Ernst Fischer: Aus den Tiefen eines Jahrhunderts

Ernst Fischer: Aus den Tiefen eines Jahrhunderts (1930)

            Folgendes hat sich ereignet: Eine militärische Kommission hat einen Soldaten ausgegraben, der sich tot stellte. Der Militärarzt erklärte den Tachinierer für frontdiensttauglich. Man gab ihm Schnaps zu trinken und nahm ihn mit. Die Nacht war blau und schön. Man konnte, wenn man keinen Helm aufhatte, die Sterne der Heimat sehen. Voran die Musik mit Tschindrara spielt einen frohen Marsch. Und der Soldat marschiert in der Mitte, und daß man den Grabgeruch nicht merke, schwingt ein Priester das Weihrauchfaß. Die Zeitungen haben diesen Vorfall totgeschwiegen. Die Wissenschaft hat ihn totgeschwiegen. Die Weltgeschichte hat ihn totgeschwiegen. Da gab es größere Sensationen; außerdem glaubt der gebildete Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts so was nicht. Trotzdem hat sich die Sache herumgesprochen, die Sache von dem toten Soldaten; ein Mensch namens Brecht hat sie schließlich dem deutschen Publikum mitgeteilt, diese Sache, die doch gewiß aufregender, beunruhigender, wesentlicher ist als zum Beispiel die Rede irgendeines Ministers oder irgendein Bericht irgendeiner Studienkommission, ja sogar nervenaufpeitschender als die täglichen Meldungen über Morde, Raubüberfälle, Brandlegungen usw. Um aber nicht der Lüge geziehen zu werden und die atembeklemmende Wahrheit so zu sagen, daß man sie nicht berichtigen kann, hat dieser unangenehme Brecht sie in Verse gepreßt. So ist das Gedicht vom toten Soldaten entstanden:

            Und wenn sie durch die Dörfer ziehn,
                kommt’s, daß ihn keiner sah.
                So viele waren herum um ihn
                mit Tschindrara und Hurra.
                So viele tanzten und johlten um ihn,
                daß ihn keiner sah.
                Man konnte ihn einzig von oben sehn.
                Und da sind nur Sterne da.
                Die Sterne sind nicht immer da.
                Es kommt ein Morgenrot.
                Doch der Soldat, so wie er’s gelernt
                zieht in den Heldentod.

Wir möchten schreiend aus den Gräbern steigen!

            Also Lyrik! Jawohl, Lyrik. Wahrheit, die man in Prosa totgeschwiegen hat. Bericht aus der Tiefe eines Jahrhunderts. Mitteilungen aus der Mördergrube, zu der man das Herz einer ganzen Generation gemacht hat. Telegramm aus dem fernsten, unbekanntesten Kontinent, aus der von Krieg und Hohn und Hunger verschütteten Seele der Fünfundzwanzigjährigen, Dreißigjährigen. Stimmen aus dem Massengrab:

            Wir haben Dreck im Mund. Wir müssen schweigen.
                Und möchten schreien, bis das Grab zerbricht!
                Und möchten schreiend aus den Gräbern steigen!
                Wir haben Dreck im Mund. Ihr hört uns nicht.
                Ihr hört nur auf das Plaudern der Pastoren,
                wenn sie mit ihrem Chef vertraulich tun.
                Ihr lieber Gott hat einen Krieg verloren
                und läßt euch sagen: Laßt die Toten ruhn!

– in der Weltgeschichte beschäftigt!

Dreck im Munde, pfui wie gemein, wie ordinär! Lyriker haben Gold im Mund zu haben,

Geruch von Frühlingsspülwasser, Sonne auf der Zunge und die Herzallerliebste im Gaumen – für Friedenszeiten, versteht sich; wenn ein Krieg auszubrechen droht oder bereits ausgebrochen ist, ersetzt das Vaterland die Herzallerliebste und der Pulverdampf die Lenzesluft. Darum ist uns die Lyrik so zum Kotzen geworden, darum haben wir plötzlich genug gehabt von allen Gedichten – bis die toten Soldaten schreiend aus ihren Gräbern stiegen, bis die Wahrheit sich der Versform bediente, bis wir mit Herzklopfen die Gedichte des Bert Brecht, des Joachim Ringelnatz, des Erich Kästner lasen. „Wir haben Dreck im Mund. Wir müssen schweigen!“ das ist von Erich Kästner; von ihm ist das ungeheure Gedicht Jahrgang 1899.

        …dann holte man uns zum Militär,
        bloß so als Kanonenfutter.
        In der Schule wurden die Bänke leer,
        zu Hause weinte die Mutter…
        …wir haben sogar ein Examen gemacht
        und das meiste schon wieder vergessen.
        Jetzt sind wir allein, bei Tag und bei Nacht,
        und haben nichts Rechtes zu fressen!
        Wir haben der Welt in die Schnauze geguckt,
        anstatt mit Puppen zu spielen.
        Wir haben der Welt auf die Weste gespuckt,
        soweit wir vor Ypern nicht fielen.
        Man hat unsern Körper und hat unsern Geist
        ein wenig zu wenig gekräftigt.
        Man hat uns zu lange, zu früh und zumeist
        in der Weltgeschichte beschäftigt!
        Die Alten behaupten, es würde nun Zeit
        für uns zum Säen und Ernten.
        Noch einen Moment. Bald sind wir bereit.
        Noch einen Moment. Bald ist es soweit!
        Dann zeigen wir euch, was wir lernten!

Hymnus an die Zeit.

Die Weltgeschichte, in der wir beschäftigt wurden, hat uns jahrelang übertönt: Krieg und Revolution haben wir schweigend miterlebt, die schlechten Kriegsgedichte wurden im Hinterland geschrieben, die schlechten Revolutionsgedichte waren das erste Gestammel einer verzweifelten Hoffnung, was galten damals Gedichte, da wir die Welt umformen wollten! Dann aber, als die Weltgeschichte uns beurlaubte, hatten wir lange nicht den Mut zu unserer Zerstörtheit, zu unserem Wesen und unserem Schicksal. Bis dieser Erich Kästner sein erstes Gedichtbuch herausgab: Herz auf Taille, angefüllt mit der wilden Traurigkeit, der bitteren Erkenntnis, der ironischen Leidenschaft unseres Lebens. Wir waren tausendfältig bereit, zu lieben, anzuerkennen, uns zu begeistern – aber wie war die Welt, für die wir Gut und Blut und unsere ganze Jugend gegeben hatten? Hymnus an die Zeit? Soweit wir vor Ypern nicht fielen, grüßen wir diese Zeit:

            Wem Gott ein Amt gibt, raubt er den Verstand.
                In Geist ist kein Geschäft. Macht Ausverkauf!
                Nehmt euern Kopf und haut ihn an die Wand!
                Wenn dort kein Platz ist, setzt ihn wieder auf!
                Macht einen Buckel, denn die Welt ist rund!
                Wir wollen leise miteinander sprechen:
                Das Beste ist totaler Knochenschwund.
                Das Rückgrat gilt moralisch als Verbrechen.

Noch einen Moment! Bald ist es so weit! Dann zeigen wir euch, was wir lernten! Euch ins Gesicht zu sehn, ihr Verdiener an jeder Konjunktur, ihr Händler mit jeder Ware, mit Eisen und Menschenmaterial, mit Aktien und Idealismus, euch in die Schnauze zu gucken, anstatt mit den Puppen zu spielen, die ihr uns für Brot und Freiheit gebt! Zeitgenossen haufenweise:

Es ist nicht leicht, sie ohne Haß zu schildern,
und ganz unmöglich geht es ohne Hohn.
Sie haben Köpfe wie auf Abziehbildern
Und, wo das Herz sein müßte, Telephon…
In ihren Händen wird aus allem Ware.
In ihren Seelen brennt elektrisch Licht.
Sie messen auch das Unberechenbare.
Was sich nicht zählen läßt, das gibt es nicht.
Sie haben am Gehirn enorme Schwielen,
fast als benutzten sie es als Gesäß.
Sie werden rot, wenn sie mit Kindern spielen.
Die Liebe treiben sie programmgemäß.

Einmal kommt auch eure Zeit!

Ja, dieser Erich Kästner ist kein Lyriker für die braven Bürger,d ie Lyrik soll sich mit edlen und idealen Dingen beschäftigen, mit Dingen also, die in der Bürgerwelt keinen rechten Platz haben; solche Gedichte wird man loben und sie keinesfalls lesen (mit Recht), sondern höchstens die Jugend damit belästigen, damit sie auch was Höheres kennenlernt als den Betrieb des rationalisierten Kapitalismus. So sind die Lyriker bei der Jugend in Verruf geraten (mit Recht!), aber die Gedichte des Erich Kästner, diese „unmoralischen, zynischen, poesielosen“, diese wahrhaften, aufregenden, befreienden Gedichte soll jeder, jeder, jeder junge Mensch lesen! Herz auf Taille und Lärm im Spiegel heißen die Gedichtbände; euch alle gehen sie an! Die Proletarierkinder: „Weihnachtslied, chemisch gereinigt!

Morgen, Kinder, wird’s nichts geben!
Nur wer hat, kriegt noch geschenkt.
Mutter schenkte euch das Leben.
Das genügt, wenn man’s bedenkt.
Einmal kommt auch eure Zeit.
Morgen ist’s noch nicht so weit.
Die Stenotypistinnen: Chor der Fräuleins“:
            Wir hämmern auf die Schreibmaschinen.
                Das ist genau, als spielten wir Klavier.
                Wer Geld besitzt, braucht keines mehr verdienen.
                Wir haben kein’s. Drum hämmern wir.

Und wir alle, die wir uns nicht vormachen lassen, daß wir „Sonne im Herzen“ haben und Idealtypen der Menschheit sind (Type I A, in Serie hergestellt):

            Man kann sich selber manchmal gar nicht leiden
                und möchte sich vor Wut den Rücken drehn.
                Wer will, ob das berechtigt ist, entscheiden?
                Doch wer sich kennt, der wird mich schon verstehn.

            Kameraden, zu euch spreche ich!

            Junge Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts, ihr glaubt mit Unrecht, daß Lyriker unbedingt langweilige Leute sind. „Es gibt wieder Verse, bei denen auc der literarisch unverdorbene Mensch Herzklopfen kriegt oder froh in die leere Stube lächelt. Es gibt wieder Lyriker, die wie natürliche Menschen empfinden und die Empfindungen (und Ansichten und Wünsche) in Stellvertretung ausdrücken.“ Ja, dieser Erich Kästner hat recht; er spricht in Stellvertretung von hunderttausend jungen Menschen der Großstadt, tönende Stimme aus den Massengräbern der großen Zeit. In Stellvertretung von Millionen aber, eingesargt in den Massengräbern der kapitalistischen Industrie, spricht ein Fünfundzwanzigjähriger, Walter Bauer, der größte Arbeiterdichter Deutschlands (und daher kaum bekannt!). Dieser Walter Bauer war Arbeiter in den Leunawerken, aus dem Inferno hat er Gedichte geschöpft, die unvergleichlich sind. Ein schmales Gedichtbuch, „Kameraden, zu euch spreche ich!“, unbeachtet von der Öffentlichkeit, übertönt vom Lärm der Tagessensationen. Und doch ist dieses Buch zu kennen Glück und Erschütterung. Da wird nicht getrommelt, nicht posaunt, nicht pathetisch herumgeredet, da klirrt keine Phrase, dröhnt kein Schlagwort, reimt sich nicht ‚rot‘ auf ‚Tod‘, da ist nichts als die schlichte, unaufgeregte, namenlose Wahrheit des Proletarierschicksals: Für die Gestorbenen der Leunawerke!

            Laßt die Musik beiseite,
                weg mit Reden, Literatur, Violinspiel, Gebet,
                                                               was soll das hier?
                Wir!
                Aus unseren Sachen dampft der Ammoniak-
                                               geruch der Schufterer,
                aus unseren Blicken fällt die Müdigkeit der
                                               Nachtschichten.
                Alle!
                Und aus uns strahlt unaufgefordert un-
Ausgesprochene,
                nie bekannte brüderliche Liebe…
                …wir verbergen
                eure Leiden nicht, wir schreien sie nicht, wir
                                               sprechen sie aus,
                seid ihr glücklicher jetzt? Ihr schweigt? Vielleicht,
                                               vielleicht seid ihr glücklicher als wir.

Hier ist ein Frühling von grünem Gas!

            Wir verbergen eure Leiden nicht, wir schreien sie nicht, wir sprechen sie aus. Dieses Aussprechen, ruhig, einfach, aus der Tiefe des Lebens (Laßt die Musik beiseite, weg mit Reden, Literatur!), das ist die bezwingende Kunst dieses Leunawerk-Arbeiters. Mensch im Maschineninferno:

            …hier blüht ein Frühling ohne Baum und
Vogellaut,
                hier ist ein Frühling von grünem Gras…
                …Eingepreßt zwischen Benzinwäschern, Silos,
                                                               Windhitzern,
                erhebt sich der Ruf, verborgen in der Welt,
                im Bau siebenhundert, laßt,
                               laßt mich zu Wort kommen!

Unter dem traurigen Himmel des Krieges.

            Als dieser Mensch, dieser Arbeiterdichter, Walter Bauer, wenigen nur bekannt, unerhörte Gedichte formend, die niemand drucken will, als dieser Mensch ein Kind war, starb sein Vater, starb sein Bruder im Kriege.

In der zweiten Stunde schrieben wir einen
Klassenaufsatz,
                und ich schrieb ihn zum Teil von meinem Kame-
                               raden ab,
                dem ich in Mathematik half.
                In der zweiten Stunde lag mein Bruder da und
                               Schrie,
                immer…
            Und die Mutter („Du Gute, graue
            Geliebte!“) ging über Land zu den Bauern, um Brot und Kartoffeln zu hamstern und ein paar Pflaumen.
            Aber abends. Mutter, ging ich dir immer weit
übers Feld entgegen auf der langen Straße, da
                                               brannten
schon Lichter, und Wagen kamen von den Feldern
                                               wollten heim,
und die im langen Kriegsjahr geschwächten
                                               übriggebliebenen
Gäule bliesen Dampf des Herbstes durch die
Nüstern.
Dann ging ich vor den Häusern schneller,
                                               Mutter, weil
es dunkel war und ich allein, dann lief ich dir
                                                entgegen,
schnell wie heim, und sieh, da warst du, sieh, ich
                                               fiel
dir so entgegen, schneller war mein Herz, und
                                               unter
dem traurigen Himmel des Krieges küßte ich dich
und sah, ob du im Korb auch ein paar Pflaumen
                                               hattest.

  • über Jahrhunderte hinweg!

Kindheit „unter dem traurigen Himmel des Kriegs“, Jugend, in der traurigen Hölle der Fabrik. Und eingepreßt zwischen Benzinwäschern, Silos, Windhitzern, schreibt der Arbeiter seiner Freundin:

            Dein Herz ist grün wie die Gärten, die grünen,
                in denen Amseln und solche Vögel singen,
deren Namen ich nicht weiß,
denn ich bin Arbeiter im Kraftwerk.
Bäume sind, schreibst du mir, auch da und
Sinken grün ins Erinn’rungsherz.
Ach, wie lange ist’s, daß ich Rauschen von Bäumen
nicht gehört, solchen besonderen Gärten, in denen
du groß geworden bist. Du sagst,
Blumen sind da, noch immer,
noch, wenn wir den Mars kolonisieren, werden
einige da sein. Ihre Namen
weiß ich nicht, im Kraftwerk ist nur Platz für
zweckmäßige Dinge.
Ich bin ein völlig anderer als du,
anders klingt als in Gärten auf Asphaltstraßen
                                die Stimme der Welt.
Blumen und Gräser.
In den Städten hörten wir, daß es Blumen gäbe.
Wir erinnern uns ihrer noch, denn
wir lernten, dies sei
Schafgarbe, dies Rittersporn und
das Rot Mohn zwischen Feldern.
Unsere Kinder werden das nicht wissen,
die letzten wird man in Museen halten
in Erde, und einmal
wird eine Zeit kommen, da man die Namen
der Bäume nicht kennt, wird nur sagen: der
                                Baum –
wird nur wissen: die Blume –
wird nur lächeln und es lustig empfinden,
aber ich sage, ich sage es dir
über Jahrhunderte hinweg.

            Stimme des Menschen in dieser rationalisierten, mechanisierten, atemlosen Welt des Kapitalismus, angstvoll, beschwörend, schonungslos. Der Proletarier im Leunawerk und der Intellektuelle in Berlin, Walter Bauer und Erich Kästner, Kinder der Maschinenzeit, Rebellen gegen sie, Dichter unserer Jugend, unserer Wahrheit, unseres Lebens! Laßt sie zu Wort kommen in euren Herzen, ihr jungen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts.

In: Arbeiter-Zeitung, 8.7.1930, S. 5.