Otto Neurath: Weltanschauung und Marxismus

Otto Neurath: Weltanschauung und Marxismus. (1931)

Ist der Marxismus selbst eine Weltanschauung (stützt er sich auf eine ganz bestimmte Philosophie) oder ist er mit deren Lehren verschiedener philosophischer Systeme vereinbar?

Diese Frage setzt stillschweigend voraus, daß es neben wissenschaftlichen Aussagen noch andere sinnvolle gäbe, die mit ihnen sinnvoll verknüpft werden können, die „philosophischen“ oder „weltanschaulichen“. Diese Annahme ist falsch. Es gibt neben der Wissenschaft keine sinnvollen Sätze philosophischer Systeme. Der Marxismus ist als Wissenschaft weder auf eine bestimmte philosophische Grundlegung angewiesen noch hat es einen Sinn, zu fragen, ob er mit verschiedenen Weltanschauungen vereinbar ist.

Es ist insbesondere dem „Wiener Kreis“ um Schlick und Carnap zu verdanken, daß der Nachweis erbracht wurde, man könne nur Scheinsätze neben den Sätzen der Wissenschaft formulieren. Ohne diesen Nachweis hier im einzelnen zu führen, seien seine Grundgedanken kurz dargelegt. 

Unter Wissenschaft wird hier ein System von Formulierungen verstanden, das uns die Möglichkeit gibt, Voraussagen über bestimmte Vorgänge zu machen. 

Nur solche Voraussagen werden zugelassen, von denen man angeben kann, wie sie bestätigt oder widerlegt werden können. Sagen wir zum Beispiel schönes Wetter voraus, so müssen wir angeben können, was für Kontrollaussagen der Wetterwarten einlaufen müßten, damit die Voraussage als bestätigt gelten soll. 

Um zu den Voraussagen zu gelangen, werden die vorhandenen Beobachtungsaussagen gesammelt, Aussagen über Regen und Temperatur, über Luftdruck und // Feuchtigkeit, bis man über Gesetze verfügt (Vorgang der Induktion), die uns die Möglichkeiten geben, durch geeignete Verknüpfungen von Korrelationen Voraussagen zu machen, die dann durch Kontrollaussagen (in A hat es geregnet, in B war Sonne usw.) überprüft werden. […]

Nicht immer kann man über Einzelvorgänge Voraussagen machen, manchmal nur über Gruppen von Vorgängen. Man kann etwa mit genügender Genauigkeit die Sterblichkeit einer Bevölkerung im nächsten Jahr voraussagen, nicht aber, ob ein bestimmter Mensch im nächsten Jahre sterben wird (Statistische Voraussagen).

Die wissenschaftliche Sprache wird so eingerichtet, daß die Beobachtungsaussagen durch Aussagen über eine einheitliche Ordnung ersetzt werden können. In allen wissenschaftlichen Aussagen wird angegeben, wann und wo sich etwas ereignet, wobei die Aussagen eines Blinden, der taub ist, eines Tauben, der blind ist, den gleichen Wortlaut haben. An die Stelle der Worte „periodisch auftretendes Hell und Dunkel“ und der den gleichen Vorgang beschreibenden Worte: „periodisch auftretendes Laut und Leise“ (wenn zum Beispiel ein Blinder mit Hilfe eines Telephons und einer Selenzelle Lichtvorgänge wahrnimmt) tritt eine gemeinsame Formulierung, in der die periodische Schwingung mit ihren sonstigen Eigenschaften ausgedrückt wird; so wie man etwa von einem „Würfel“ spricht, gleichgültig, ob man ein Sehender oder ein Tastender ist. Diese gemeinsame Sprache, die allen Sinnen, allen Menschen gleich gerecht wird, ist die Einheitssprache der Wissenschaft; ist „intersubjektiv“ und „intersensual“.

Am vollkommensten ist diese Sprache in der Physik ausgebildet worden. Sie für alle Disziplinen auszubauen, ist Aufgabe des Physikalismus. Er begründet die Einheitswissenschaft mit ihrem Schatz von Gesetzen, die alle so formuliert werden, das jedes mit jedem kombiniert werden kann. Will man zum Beispiel voraussagen, wie sich ein Volksstamm bei Gewitter benehmen werde, so muß man ebenso die Gesetze des Gewitters wie der Soziologie kennen. Es gibt zwar Gesetze einzelner Wissenschaften, die man aus der Einheitswissenschaft herausschneiden kann, man kann aber nicht jede Voraussage einer bestimmten Wissenschaft zuweisen. 

Die physikalische Einheitssprache der Einheitswissenschaft bemüht man sich so aufzubauen, daß Scheinsätze von vornherein ausgeschlossen werden. Eine Rechenmaschine läßt nicht zu, daß man Rot mit fünf multipliziert oder die Tugend aufs Quadrat erhebt. Aber unsere Sprache erlaubt, daß man von einem „Nachbar ohne Nachbar“ spricht, von einem „Sohn, der nie Vater oder Mutter gehabt“. Daß das sinnleere Begriffe sind, sieht man freilich leicht ein, Aber viele Menschen hängen an Begriffen, wie: „Kategorischer Imperativ“, und sehen nicht ohne weiteres ein, daß das eine sinnleere Wortverbindung ist. […] Eine gut gebaute wissenschaftliche Sprache verfügt über eine Syntax, die Scheinsätze, zum Beispiel über das „Nichts, das nichtet“ (Heidegger), von vornherein unmöglich macht. 

Die Ausschaltung der Scheinsätze ist sehr wichtig. Aber die dann noch übrigbleibenden Aussagen, die grundsätzlich durch Beobachtungs-// aussagen kontrolliert werden können, können noch immer falsch sein! Die gesamten Sätze primitiver Magie zum Beispiel sind irdisch, durchaus durch Beobachtungsaussagen kontrollierbar, und doch sind nur wenige davon in unserem Wissenschaftssystem wiederzufinden. Das gleiche gilt von astrologischen und anderen Behauptungen. Es bedarf ganz anderer Mittel, um zu zeigen, daß eine durch Beobachtungsaussagen grundsätzlich kontrollierbare Behauptung nicht zutrifft.

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Beschreibt man das Verhalten des Einzelmenschen im Individualbehaviorismus, so beschreibt der Sozialbehaviorismus in der empirischen Soziologie das Verhalten von Gruppen, die miteinander durch Reize verbunden sind. Menschengruppen werden ebenso wie Ameisenhaufen untersucht. Metaphysiker, wie Sombart, möchten freilich die Lehre von den Menschenhaufen in eine grundsätzlich andere Wissenschaftskategorie wie die Lehre von

den Ameisenhaufen verweisen, weil es bei den Menschengruppen ein „Verstehen“ gebe. Es läßt sich zeigen, daß alles, was damit gemeint sein kann, sich auf räumlich-zeitliche Ordnung zurückführen läßt, so daß der Monismus des Physikalismus ungebrochen ist.

[…]

Für die empirische Soziologie ist zum Beispiel die Lehre vom Staat eine Lehre von Soldaten, Richtern, Bürgern, Bauern usw. mit ihren Telephonen, Straßen, Häusern, Gefängnissen, Gesetzbüchern usw. Die Nationalökonomie ist eine Lehre von den Beziehungen zwischen Gesellschaftsordnung und Lebenslagenverteilung.

Der Marxismus ist in diesem Sinne empirische Soziologie. Wer als Marxist nach Korrelationen zwischen den einzelnen soziologischen Vorgängen sucht, bedarf keiner philosophischen Grundlegung. Man mache Voraussagen über das Eintreten von Krisen, Revolutionen, Kriegen, über die Lebenslagenverhältnisse einzelner Klassen! Die marxistische Einstellung zeigt sich darin, welche Korrelationen angenommen werden. Man hebt gewisse Vorgänge als „Überbau“ hervor und stellt fest, wie ihr Auftreten mit bestimmten Vorgängen der Produktionsordnung „Unterbau“ zusammenhängt. Der Marxist wird ganz besonders darauf achten, alle wissenschaftlichen Formulierungen, also auch die eigenen, als Überbau in Abhängigkeit vom Unterbau zu sehen, das heißt, er wird erwarten, daß gewisse Theorien erst dann auftreten, wenn soziale Umwälzungen im Gange sind. Er wird daher von der Umgestaltung der Gesellschaftsordnung Änderung der theoretischen Aussagen erhoffen.

Andererseits ist die Theorie als physikalistisches Gebilde nicht nur Symptom für bestimmte Änderungen der Lebensordnung, sondern selbst ein Faktor dieser Umgestaltung. So ändert man durch Verbreitung bestimmter Lehren die Ordnung, und schafft so neue Grundlagen für den Ausbau der Theorie. So ist im Marxismus Theorie und Praxis— beides als räumlich-zeitliches Gebilde— aufs engste miteinander verbunden. Die bürgerliche Lehre vom „neutralen“ Gelehrten, der „von außen her“ den Ablauf der Ereignisse studiere, fällt damit weg.

Es ist bemerkenswert, daß Marx und Engels, auch darin ihrer Zeit weit vorauseilend, die vielfach metaphysisch gefärbte Sprache ihrer Umgebung dazu verwendeten, um zu modernen Wendungen vorzustoßen, die vielfach geradezu an den Behaviorismus heranführen. (Deutsche Ideologie): „Die Phrasen vom Bewußtsein hören auf. Die selbständige Philosophie verliert mit der Darstellung der Wirklichkeit ihr Existenzmedium. Der »Geist« hat von vornherein den Fluch an sich, mit der Materie »behaftet« zu sein, die hier in der Form von bewegten Luftschichten, Tönen, kurz, der Sprache, auftritt. Die Sprache ist das praktische auch für andere, also auch für mich selbst existierende wirkliche Bewußtsein.“

Wer die Traditionen des Empirismus hochhält und sich daran erinnert, daß die Materialisten die hier angedeutete Lehre vorbereiteten, wird sie als „Materialismus“ bezeichnen. Wer sich davor scheut, weil die Kirche den Materialismus verfemte, das Bürgertum ihn verachtet, oder wer sich davor scheut, weil die älteren Materialisten, am Mechanismus festhaltend, nicht ohne gelegentliche metaphysische Exkurse einen Standpunkt vertraten, der gerade der beschwingten geschichtlichen Auffassung des Marxismus Hemmungen bereitete, wird die neutralere Bezeichnung „Physikalismus“ vorziehen.

Marxismus als Wissenschaft macht sinnvolle Voraussagen und enthält sich aller Scheinsätze, er hat daher weder positiv noch negativ mit den Scheinsätzen der Philosophen etwas zu tun, mögen sie wie immer formuliert sein. Um den historischen Anschluß zu gewinnen, mag die Beschäftigung mit philosophischen Lehrmeinungen sehr nützlich sein, aber wenn man einmal unter diesem Gesichtspunkt sich weltanschaulichen Studien zuwendet, ist die Erforschung der Theologie wichtiger, weil sie historisch großen Einfluß ausgeübt hat und ausübt und weil die gesamte idealistische Philosophie abgeschwächte Theologie ist.

Diese völlige Trennung von Marxismus und Weltanschauung sagt aber noch gar nichts darüber, wie sich ein Marxist, der in der Arbeiterbewegung wirkt, nun zu konkreten Vertretern weltanschaulicher Scheinsätze innerhalb der Arbeiterbewegung zu verhalten hat, wie zu den Vertretern der Weltanschauungen außerhalb der Bewegung. Die Arbeiterbewegung faßt Menschen gleicher Klasseneinstellung zusammen. Sie ist darauf aus, bestimmtes klassenkämpferisches Verhalten wichtig zu nehmen, und ist an sich weltanschaulichen Einzelneigungen gegenüber eher tolerant. Es ist geradezu ein Element bürgerlicher Taktik, die weltanschaulichen Unterschiede innerhalb der Arbeiterklasse zu betonen, um so die Klassenfront zu sprengen. Anders freilich steht die Sache, wenn die religiöse Gemeinschaft gleichzeitig politische, antiproletarische Gemeinschaft ist. Aber auch dann sind die marxistisch geschulten Freidenker nicht der unmarxistischen Anschauung, daß durch Aufklärung allzuviel zu erreichen sei, sie begnügen sich vielmehr meist damit, die Glaubenslosen zu sammeln und nur zu verhindern, daß die Kinder wieder von Jugend an einer sehr oft antiproletarisch verwerteten religiösen Erziehung ausgesetzt sind. Auch die idealistischen Philosophen treten vielfach, wenn auch unbewußt, als Werkzeuge antiproletarischer Mächte auf und können zu einer Bekämpfung im Interesse proletarischer Entfaltung herausfordern.

Innerhalb der Arbeiterpädagogik kann die Toleranz gegenüber idealistischer Philosophie manchmal dazu führen, daß die Jugend bürgerlicher‘ Ideologie näher gebracht wird, als durch die Zeitumstände ohnehin geschieht. Aber das sind Einzelprobleme, deren Beantwortung durch die Situation des Klassenkampfes bedingt ist, nicht aber durch die theoretische Einsicht, daß der Marxismus als Wissenschaft mit Weltanschauung weder positiv noch negativ irgend etwas zu tun hat.

In: Der Kampf 10 (1931), S. 447-451.