Alfred Stern: Geschlechtsmoral in Ziffern
Alfred Stern: Geschlechtsmoral in Ziffern. (1928)
Wir sterben aus!
Nicht als Notschrei ist der Ruf „Wir sterben aus!“ gedacht und nicht als Anklage die Feststellung, die neue Gesellschaftsmoral sei die Ursache dieses drohenden Aussterbens. Es handelt sich vielmehr nur um eine völlig wertungsfreie wissenschaftliche Erkenntnis von Tatsachen. An Gewicht gewinnen diese freilich dadurch, daß ein Nationalökonom vom Range des Berliner Hochschulprofessors, Geheimrat Dr. Julius Wolf, sie uns gleichsam mathematisch, mit den Ziffern des Statistikers beweist und diese Beweise gegen den Widerstand seiner Fachkollegen, insbesondere Lujo Brentanos, erfolgreich durchsetzt.
Während die Volkszahl Chinas noch in diesem Jahrhundert die erste Milliarde erreichen dürfte, sind die Geburtenziffern Europas und Amerikas in den letzten zwei Jahrzehnten auf die Hälfte gesunken. „Unabwendbar geht das Breitenwachstum der Völker abendländischer Kultur seinem Ende entgegen,“ so schließt Wolf aus den unerbittlichen Ziffern. Da die Annahme, die Geschlechtstüchtigkeit der modernen Menschheit sei gesunken, angesichts der kurzen Zeiträume, innerhalb welcher der Geburtenrückgang sich vollzogen hat, unhaltbar ist, kann nur die neue Geschlechtsmoral der zivilisierten Völker schuldtragend sein.
In seinem eben erschienen Buche „Die neuen Sexualmoral und das Geburtenproblem unserer Tage“[i] sucht Wolf diese Zusammenhänge an der Hand eines imposanten Zahlenmaterials zu begründen.
Was ist die neue Geschlechtsmoral?
Die neue Geschlechtsmoral manifestiert sich – nach Wolf – vor allem in einer bewußten Regelung der Zeugung. Der Gelehrte unterscheidet da drei Entwicklungsstufen der Zeugungswillens. Auf der ersten Stufe ist die Stellungnahme zu unerwünschten Folgen eine nachträgliche. Man behilft sich mit Aussetzen oder Tötung der Neugeborenen (z.B. in der Antike). Auf der zweiten Stufe gilt jede Eindämmung der natürlichen Folgen des
Geschlechtsverkehrs als schweres Verbrechen. Sie werden blindlings zugelassen – die Zeugung ist hier eine natur- und gottergebene. An deren Stelle tritt – auf der dritten Stufe – ein bewußter, individueller Zeugungswille oder Zeugungswiderwille, der die Kinderzahl persönlichen ökonomischen, ästhetischen, kulturellen Bedürfnissen anpaßt und dies durch planmäßige Verhütung oder willkürliche Beseitigung der Schwangerschaft erreicht.
Erst durch diese Rationisierung der Zeugung wird die Geschlechtsliebe eine „freie, von nichts mehr beschwerte Liebe, eine Liebe zur bloßen Lebenssteigerung der Liebenden“. Die „verwandelte Frau“ will nicht mehr die Sklavin des Hauses, sondern die Kameradin des Mannes sein und „mit der Kameradin seines Lebens will er verantwortungsbewußt, dabei auch dessen bewußt, was er der beiderseitigen Liebe und ihrer Erhaltung schuldet“, zeugen. Diese neue Geschlechtsmoral hat natürlich zuerst die wohlhabenden Schichten erfaßt, deren Kulturniveau bereits früher ein höheres war. Aber erst in dem Augenblicke, da die Masse mit der alten Geschlechtsmoral zu brechen begann, nahm der Geburtenrückgang, statistisch deutlich sichtbar, seinen Anfang.
Wolf weist nach, daß die Geburtenziffern nicht sanken, sondern sich eher erhöhten, so lange der soziale Aufstieg des Arbeiters nur ein materieller blieb. Erst der ungeheure kulturelle Aufschwung, den das Proletariat in den letzten Jahrzehnten nahm, führte zu einem rapiden Absinken der Geburtenziffern. Der intellektualisierte Arbeiter hatte eben die neue Geschlechtsmoral sich zu Eigen gemacht!
600.000 Abtreibungen im Jahr!
Es wäre verkehrt, zu meinen, die primäre Ursache für den Geburtenrückgang liege in der wachsenden technischen Vervollkommnung und Verbreitung der Vorbeugungsmittel. Diese sind nämlich erst eine Folge der neuen Geschlechtsmoral und der aus ihr erwachsenden Bedürfnisse. Dasselbe gilt auch von der Zunahme der Fruchtabtreibung. Wie man weiß, ist diese ja in Deutschland gesetzlich strenge verboten und darum auch sehr kostspielig. Trotzdem erreicht die Zahl der Abtreibungen im Deutschen Reiche pro Jahr mehr als 600.000 – eine Ziffer, die der Bevölkerungszahl Roms gleichkommt! Für Berlin wurde festgestellt, daß von hundert Frauen, die empfangen, vierzig die Schwangerschaft unterbrechen, davon aber nur 5% aus natürlichen Ursachen.
Sowjetrussische Geschlechtsmoral.
In Rußland dagegen ist die Fruchtabtreibung vollkommen freigegen und wird sogar in staatlichen Kliniken für Unbemittelte gratis vorgenommen. Trotzdem übersteigt die Geburtenzahl des Russischen Reiches – Wolf zählt Rußland nicht mehr zum Abendland, sondern zum Osten – die deutsche um ein Vielfaches, und die russische Bevölkerungszunahme beträgt pro Jahr nicht weniger als 2.5 bis 3.3 Millionen Menschen. Das Gros der russischen Bevölkerung macht eben von der erlaubten und kostenlosen Fruchtabtreibung nur geringen Gebrauch, da es noch nicht im Bann der neuen Geschlechtsmoral steht.
Durch sein Verbot erreicht Deutschland nur eine Bevölkerungsabnahme. Denn pro Jahr sterben dort bis zu vierzigtausend Frauen an stümperhaften Eingriffen und hunderttausende nehmen dauernden gesundheitlichen Schaden. Dagegen behauptet die russische Statistik – unter 300.000 von Ärzten vorgenommenen Eingriffen komme nicht ein einziger Todesfall vor.
Berlin und Wien – die Scheidungszentren Europas.
Ein Moment, das für den Geburtenrückgang zweifellos von gewissem Einfluß ist, aber auch durchaus dem extrem individualistischen Erscheinungskomplex der neuen Sexualmoral angehört, ist die Zunahme der Ehescheidungen. Aus einer diesbezüglichen, verblüffend interessanten Statistik Wolfs geht hervor, daß im Jahr 1926 Berlin mit seinen 7332 Scheidungen an der Spitze Europas marschierte. In Berlin allein lassen sich pro Jahr zweieinhalbmal so viel Personen scheiden wie in ganz England.
Paris, das sogenannte „Sündenbabel“, wird dagegen von den Autoren seiner frivolen Scheidungsschwänke anscheinend arg verleumdet. Denn mit seinen 4191 Scheidungen bei annähernd gleicher Bevölkerungszahl, bleibt es hinter Berlin weit zurück. Dagegen wies Wien, dessen Bevölkerungsziffer weniger als die Hälfte der Pariser beträgt, bereits im Jahr 1925 3241 Scheidungen auf, also relativ viel mehr als Paris. Selbstverständlich werden all diese Zahlen durch die Amerikas weit in den Schatten gestellt. Der Bevölkerungsziffer nach müßte die Anzahl der Scheidungen in den Vereinigten Staaten etwa zweieinhalbmal so groß sein wie die Deutschlands. In Wirklichkeit ist sie achtmal so groß. Diese Labilität der Ehe, die mit der Übertreibung des Frauenkultus in Amerika zusammenhängt, hat eine Scheu vor Kindern zur Folge. Nicht zuletzt diesem Umstande dürfte es daher zuzuschreiben sein, daß die Vereinigten Staaten zu den Ländern niedrigsten Geburtenüberschusses zählen. Amerikas Überschußziffer wird beispielsweise von der Österreichs um fast 70 Prozent übertroffen.
Deutschlands Fruchtbarkeit geringer als die Frankreichs.
Der Laie, der Wolfs Buch liest, wird vor Erstaunen kaum sich fassen, wie interessant manchmal Statistiken sein können! Wer hätte etwa gedacht, daß die französische Nachwuchsziffer (d.i. die Zahl der das erste Lebensjahr vollendenden Kinder auf 1000 Frauen im Alter von 15 bis 45 Jahren), die deutschen heute bereits um 4 Prozent übersteigt. Österreichs Nachwuchsziffer steht heute um 10% höher als die Deutschlands. In der kurzen Zeit von 1900 bis 1924 ist Deutschlands Fruchtbarkeit um 50% gesunken. Es hat heute die niedrigste Fruchtbarkeitsziffer von allen Ländern Europas. Trotzdem Österreich mit 160 Geburten auf 1000 verheiratete Frauen pro Jahr ein gutes Stück vor Deutschland steht, dessen Fruchtbarkeit mit 138 das europäische Minimum darstellt, ist unsere Republik gegenüber anderen Ländern dennoch ungünstig daran. Zwischen Wien und Berlin besteht in Hinsicht des Geburtenrückganges kaum mehr ein Unterschied. In Berlin sank die Geburtenziffer von 1911 bis 1926 von 20.8 auf 11, in Wien von 19.9 auf 12.2.
Wir gehen unter – aber wir sind zivilisiert.
Es ist uns ein schwacher Trost, daß wir uns auch damit als eines der stärkst zivilisierten Völker erweisen. Denn nach Wolf setzt das Durchdringen der neuen Sexualmoral einen hohen Grad von Intellektualität der Bevölkerung voraus. Als Beweis hierfür kann auch die Tatsache gelten, daß die weniger zivilisierten Länder vom Geburtenrückgang viel weniger betroffen wurden. Der gering zivilisierte Osten verdankt seine riesige Bevölkerungszunahme hauptsächlich dem Verharren in der teils religiös bedingten traditionellen Geschlechtsmoral. Wir beendigen die Lektüre von Wolfs Buch eigentlich mit dem Eindruck, die höchstzivilisierten Völker stünden dem Untergang am nächsten.
Wenn es Wolf gelungen ist, einen so tiefen Blick in den Mechanismus und die Motive der Bevölkerungsbewegung zu tun, so ist dies vor allem dem Umstande zuzuschreiben, daß er es wagte, das Geburtenproblem einmal nicht bloß unter dem Gesichtswinkel eine Spezialwissenschaft zu betrachten. Der Gelehrte Wolf verschmäht es nicht, auch vom praktischen Leben und dessen Niederschlag in der schönen Literatur zu lernen und erobert der Psychologie ein großes Stück neuen Bodens im Reiche der Nationalökonomie. Hier wird sie nun ebenso heimisch werden, wie sie in der Rechtswissenschaft geworden ist. Wolfs Buch ist in einem Stil von messerscharfer Logik abgefaßt, von unerbittlicher Zwangsläufigkeit in den Schlußfolgerungen, von starker Apercus und ästhetischen Wendungen. Julius Wolf beweist damit, daß Anmut der Darstellung die Würde der Wissenschaft nicht verletzen muß.
Dr. Alfred Stern.
In: Der Morgen. 5.11.1928, S. 5.
[i] Bei Gustav Fischer, Jena 1928.