm Gefühl, Brücken gelegt, wo besser Grenzen gezogen werden müßten. So ist es z. B. heute bei weitem nicht mehr so wichtig, an dem und jenem die gemeinsame „Sachlichkeit“ nachzuweisen, als dieses arg mißbrauchte Schlagwort durch eine feinere Unterscheidung von Fall zu Fall zu entkräften und wesentlich richtigzustellen. Und das ist vielleicht nirgends so wichtig, wie bei der Bestimmung des Verhältnisses von neuer Bau- und neuer Bildkunst, die in ihren Gegensätzen weit gründlicher verstanden werden können als in ihren vorgeblichen Gemeinsamkeiten. Jedenfalls bringt die Anhäufung so vieler disparater Arbeiten im engen Raume die Gefahr mit sich, daß das Publikum – dieses sollte ja erzogen werden – statt des Zusammenhanges eine Verwirrung wahrnimmt. Und das wäre furchtbar schade.
Denn die Ausstellung ist, trotz allem, eine ernsthafte und mutige Tat. Schon als geistiges Ereignis steht sie hoch über unserm normal lässigen Ausstellungsbetrieb, der sich im besten Fall von irgend einer Konjunktur inspirieren läßt. Hier endlich ist ein umgreifender Gedanke Antrieb der Veranstaltung gewesen und von den Mitarbeitern Tietzes mit junger, schöner Hingabe verwirklicht worden. Gewiß nicht mehr als ein Experiment. Aber, selbst in seinen Irrtümern derart interessant, daß man so leicht davon nicht loskann. (Auch wir wollen ein nächstesmal noch genauer darauf zurückkommen.)
Heute schon das: Man mag gegen den Aufbau des Problems seine Bedenken haben und deshalb auch bezweifeln, ob er in breiteren Kreisen zu der erwünschten rechten Einsicht führen wird – gewiß ist, daß durch diese Ausstellung, namentlich auf dem Gebiet der neueren und neuesten Malerei, der von allen pfahlbürgerlichen Geistern verrammelte Horizont des Wiener Kunstfreundes mit einem Male kosmopolitisch erweitert wird. Man begegnet hier namhaften Meistern der Zeit mit bedeutenden Werken, man sieht, was einem bisher zu sehen versagt und nur durch das Gerücht, meist durch ein übelwollendes Gerücht, bekannt geworden war – man erhält endlich wieder einen weltgültigen Gesichtskreis und darin die Möglichkeit, einen eigenen Standpunkt zu beziehen. Das ist das unbestreitbare Verdienst der Veranstaltung. Und schon das allein macht sie für alle aufrichtigen Freunde des Kunstlebens, ohne Unterschied ihrer Einstellung, wahrhaft sehenswert.