Rudolf Holzer: Neue Romane (H. Mann – Wassermann – Stehr)
Rudolf Holzer: Neue Romane (H. Mann – Wassermann – Stehr) (1919)
In nicht großen Abständen sind in letzter Zeit drei umfangreiche Romane erschienen, die, abgesehen von ihrer ästhetischen Bedeutung, wahrhaftig Spiegelungen und Dokumente der gegenwärtigen Zeit sind. Der künftige Kultur- und Literaturhistoriker wird aus ihnen einst unsere Geistesverfassung, unser menschliches Sein in diesen Tagen, unseren Anteil an den Forderungen der ewigen Entwicklung lesen können. Unabhängig von ihrem literarischen Werte darf man die drei Romane auch als Schöpfungen dreier bedeutender Schriftsteller, an sich als charakteristische Erscheinungen bezeichnen. Heinrich Mann, Hermann Stehr, Jakob Wassermanngeb. am 10.3.1873 in Fürth b. Nürnberg – gest. am 1.1.1934 in Altaussee, Steiermark; Schriftsteller, Essayist Aus:... sind so sehr schöpferisch, daß sie kraft ihrer Naturen und Begabung nicht leere Abschreiber des Tages, sondern Träger der latenten Ideen und Konflikte sind.
Im Stile und Realismus des platten, politischen, tendenziösen Pamphlets ist Heinrich Manns Roman Untertan gehalten; er enthüllt angeblich das Abbild des Deutschlands Wilhelms II. Am Scheitel des Bogens schwebt, entrückt der Alltäglichkeit und dem Dutzendgeschmack, das literarische Gebilde Wassermanns Christian Wahnschaffe; jenseits ruht der Bogen verdichtet in Hermann Stehrs Roman Der Heiligenhof, im deutschen Neumystizismus, in einem Sozialismus, der an Urchristentum anknüpft.
Der Roman Heinrich Manns Der Untertan[1] wurde kurz vor dem Kriege beendet; er erschien zuerst in einer Wochenschrift im Frühjahr 1914, wurde aber als eine geschmacklose Verletzung der Stimmung bald nach Kriegsausbruch abgebrochen. Heute feiert er – leider! – als zu wahrhafter Satire geworden, eine Auferstehung; er nimmt sich — leider! — geradezu als ein historisches Kulturwerk aus; er segelt heute als Sittengeschichte des Deutschen Reiches zu Ansang des 20. Jahrhunderts in die Öffentlichkeit. Nun, zu dem Anspruch, ein wirkliches Bekenntnisbuch zu sein, fehlt ihm Objektivität und Unbefangenheit. Mit Haß und Hohn ist man niemals ein gerechter Zeuge. Heinrich Mann vermeint, die Psyche des braven, gehorsamen Untertanen enthüllt zu haben. Sein bürgerlicher Kleinindustrieller Diederich Heßling, dieses Muster eines Nationalgesinnten, beweist nur leider nichts, denn Mann bildet ihn als Ausbund der Einsichtslosigkeit, Dummheit, Charakterlosigkeit. Nach einem kurzen, in
Berlin verlaufenden Vorspiel, wohin der junge Diederich gelangt, um Chemie zu studieren, setzt sich die eigentliche Handlung in einer typisch preußischen Stadt, nicht allzu weit von der Reichshauptstadt gelegen, um die Zeit der Neunzigerjahre fort. Heßling wird zum Träger angeblich neudeutscher Kultur, die nach Manns Darstellung nichts anderes ist als knechtische Unterordnung und Bewunderung des preußischen Militärstaates. Der „Untertan“ Diederich Heßling, Fabriksdirektor und Unternehmer, wird als Typus des Geschäftssinnes und der Schneidigkeit des preußischen Staatsbetriebes gekennzeichnet. Bald stößt er natürlich mit den politisch Freisinnigen der Stadt zusammen; namentlich mit dem klugen und menschenfreundlichen Achtundvierziger Buck. Die Gutheißung der Erschießung eines Arbeiters durch einen militärischen Posten, eine Denunziation wegen Majestätsbeleidigung, eine vom Gerichtshof und den Zeugen liebedienerisch durchgeführte Verhandlung, zweifelhafte Kompromisse mit anderen politischen Strömungen, eine Reichstagswahl, die Errichtung eines Kaiserdenkmals, das sind die einzelnen Szenen der Handlung, die immer nur Gelegenheit gibt, Diederich Heßling als lächerlichen und widerlichen Gesellen zu kennzeichnen. Er wirkt durchaus als Karikatur. Der offizielle Geist der vergangenen Jahre wird mit beißender, höhnischer Laune dargestellt, wird als am Staate nagendes Gift, als Produkt der Fäulnis geschildert, des in seinem hohlen, geschmacklosen Protzentum, seinem stets die Ideale der Nation im Munde führenden Materialismus den Staat dem Abgrund entgegentreibt. Mann weidet sich an dem bekannten Pathos der Reden Wilhelms II., die Adel und Bürgertum Deutschlands einlullten. Aber in Heßlings Munde werden sie zu unausstehlichen Trivialitäten, zu fürchterlicher Satire. Der gehorsame und getreue „Untertan“, der keinen anderen Ehrgeiz kennt, als seinem kaiserlichen Herrn zu dienen, wird bei Mann zu einer verzerrten und lächerlichen Kopie des Monarchen. Seinem Charakter nach ein hohler, eitler Komödiant und Streber, schwindelt und bramarbasiert sich Heßling in der Kleinstadt zu Einfluß, und Macht empor, spielt dort den nationalistischen Scharfmacher, bedrückt seine eigenen „Untertanen“ – die Angestellten seiner Fabrik – macht zweifelhafte Geschäfte, liegt vor jeder höheren Macht im Staub, ist aber brutal und rücksichtslos nach unten und findet endlich seinen Ehrgeiz als Generaldirektor, anerkannter Patriot und Festredner bei einer Denkmalsenthüllung gekrönt.
Mit dem Rechte des Satirikers hat Mann den Diederich Heßling zu einem Zerrbild des Untertanen im Zeitalter des preußischen Imperialismus gemacht. Durch Verzerrungen hebt er die Schäden der Zeit schonungslos ins grellste Licht. Die kleine Stadt, Netzig, in der Heßling das große Wort führt, ist beherrscht und belebt von Anhängern des Imperialismus. Offiziere, Staatsbeamte, Pastoren, Industrielle, Oberlehrer, Frauen der bürgerlichen Welt, Damen aus der Halbwelt sind benebelt und berauscht von patrio-// tischen Gefühlen, die in Wahrheit der Ausfluß krassesten Egoismus sind. Es ist Mann kein Vorwurf zu machen, daß er in der Wunde seiner Zeit wühlte, es berührt jedoch nicht angeehm, daß er seinen Witz ausschließlich an Begriffe knüpfte, die dem nationalen deutschen Empfinden bisher achtenswert waren. Seine Schilderungen der Berliner Korpsstudenten, der politischen und moralischen Verhältnisse der Netziger Bürger sind überaus scharf und geistreich gesehen. Die Charakterlosigkeit und Feigheit, mit der sich Heßling der Militärpflicht entzieht, gleichzeitig aber mit seiner patriotischen und militärfreudigen Gesinnung flunkert, um später Aufnahme und Einfluß im Kriegerverein zu finden, das bürgerliche Leben, seine und die Liebesangelegenheiten der Netziger sind in dem Buche zu virtuosen Episoden verwertet. Der schärfste und reinste Niederschlag des Buches kommt aber in einer mit der Handlung gar nicht zusammenhängenden Analyse des Wagnerschen Lohengrin zum Ausdrucke. Da entgleitet dem Verfasser endgültig die Maske. Da verrät er sich endgültig als politischer Pamphletist, als – nach dem von Thomas Mann geprägten Ausdrucke – Zivilisationsliterat, als Parteigänger der undeutschen Empfindung, als Schriftsteller, dem für deutsches Fühlen und Denken nicht nur die Organe fehlen, sondern der allem Deutschen mit Hemmungen gegenübersteht. Um später einmal etwa als „historischer“ Roman zu gelten, fehlt dem Buche die einwandfreie Objektivität, aber Mann hat uns, was nicht zu leugnen ist, ein ironisches Werk von aufreizender Grausamkeit und Schonungslosigkeit gegeben. Daß das Buch vor dem Kriege entstanden ist, macht es ethisch einzig und allein erträglich; heute geschrieben, müßte man es als Ausdruck krankhaften Flagellantentums bezeichnen.
Jakob Wassermann, der zu Anfang des Krieges mit seinem Roman Das Gänsemännchen der neueren deutschen Literatur eine Dichtung von außerordentlicher Tiefe schenkte, legt jetzt in zwei Bänden die seltsames Seelengeschichte eines jungen Deutschen, Christian Wahnschaffe, vor. Sie fußt in einer Weltanschauung, in Gedankengängen, einem Stoffkreise, die auf die Anfänge aller Dichtkunst zurückgreifen. Wassermanns neues Buch ist die nach dem Himmel, nach der Erlösung anblickende Legende des Menschen und der Welt von 1919; es ist die modernste, aus der ursprünglichsten Gegenwart hervorwachsende Dichtung vom leidenden, durch irdische Entbehrung und Demut zu seelischer Befreiung und Erhebung strebenden Menschen von heute. Wer würde nicht durch den Helden des Romans, durch den mit allen glänzenden Vorzügen und Tugenden der Kultur, der Bildung, des Reichtums, der Lebensführung ausgezeichneten Christian Wahnschaffe an die Helden der alten lateinischen, deutschen, englischen Mysterienspiele und Moralitäten, an die der späteren Klosterspiele erinnert werden. Auch Christian ist ganz im Sinne lehrhafter Legenden eine Gestalt mit doppeltem Antlitze: jenem der Lebenslust und jenem der Askese, jenem der sieghaften Schönheit und dem des scheußlichen Lasters, dem der heidnischen Sinnenlust und dem der entsagenden religiösen Selbstkasteiung. Die geistige und literarische Verwandtschaft führt dann weiter über die großen psychologischen und moralisierenden Romane der Russen: über Dostojewski und Tolstoi, bis er in einem Neobuddhismus unserer Tage eine Art Glaubensbekenntnis formuliert.
Christian Wahnschaffe ist der Sohn eines jener unbegrenzt reichen Industriellen, in denen die Macht und Größe Deutschlands vor dem Kriege ihren eigentlichsten Ausdruck erhielt. Von der Natur verschwenderisch begabt, mit allen Vorzügen eines Lebemannes und Dandys ausgestattet, bildet er zunächst das Ideal eines jungen Mannes der großen Welt aus den paar führenden Familien Deutschlands. Es gibt keinen Genuß, der ihm nicht zugänglich, und keine Laune, die für ihn nicht einlösbar wäre. Sein Leben spielt sich in einem Stil ab, der bestimmt wird von unbegrenzten Einkünften, erlesenem Luxus, kultiviertester Schönheit. Dementsprechend tritt er auch kaum aus einer Umgebung, die anders empfindet. Eines Tages schießt ein Arbeiter auf seinen Vater, den Geheimrat Wahnschaffe. Dieses für sein äußeres Leben ohne weitere Folgen bleibende Geschehnis bringt ihn in Beziehung zu einem russischen Revolutionär, in weiterer Folge zum Proletariat. Vom Hochzeitsfeste seiner Schwester wandert er in die armselige Wohnung des wegen des Attentates verurteilten Arbeiters. Das menschliche Elend, das er kennen lernt, wirkt auf ihn derartig mächtig ein, daß er sich seines Vermögens entäußert, in freiwilliger Armut lebt und seinen Besitz mit Armen, am Leben Leidenden teilt. In einer elenden Matrosenschenke Hamburgs findet er die verkommene, halb vertierte Dirne Karen Engelschall. Er widmet sich ihrer Pflege und weicht bis zu ihrem Sterben nicht mehr von ihrem Lager. Christian nimmt mit diesem Leidenszug gleichsam das Kreuz auf sich, um sich selbst von dem Verbrechen seines Reichtums zu entsühnen. Er wird auch zum ruhelosen Sucher nach dem Mörder eines armen, einem Lustmorde zum Opfer gefallenen Mädchens, findet dann aber keineswegs in der Überantwortung des Mörders an die irdische Gerechtigkeit Befriedigung, sondern führt den Verworfenen zu seelischer Läuterung durch ein Geständnis, zu einer – vom Dichter allerdings bloß angedeuteten – Selbstsühne hinan…
Agitatorischer, fast inbrünstiger Trieb zum Bekennen der Menschenliebe und Menschengüte durchzieht dieses Buch; es ist in seiner Art ein Evangelium der Menschenliebe. In flammenden Worten predigt es die //Verwerflichkeit der Macht, des Reichtums und der Genußsucht. Wem noch irgend Zweifel bleibt über den Charakter von Wassermanns Buch als einem einer neuen, zeitgemäßester Sittlichkeit, der sei auf Christians Ende verwiesen: es ist eine Art „Himmelfahrt“, indem Wassermann Christian sich in Geistigkeit, im Fluidum sittlicher Reinigung einfach auflösen läßt; in dem der Dichter Christians kargen Rest von bürgerlicher Existenz im Namenlosen verschwinden läßt.
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In: Wiener Zeitung, 31.1.1919, S. 2-4.
[1] Verlag von Kurt Wolff, Leipzig.