G.[isela] U.[rban]: Die Erziehung der Frau zur Politik. Ein Nachklang zu den Wahlen. (1919)

Der große Tag ist vorüber, die Würfel sind ge­fallen. Im Flügelschlage eines geschichtlichen Geschehens, dessen Schoß das Zukunftsschicksal der Heimat birgt, haben unsere Frauen zum erstenmale die Feierlichkeit einer Stunde erlebt, in der das Einssein mit dem Ganzen das innerste Wesen eines jeden mit der Ge­meinschaft Fühlenden durchdringen muß. Zum erstenmale haben unsere Frauen den Puls des öffentlichen Lebens unmittelbar beeinflußt, zum erstenmale haben sie — zumeist mit ernster und bewußter Freudigkeit — die Wagschalen für die Verteilung der politischen und gesetzlichen Macht im Staate mit ihren im vollen bürgerlichen Worte erklingenden Stimme erfüllt. Die Ouvertüre zur gewaltigen Sinfonie des neuen staat­lichen Werdens ist verrauscht. Bald müssen die ersten Töne des sehnsüchtig erwarteten Werkes uns umfangen. Werden sie unsere Seelen erheben und stärken oder werden sie uns die Gegenwartslasten des Lebens noch drückender empfinden lassen…

Viele Frauen, die im Fieber der letzten Zeit aus der Gleichgültigkeit, die sie den politischen Angelegenheiten bisher entgegenbrachten, aufgescheucht wurden, glauben, daß sie mit dem Gange ins Wahllokal ihrer staatsbürgerlichen Pflicht Genüge getan haben. In diesen stürmischen Wochen, da alles zum Entscheidungskampfe rüstete und drängte, wurde ihnen die Pflicht des Wählens so eindringlich gepredigt, daß sich in ihnen die Meinung bilden mußte, der Wahlakt bedeute das Um und Auf ihrer politischen Betätigung. Nun, da die Erregung der letzten Tage so stark in uns nachzittert, daß wir das Gleichmaß des Alltagslebens noch nicht wiederfinden konnten, da die Frauen noch unter dem Eindrucke der leidenschaftlichen Werbe- und Weck­arbeit stehen, muß die volle Kraft und die unermüdliche Arbeit der Führenden mit der geistigen Schulung der Frau zur Politik beginnen. In der bildnerischen Schnellpresse der Wahlpropaganda wurde den vorher politisch ungeschulten Frauen das Wissen von der Politik nur im Lichte der Parteianschauungen und Parteiziele vermittelt. Ist es nun, da die praktische Arbeit der neuen Nationalversammlung Form und Inhalt der künftigen Staatspolitik bald erkennbar machen muß, nicht an der Zeit, die Allgemeinheit der Frauen mit dem wahren Wesen der Politik, mit ihrer konkreten Bedeutung für den Aufschwung und Nieder­gang, für Stärke und Schwäche des Staates, für Glück und Unglück der Gesamtheit und des Einzelnen im Staate vertraut zu machen, sie durch eine systematische Erziehung dazu zu führen, daß sie die Gedanken und Taten staats- und weltbewegender Politik in ihrem Inbegriff erfassen?

Wie sehr die Erziehung der Frau zum All­gemeinverständnis der Politik notwendig ist, dafür spricht das folgende kleine Erlebnis. Eine junge Frau mit der sogenannten Bildung der „höheren“ Töchter, also ohne jede Ahnung von den gestaltenden Mächten und den Ausstrahlungen der Politik, besuchte eine der vielen Wählerinnenversammlungen, weil die Referentin ihr persönlich nahestand. Nachhausegekommen erklärte die Frau ihrem Gatten: „Nun bin ich politisch ge­bildet. Ich habe das gehört, was wir Frauen wissen sollen, mehr interessiert mich nicht.“ Ist das nicht ein typisches Schulbeispiel für die oberflächliche Betrachtung des politischen Bildungsganges, für die Verkennung des politischen Wissens seitens der Frauen?

Wenn in einer Wählerversammlung die Forderungen des Augenblicks parteipolitisch gestreift werden, wenn Schlagworte durch die Luft schwirren und die Gemüter gefangen nehmen, dann meinen die Zuhörerinnen — und auch die Zuhörer — daß sie politische Hochschulweisheit aufnehmen, daß sie ihre politische Bildung vollenden. In ihrer ausflammenden Geistesbereitschaft nehmen sie sich zumeist gar nicht die Mühe, an ihre Lebensverhältnisse zu denken, ihrer persönlichen Lebens­auffassung, den Grundelementen und Neigungen des eigenen Wesens nachzuspüren und sich zu fragen, ob die Ergebnisse dieser Erforschung des persönlichen Seins und Werdenwollens, der eigenen Erfahrungen und Wünsche sie in den Strom der Parteipolitik drängen, die ihnen als die allein seligmachende gepriesen wurde. Wie können diese Frauen, die nicht einmal die Vorbedingung eines politischen Elementarunterrichtes zu erkennen vermögen, die Reife für die Einsicht aufbringen, daß politische Bildung nicht in einer Wähler­versammlung allein erworben werden kann? Daß dazu mehr gehört. So der feste Wille, alle Fragen der Gemeinschaft eifrig zu verfolgen, das Bemühen um ein eigenes Urteil, das Streben, aus allen gesetzgeberischen Entscheidungen und sonstigen staatlichen Entschließungen die Rückwirkung auf das eigene Ich und aus die Lebens­lage Anderer empfinden und formulieren zu können, und schließlich die Erkenntnis, daß in dem Ringen um politisches Verstehen das eigene Ich sich als Teil des großen Ganzen den zentralen Ideen des allgemein­menschlichen, wirtschaftlichen, sittlichen und gesellschaft­lichen Fortschrittes unterordnen muß.

Der überwiegende Teil der Frauen muß Politik erst begreifen lernen. Wie kann dies geschehen? Selbst­verständlich werden alle berufenen Organisationen durch Vorträge und Kurse, durch Diskussionen im kleinen Kreis und durch Versammlungen in größerem Stile, durch Wort und Schrift viel Aufklärungsarbeit in die noch ungebildete oder gleichgültige Menge tragen müssen. Der Kern aller dieser Belehrungen muß aber der Anschauungsunterricht sein. Die politische Seite all der Fragen, die die Frau direkt berühren, die sie in ihrem fraulichen und mütterlichen Wirkungskreise verspürt, all der Fragen, die als Frauensphäre gekennzeichnet werden, weil Frauennot und Frauenarbeit sich in ihnen widerspiegelt, muß im Anschauungsunterrichte vorerst beleuchtet und in ihren Wechselbeziehungen zu den all­gemeinen Staatszwecken erörtert werden. Aber nicht die Gedanken einer bloßen egoistischen Interessen- und Rechtsvertretung dürfen den Frauen eingegeben werden. Die Tatsache, daß alle Frauenfragen nicht Grenzgebiete, sondern Probleme der Gesamtheit sind, muß ihr Ver­ständnis für jene polit[i]schen Fragen steigern, die aus der eigenen Sphäre ins Weite hinausstreben, die im Höhenflug der inneren und äußeren Staatskunst die Stellung des Staates in der Welt bestimmen und die Entwicklung der allgemeinen Kultur beeinflussen. Und mit diesem Verständnis muß die Objektivität ihres Urteils wachsen, damit sie Fehler und Mängel, Irrtümer, Einseitigkeiten und Halbheiten richtig einschätzen lernen und zu einer Gesamtbetrachtung der tieferen Forderungen gelangen, die an die Politik gestellt werden müssen, damit sie das heiß ersehnte Königreich wahrer Menschlich­keit errichte und verwirkliche.

Die politische Schulung der Frauen ist eine Notwendigkeit im Sinne des persönlichen Vorwärtsschreitens der Frau und des staatlichen Werdeganges. Die Frauen sollen sich nicht nur als Wählerinnen fühlen, sie dürfen durch eine weitere Abschließung vom politischen Leben nicht zum „Stimmvieh“ werden, dessen Existenzberechtigung nur in Wahlperioden anerkannt wird. Als wahre Bürgerinnen des Staates müssen sie das Wirken der Politik nach neuen, eigenen Maßstäben werten lernen und mit Würde und Besonnenheit dafür sorgen, daß ihre Wertbemessungen kraft ihres Rechtes als Wählerinnen im politischen Leben Geltung erringen.

In: Die Frau, 19.2.1919, S. 2.

Sozialdemokratisches Frauenreichskomittee: Frauen und Mädchen des Proletariats! (1918)

In ernster Stunde sprechen wir zu euch, um euch aufzufordern, die Notwendigkeit der Zeit zu erkennen. Alles Alte wankt und stürzt, Einrichtungen, die im Sinne des Volkes als ewig feststehend, als unab­änderlich galten, versinken, Neues entsteht und wächst heran. Die Wucht des schon über vier Jahre währenden schreckensvollen Krieges, unter der so viele Menschenleben verblutet sind, die Elternfreude und Eheglück begraben hat, die das Wohl von Millionen zerstampft und unermeßliche Werte vernichtet hat, diese Wucht zertrümmert auch Staaten und reißt auseinander, was ewig zusammenzugehören schien.

In dieser Zeit der Neugeburt von Nationen können und dürfen die einzelnen nicht untätig bleiben. Wenn aus Blut und Rauch eine neue Welt entsteht, dann muß es eine bessere Welt werden. Eine bessere Welt für das so lange gepeinigte Proletariat, für die in vielfacher Knechtschaft lebenden Frauen. Die Weltgeschichte kennt schon viele Umwälzungen, aber noch keine hat vermocht, die Frau zu einem gleich­berechtigten Wesen zu machen. Immer ist die Frau eine minderwertige Staatsbürgerin geblieben. Und weil sie als Staatsbürgerin minderwertig war und bis heute ist, ist sie auch als Arbeiterin unterdrückter, ausgebeuteter als der Arbeiter.

Überall, wo immer wir den Blick auf Frauen lenken, sehen wir sie in größerer Unfreiheit, Unterwürfigkeit und Abhängigkeit als den Mann. Das Zeitalter der Fabriken hat zwar der Frau das Recht eingeräumt, ihre Arbeitskraft zu verkaufen und überall tätig zu sein, wo menschliche Arbeitskraft notwendig ist. Aber die Frau ist überall eine schlechter bezahlte Arbeitskraft. Selbst wenn sie die gleiche Arbeit leistet, gibt es Mittel und Wege, ihr den gleichen Lohn vorzuenthalten.

Man hat mit dem System der schlechteren Ent­lohnung die Frauen zu größerer Genügsamkeit, zu größerer Entbehrung, und damit zur Schwächung ihres Körpers, zum früheren Schwinden der Jugendblüte und Gesundheit verurteilt.

Die Frauen sind durch Jahrhunderte zu Märtyrerinnen erzogen worden. Sie nehmen das Dulden und Entbehren als etwas hin, das nicht abzuändern ist. Damit werden aber die Frauen als Arbeiterinnen zu Schädigerinnen der Arbeiterschaft überhaupt. Die geduldigen und billigen Arbeiterinnen sind dem Arbeitgebereine willkommene Gelegenheit, um auch den Lohn der Männer zu drücken.

Arbeiterinnen! Wir stehen vor dem Ende des Krieges. Der Friede kommt endlich, endlich in sichtbare Nähe. Das Kriegselend wird ein Ende nehmen. Sollen wir es nur eintauschen gegen vermehrtes, ebenso drückendes, würgendes Elend im Frieden? Die Menschheit ist erschöpft, die Kraft jedes einzelnen durch die Hungerjahre geschwächt, nicht fähig, noch länger Elend zu ertragen.

Da ist es Pflicht, daß die Arbeiterinnen sich aufraffen, daß alle, die den Reihen der Organisation der sozialdemokratischen Partei noch fernstehen, das Versäumte nachholen. Jede Arbeiterin, die will, daß nach dem Krieg nicht wieder Ausbeutung und Hunger, Not und Elend die Welt beherrschen, muß Mitglied der sozialdemokratischen Frauenorganisation werden!

Jede Frau, die entschlossen ist, der knechtischen Stellung der Frau ein Ende zu machen, muß in den Reihen der sozialdemokratischen Partei für die neue Gesellschaftsordnung, für den Sozialismus kämpfen.

Man hat die Jahre des Krieges die „große Zeit“ genannt. Welch eine Verhöhnung, einen Zustand „groß“ zu nennen, wo Millionen Menschen hingeschlachtet werden und hunderttausende Frauen in den Dienst des Krieges gestellt werden, täglich, ja stündlich, ebenfalls dem Tode entgegensetzend.

Groß ist die Zeit, die jetzt angebrochen ist. Die Zeit der Umwälzungen, die Zeit, wo das Alte stürzt und das Neue geboren wird. Da wollen und müssen sich die Frauen der Aufgaben bewußt sein, die diese Zeit auch ihnen stellt. Wenn neue Staaten gebildet werden, wollen und müssen die Frauen mutig, entschieden und selbstbewußt sich erheben und für die Forderung, eintreten, daß die neue Zeit auch ihnen gibt, was ihnen nach Recht und Billigkeit zukommt. In den demokratischen Staaten, die im Entstehen sind und zu denen sich auch das alte Österreich umbildet, müssen Freiheit und Gleichheit, Bürgerrecht haben. Auch für die Frauen. Wenn gedrückte und geknebelte Völker auferstehen zur Freiheit, dürfen die Frauen dieser Völker nicht in Knechtschaft und Unfreiheit bleiben.

Frauen, wacht auf! Sammelt euch um die Fahne, die euch zur Gleichheit und Freiheit, zur Menschenwürdigkeit führen soll!

Frei und gleich sei das Ziel der Frauen!

Frei und gleich als Staatsbürgerin und Arbeiterin!

Wir laden euch ein, zu uns zu kommen, als unsere Mitglieder und Kampfgenossinnen.

Das sozialdemokratische Frauenreichskomitee

In: Arbeiterinnen-Zeitung, Nr. 21, 22.10.1918.

Elsa Tauber: Neu-Österreich und die Frauen (1918)

Umgestaltung, wohin man blickt und hört. Alles Alte ist unbrauchbar geworden, der Umsturz hat kommen müssen, nicht weil ihn einzelne oder selbst ganze Völkerklassen gewollt haben, sondern weil er ein Zwang der Notwendigkeit war. Alle traditio­nellen Begriffe von Herren und Dienern, von niedriger und höherer Bevölkerungsschichte haben ihre Geltung verloren, das Volk läßt sich nicht mehr regieren, will nicht mehr blindlings gehorchen müssen, wenn man das Blut seiner Kinder für imaginäre Werte von ihm fordert. Selber will es sein Schicksal bestimmen und nur seine eigenen Beschlüsse sollen maßgebend sein für die Gestaltung seiner Zukunft. Das Volk — es besteht aus Männern und Frauen. Schon ist an bedeutungsvoller Stelle das Wort ausgesprochen worden, ein von Männern und Frauen gewählter Rat soll Österreichs Geschicke steuern. Ob auch ein aus Männern und Frauen zusammengesetzter Rat? Es liegt kein Grund vor, an dieser Annahme zu zweifeln. Der heilsame Sturm, der jetzt durch das Bestehende fährt und alte Traditionen um­reißt, daß sie an ihrer Morschheit krachend zusammenbrechen, wird hoffentlich auch die unsinnigen und unbegründeten Vorurteile gegen die offizielle Betätigung der Frauen hinwegfegen.

Seien wir ehrlich: Schlechter hätte es, auch dann nicht kommen können, wenn Frauen schon bisher ein mitbestimmendes Wort zu reden gehabt hätten. Auch sie hätten nicht kurzsichtiger und verständnisloser den unausweichlichen Anforderungen des Tages gegenüberstehen können, als es gewiegte österreichische Staatsmänner taten. Wenn es froh macht, nicht mitverantwortlich an schlechten und falschen Maßnahmen zu sein, dann können Österreichs Frauen heute jubeln. Aber sie sind viel zu lange schon politisch reif, als daß sie sich, darüber freuen könnten, unbeteiligt an dem gegenwärtigen Debacle zu sein. Denn diese Frauen sind auch Hausfrauen, die jetzt mit vorwurfs­vollsten Zweifeln fragen: Wäre es so weit mit unserer Ernährung gekommen, wenn wir im Rate der Gemeinde und des Staates eine Stimme gehabt hätten? Diese Frauen sind Mütter, deren verzweifelte Anklage dahin geht, daß sie ihre Söhne widerspruchslos für längst entwertete Phantome opfern mußten.

Das alte Österreich ist tot. Niemand wird dem, was damit starb, eine Träne nachweisen, es sei denn jene Kaste, der nun die Führung aus den längst altersschwachen Händen ge­nommen wurde. Aus den Ruinen soll neues Leben entstehen und nun harren die Frauen, ob sich die Erkenntnis Bahn brechen wird, daß auch sie ihren Platz in der Öffentlichkeit verdienen. Die Erkenntnis besteht eigent­lich längst. Aus ihr stammt die immer lauter zum Ausdruck gelangende, Sorge, die Frauen würden sich mit dem bescheidenen Platz in der Häuslichkeit nicht mehr begnügen, nachdem sie einmal im Erwerbsleben ihre Kräfte erprobt haben. Nur Böswilligkeit kann der Frauenarbeit Unzulänglichkeit nachsagen. Und wenn nicht jede einzelne ihren Platz musterhaft ausfüllte, so liegt dies daran, daß nicht jeder Mensch ein Muster an Pflichterfüllung ist, die Männer genau so wenig wie die Frauen. Der Beweis aber, daß der Durchschnitt der Frauen ihre Arbeit schlechter versieht als der Durchschnitt der Männer bei gleichem Alter und gleicher Bezahlung — dieser Beweis wäre erst zu erbringen.

Jene Demokraten, die Österreichs Verwaltung jetzt hoffentlich in die Hand nehmen und zum allgemeinen Heile durchführen werden, schätzen Frauenarbeit und  Frauenverständnis schon lange richtig ein. In ernster Stunde sei es aber in Erinnerung gebracht, daß die Frauen nicht mehr und nichts anderes sein wollen, als was sie sind. Den Frauen ist es nicht darum zu tun, den Mann vom Arbeitsmarkt zu verdrängen und sich dadurch jede Aussicht auf eine gutfundierte Ehe zu zerstören. Sie will nur nicht als Hausfrau in die voll­ständige Abhängigkeit vom Manne geraten, und weil die richtige Wertschätzung der Frau offiziell noch nicht besteht, versuchen die meisten instinktiv oder bewußt, sich im Kleinkampf persönlich die Stellung zu erwerben, die ihnen zukommt. Eine politische Anerkennung der Frauenrechte würde daher nicht, wie häufig be­fürchtet, eine Vernichtung aller vielgerühmten weiblichen Eigen­schaften, sondern deren neuerliche Entfaltung bringen. Der Besitz überhebt des Kampfes darum, und eine Selbstverständlichkeit, wie es die anerkannten politischen Frauenrechte in absehbarer Zeit hoffentlich sein werden, verursacht nicht einmal Aufmerksamkeit, geschweige denn Beachtung.

Es widerstrebt beinahe heute schon, die Widersinnigkeit der Verknüpfung politischer Rechte mit dem Geschlecht an dem Analphabeten irgendwo in einer Dorfhütte des Hochgebirges und der akademisch graduierten Frau zu beweisen. Dieses Beispiel hat jedoch im Laufe der letzten Jahre nur an Schlagkraft gewonnen, denn immer größer wird die Anzahl der Frauen, deren geistige Entwicklung steigt, immer größer wird leider auch die Zahl derer, die nicht mehr damit rechnen können, in der Ehe Schutz und Zuflucht zu finden, sondern den Kampf ums Dasein aus eigenen Füßen stehend ausfechten müssen. Sie alle haben ein Recht darauf, als vollwertige Staatsbürger endlich auch in anderer Weise anerkannt zu werden, als dadurch, daß sie die volle Steuer plus 10% für Alleinstehende zu entrichten haben. Sie dürfen in einer Volksvertretung einen Platz für sich fordern, ebenso die Frauen, die in ihren Haushaltungspflichten auf­gehen, und alle anderen, die einer Kategorie von Männern mit politischen Rechten entsprechen. Das Dienstmädchen, das zur Wahl­urne geht, bietet dem logischen Denker nicht mehr Stoff zur Verspottung wie der Hausknecht im gleichen Fall, und schon oft hat eine Sache von der Karikatur in den Witzblättern aus ihren Siegeszug durch die Weit genommen.

Über die politischen Forderungen der Frauen wird übrigens schon lange nicht mehr gelacht. Sie sind gewissen Kreisen höchstens so unangenehm gewesen wie die Forderungen der Demokraten. Mit diesen zugleich werden sie hoffentlich jetzt an­erkannt werden.

In: Neues Wiener Journal, 26.10.1918, S. 4.

N.N. [Originalbericht der Red.]: Die internationale Frau. Heimatgefühl und Chauvinismus. (1921)

Von Wien, vom Internationalen Frauenkongreß, dringt in diesen Tagen die Mahnung zum Frieden in die Well hinaus. Wie eine Festschrift zu diesem Ereignis wirkt da die kleine Broschüre, die Rosa Mayreder eben jetzt unter dem Titel Die Frau und der Internationalismus (Verlag Frisch& Ko) erscheinen läßt. Rosa Mayreder gehört zu Wiens ältesten, maßvollsten, aber auch klügsten und darum am meisten geschätzten Frauenführerinnen. Wenn sie mit ihrer blendenden Dialektik eine Sache vertritt, so versteht sie es meisterhaft, ihr Freunde zu gewinnen. Dafür bildet ihr neuestes Werkchen wieder einen unwiderleglichen Beweis. Auf kaum dreißig Druckseiten erörtert sie die Frage der veränderten Stellung der Frau in der Welt seit den Tagen, da rohe Kraft über die Vorherrschaft der Geschlechter und der Nationen entschied. Noch immer — schreibt sie — fühlen sich viele Frauen am wohlsten, wenn sie von starken Männerhänden geleitet werden. Das sind die konservativen, die „guten“ Frauen im althergebrachten Sinn. Aber halten die vielgepriesenen Qualitäten dieser Frauen der modernen Kritik stand? Dürfen Frauen einfach nachbeten, was ihnen seit Generationen, ja seit den Tagen, da die Macht des Stärkeren einzig Recht schuf, vorgesagt wird? Frauen haben die Pflicht, ihre Kinder zu modernen Menschen heranzuziehen, ihre Ausgabe ist es, den Heranwachsenden die Schlagworte einzuprägen, die ihnen als Eindrücke der ersten Kindheit unbewußt zu Richtlinien für das ganze Leben werden. Dürfen sie da heute im Zeitalter der durch den Krieg allerdings grausam gestörten, durch ihn aber noch stärker ins Bewußtsein getretenen Humanität an Schlagworten festhalten, die den Mord und die Zerstörung heiligen, ja letzten Endes ihren eigenen Kindern den Opfertod „auf dem Felde der Ehre“ zur Selbstverständlichkeit machen?

Die Liebe zur Heimat bildet den Ansporn, im Falle der Gefahr das Vaterland zu verteidigen, und zum Räuber und Mörder zu werden. Rosa Mayreder bringt nun den in der Zeit hochgehender nationaler Erregungen gewiß nicht zu unterschätzenden Mut auf, das Nationalgefühl von seinem natürlichen Ursprung bis zu seiner krankhaften Entartung zu beleuchten. Die Liebe zur Heimat wohnt nahezu in der Brust eines jeden normal empfindenden Menschen, sie ist auch tief begründet, denn der Mensch ist ein Produkt des Klimas, der Bodenverhältnisse, der Sitten und Gebräuche seines Landes, seine Sprache ist ihm heilig und sein Wunsch, diese Sprache, auch in seinen Kindern und Kindeskindern lebendig zu erhalten, erscheint nur zu begreiflich. Ein Heimatgefühl dieser Art wird jedermann achten, und er wird es vielleicht sogar verstehen, wenn die eine oder andere Nationaleigenschaft den Stolz der Volkszugehörigen eines gewissen Landes erweckt. Aber erwächst daraus das Recht, nur das gut, schön und edel zu finden, was der eigene Volkscharakter zeigt, und alles jenseits der Grenzpfähle mit überlegener Verachtung, ja mit latentem Haß zu betrachten, der bei jeder Gelegenheit aufloht? Entgegen der Ansicht aller glühenden Nationalisten, die dieses leicht mitreißende Schlagwort entweder selbst politisch ausbeuten oder ihm zur Beute fallen, betont die mutige Autorin, daß Nationalfanatismus nichts weiter als ein Produkt von Schlagworten ist, das in der modernen Kulturwelt längst keinen Raum mehr haben sollte. Die Kulturwerte der verschiedensten Nationen, ihre Dichtungen, ihre Musik, ihre Erfindungen und Entdeckungen auf wissenschaftlichem Gebiet sind längst Gemeingut aller Gebildeten geworden. Die Schranken des Nationalismus wurden überall dort, wo es sich um geistige Werte handelt, aus dem Weg geräumt, bei aller  Anerkennung der Tatsache, daß bodenständige Kunst die wertvollste ist, und nur in der Politik kennt man noch den Nationalfanatismus als Hetzmittel. Er aber bewegt sich ganz in der Sphäre kriegerischer Werte, deren Überwindung die Frauenbewegung zum Ausgangspunkt ihrer Propaganda nahm. Man hat dann ihren Anhängerinnen und darüber hinaus dem ganzen weiblichen Geschlecht den Vorwurf gemacht, daß ihm der nationale Sinn fehle, alleinabgesehen davon, daß es leider sehr viele Frauen gibt, die nationalistischen Anschauungen huldigen, haben sich nicht auch viele Männer für den internationalen Gedanken eingesetzt? Goethe war der Ansicht, daß der Nationalhaß am stärksten auf der untersten Stufe der Kultur zu finden sei und von Grillparzer stammt der Ausspruch: „Von Humanität durch Nationalität zur Bestialität“ Das Zurücksinken der Menschen auf eine überwunden geglaubte Entwicklungsstufe ist das trostlose Charakteristikum der Gegenwart. Betrachten wir den durch den Nationalismus herbeigeführten Zustand der Welt, dann kann man sich eines Gefühls der Scham darüber nicht erwehren.

Aber gerade diese Gegenwart mit all ihren Schrecknissen bildet auch wieder den Antrieb für geistig hochstehende Menschen, // zu den Vorkriegsidealen der Humanität zurückzufinden uns den Nationalismus auf seine wohltuenden Einflüsse einzuschränken. Immer mehr befreit sich der moderne Mensch von Fesseln, die ihn und seinen Gesichtskreis einengten. Der Familienbegriff hat eine neue Form angenommen, insbesondere die erwerbende Frau spielt heute in der Familie eine neue Rolle, und wenn Rosa Mayreder auch vielleicht mit ihrer Behauptung, das Zusammen­gehörigkeitsgefühl durch Familienbande habe viel von dem einstigen Ansehen verloren, ein wenig zu weit geht, so ist es doch richtig, daß zumindest die Stellung der einzelnen Familienmitglieder zu einander anders geworden ist. Überall sind die Grenzen weiter gezogen, die Gemeinschaften der Angehörigen eines Standes oder einer Konfession schließen sich nicht mehr gegeneinander ab, und wer weiß, wie bald nach der jetzigen Überspannung des Nationalitätsgefühles auch hier der versöhnlichere Umschwung eintritt. In allen Staaten gibt es bereits Frauen, die diese neue Überzeugung vorbereiten, die nicht mehr im passiven Dulden zusehen wollen, wie die Menschen durch ihre Erziehung auseinander gehetzt werden. Noch weiß niemand, ob die Bestrebungen, den Krieg aus der Welt zu schaffen, von Erfolg begleitet sein werden. Jedenfalls aber wäre für den Weltfrieden viel gewonnen, wenn alle Frauen über die Frage des Internationalismus wie Rosa Mayreder denken würden. Achtung vor dem Nachbarn, nicht Haß gegen ihn soll die Menschheit erfüllen, dann entfällt jede Ver­anlassung zum Krieg von selbst.

In: Neues Wiener Journal, 16.7.1921, S. 3-4.

Alfred Stern: Geschlechtsmoral in Ziffern. (1928)

Wir sterben aus!

Nicht als Notschrei ist der Ruf „Wir sterben aus!“ gedacht und nicht als Anklage die Feststellung, die neue Gesellschaftsmoral sei die Ursache dieses drohenden Aussterbens. Es handelt sich vielmehr nur um eine völlig wertungsfreie wissenschaftliche Erkenntnis von Tatsachen. An Gewicht gewinnen diese freilich dadurch, daß ein Nationalökonom vom Range des Berliner Hochschulprofessors, Geheimrat Dr. Julius Wolf, sie uns gleichsam mathematisch, mit den Ziffern des Statistikers beweist und diese Beweise gegen den Widerstand seiner Fachkollegen, insbesondere Lujo Brentanos, erfolgreich durchsetzt.

Während die Volkszahl Chinas noch in diesem Jahrhundert die erste Milliarde erreichen dürfte, sind die Geburtenziffern Europas und Amerikas in den letzten zwei Jahrzehnten auf die Hälfte gesunken. „Unabwendbar geht das Breitenwachstum der Völker abendländischer Kultur seinem Ende entgegen,“ so schließt Wolf aus den unerbittlichen Ziffern. Da die Annahme, die Geschlechtstüchtigkeit der modernen Menschheit sei gesunken, angesichts der kurzen Zeiträume, innerhalb welcher der Geburtenrückgang sich vollzogen hat, unhaltbar ist, kann nur die neue Geschlechtsmoral der zivilisierten Völker schuldtragend sein.

In seinem eben erschienen Buche „Die neuen Sexualmoral und das Geburtenproblem unserer Tage“[i] sucht Wolf diese Zusammenhänge an der Hand eines imposanten Zahlenmaterials zu begründen.

Was ist die neue Geschlechtsmoral?

Die neue Geschlechtsmoral manifestiert sich – nach Wolf – vor allem in einer bewußten Regelung der Zeugung. Der Gelehrte unterscheidet da drei Entwicklungsstufen der Zeugungswillens. Auf der ersten Stufe ist die Stellungnahme zu unerwünschten Folgen eine nachträgliche. Man behilft sich mit Aussetzen oder Tötung der Neugeborenen (z.B. in der Antike). Auf der zweiten Stufe gilt jede Eindämmung der natürlichen Folgen des

Geschlechtsverkehrs als schweres Verbrechen. Sie werden blindlings zugelassen – die Zeugung ist hier eine natur- und gottergebene. An deren Stelle tritt – auf der dritten Stufe – ein bewußter, individueller Zeugungswille oder Zeugungswiderwille, der die Kinderzahl persönlichen ökonomischen, ästhetischen, kulturellen Bedürfnissen anpaßt und dies durch planmäßige Verhütung oder willkürliche Beseitigung der Schwangerschaft erreicht.

Erst durch diese Rationisierung der Zeugung wird die Geschlechtsliebe eine „freie, von nichts mehr beschwerte Liebe, eine Liebe zur bloßen Lebenssteigerung der Liebenden“. Die „verwandelte Frau“ will nicht mehr die Sklavin des Hauses, sondern die Kameradin des Mannes sein und „mit der Kameradin seines Lebens will er verantwortungsbewußt, dabei auch dessen bewußt, was er der beiderseitigen Liebe und ihrer Erhaltung schuldet“, zeugen. Diese neue Geschlechtsmoral hat natürlich zuerst die wohlhabenden Schichten erfaßt, deren Kulturniveau bereits früher ein höheres war. Aber erst in dem Augenblicke, da die Masse mit der alten Geschlechtsmoral zu brechen begann, nahm der Geburtenrückgang, statistisch deutlich sichtbar, seinen Anfang.

Wolf weist nach, daß die Geburtenziffern nicht sanken, sondern sich eher erhöhten, so lange der soziale Aufstieg des Arbeiters nur ein materieller blieb. Erst der ungeheure kulturelle Aufschwung, den das Proletariat in den letzten Jahrzehnten nahm, führte zu einem rapiden Absinken der Geburtenziffern. Der intellektualisierte Arbeiter hatte eben die neue Geschlechtsmoral sich zu Eigen gemacht!

600.000 Abtreibungen im Jahr!

Es wäre verkehrt, zu meinen, die primäre Ursache für den Geburtenrückgang liege in der wachsenden technischen Vervollkommnung und Verbreitung der Vorbeugungsmittel. Diese sind nämlich erst eine Folge der neuen Geschlechtsmoral und der aus ihr erwachsenden Bedürfnisse. Dasselbe gilt auch von der Zunahme der Fruchtabtreibung. Wie man weiß, ist diese ja in Deutschland gesetzlich strenge verboten und darum auch sehr kostspielig. Trotzdem erreicht die Zahl der Abtreibungen im Deutschen Reiche pro Jahr mehr als 600.000 – eine Ziffer, die der Bevölkerungszahl Roms gleichkommt! Für Berlin wurde festgestellt, daß von hundert Frauen, die empfangen, vierzig die Schwangerschaft unterbrechen, davon aber nur 5% aus natürlichen Ursachen.

Sowjetrussische Geschlechtsmoral.

In Rußland dagegen ist die Fruchtabtreibung vollkommen freigegen und wird sogar in staatlichen Kliniken für Unbemittelte gratis vorgenommen. Trotzdem übersteigt die Geburtenzahl des Russischen Reiches – Wolf zählt Rußland nicht mehr zum Abendland, sondern zum Osten – die deutsche um ein Vielfaches, und die russische Bevölkerungszunahme beträgt pro Jahr nicht weniger als 2.5 bis 3.3 Millionen Menschen. Das Gros der russischen Bevölkerung macht eben von der erlaubten und kostenlosen Fruchtabtreibung nur geringen Gebrauch, da es noch nicht im Bann der neuen Geschlechtsmoral steht.

Durch sein Verbot erreicht Deutschland nur eine Bevölkerungsabnahme. Denn pro Jahr sterben dort bis zu vierzigtausend Frauen an stümperhaften Eingriffen und hunderttausende nehmen dauernden gesundheitlichen Schaden. Dagegen behauptet die russische Statistik – unter 300.000 von Ärzten vorgenommenen Eingriffen komme nicht ein einziger Todesfall vor.

Berlin und Wien – die Scheidungszentren Europas.

Ein Moment, das für den Geburtenrückgang zweifellos von gewissem Einfluß ist, aber auch durchaus dem extrem individualistischen Erscheinungskomplex der neuen Sexualmoral angehört, ist die Zunahme der Ehescheidungen. Aus einer diesbezüglichen, verblüffend interessanten Statistik Wolfs geht hervor, daß im Jahr 1926 Berlin mit seinen 7332 Scheidungen an der Spitze Europas marschierte. In Berlin allein lassen sich pro Jahr zweieinhalbmal so viel Personen scheiden wie in ganz England.

Paris, das sogenannte „Sündenbabel“, wird dagegen von den Autoren seiner frivolen Scheidungsschwänke anscheinend arg verleumdet. Denn mit seinen 4191 Scheidungen bei annähernd gleicher Bevölkerungszahl, bleibt es hinter Berlin weit zurück. Dagegen wies Wien, dessen Bevölkerungsziffer weniger als die Hälfte der Pariser beträgt, bereits im Jahr 1925 3241 Scheidungen auf, also relativ viel mehr als Paris. Selbstverständlich werden all diese Zahlen durch die Amerikas weit in den Schatten gestellt. Der Bevölkerungsziffer nach müßte die Anzahl der Scheidungen in den Vereinigten Staaten etwa zweieinhalbmal so groß sein wie die Deutschlands. In Wirklichkeit ist sie achtmal so groß. Diese Labilität der Ehe, die mit der Übertreibung des Frauenkultus in Amerika zusammenhängt, hat eine Scheu vor Kindern zur Folge. Nicht zuletzt diesem Umstande dürfte es daher zuzuschreiben sein, daß die Vereinigten Staaten zu den Ländern niedrigsten Geburtenüberschusses zählen. Amerikas Überschußziffer wird beispielsweise von der Österreichs um fast 70 Prozent übertroffen.

Deutschlands Fruchtbarkeit geringer als die Frankreichs.

Der Laie, der Wolfs Buch liest, wird vor Erstaunen kaum sich fassen, wie interessant manchmal Statistiken sein können! Wer hätte etwa gedacht, daß die französische Nachwuchsziffer (d.i. die Zahl der das erste Lebensjahr vollendenden Kinder auf 1000 Frauen im Alter von 15 bis 45 Jahren), die deutschen heute bereits um 4 Prozent übersteigt. Österreichs Nachwuchsziffer steht heute um 10% höher als die Deutschlands. In der kurzen Zeit von 1900 bis 1924 ist Deutschlands Fruchtbarkeit um 50% gesunken. Es hat heute die niedrigste Fruchtbarkeitsziffer von allen Ländern Europas. Trotzdem Österreich mit 160 Geburten auf 1000 verheiratete Frauen pro Jahr ein gutes Stück vor Deutschland steht, dessen Fruchtbarkeit mit 138 das europäische Minimum darstellt, ist unsere Republik gegenüber anderen Ländern dennoch ungünstig daran. Zwischen Wien und Berlin besteht in Hinsicht des Geburtenrückganges kaum mehr ein Unterschied. In Berlin sank die Geburtenziffer von 1911 bis 1926 von 20.8 auf 11, in Wien von 19.9 auf 12.2.

Wir gehen unter – aber wir sind zivilisiert.

Es ist uns ein schwacher Trost, daß wir uns auch damit als eines der stärkst zivilisierten Völker erweisen. Denn nach Wolf setzt das Durchdringen der neuen Sexualmoral einen hohen Grad von Intellektualität der Bevölkerung voraus. Als Beweis hierfür kann auch die Tatsache gelten, daß die weniger zivilisierten Länder vom Geburtenrückgang viel weniger betroffen wurden. Der gering zivilisierte Osten verdankt seine riesige Bevölkerungszunahme hauptsächlich dem Verharren in der teils religiös bedingten traditionellen Geschlechtsmoral. Wir beendigen die Lektüre von Wolfs Buch eigentlich mit dem Eindruck, die höchstzivilisierten Völker stünden dem Untergang am nächsten.

Wenn es Wolf gelungen ist, einen so tiefen Blick in den Mechanismus und die Motive der Bevölkerungsbewegung zu tun, so ist dies vor allem dem Umstande zuzuschreiben, daß er es wagte, das Geburtenproblem einmal nicht bloß unter dem Gesichtswinkel eine Spezialwissenschaft zu betrachten. Der Gelehrte Wolf verschmäht es nicht, auch vom praktischen Leben und dessen Niederschlag in der schönen Literatur zu lernen und erobert der Psychologie ein großes Stück neuen Bodens im Reiche der Nationalökonomie. Hier wird sie nun ebenso heimisch werden, wie sie in der Rechtswissenschaft geworden ist. Wolfs Buch ist in einem Stil von messerscharfer Logik abgefaßt, von unerbittlicher Zwangsläufigkeit in den Schlußfolgerungen, von starker Apercus und ästhetischen Wendungen. Julius Wolf beweist damit, daß Anmut der Darstellung die Würde der Wissenschaft nicht verletzen muß.

Dr. Alfred Stern.

In: Der Morgen. 5.11.1928, S. 5.


[i] Bei Gustav Fischer, Jena 1928.

Bertha Pauli: Jugend von heute.

             „Sechs Pagen und sechs Mädchen, weiß gekleidet, mit rosenroten Leibchen, mit Schleifen und wirklichen Rosen verziert, tanzen herein und gruppieren sich zu beiden Seiten der Tür. Dann hüpft die Jugend herein, weißes Trikot, rosenrote Weste, am Kragen mit Rosen garniert, grünem Frack, dreieckigen Hut mit Rosenschleife. Das Beinkleid mit rosenroten Bändern gebunden.“ So schwebte unserem großen Volksdichter Raimund die Verkörperung der Jugend vor für jene unvergängliche Szene im „Bauer als Millionär“, die Wilhelm Scherer den schönsten Allegorien der Weltliteratur zur Seite gestellt hat. Und jedem Österreicher, der sich ihrer traulich schlichten Symbolik erinnert, summt es im Ohr: „Brüderlein fein, Brüderlein fein…“

             Wie würde ein heimischer Poet unserer Zeit die Jugend verkörpern? Wohl bleibt sie im Grunde dieselbe, so lange Menschen atmen, dieselbe in ihrer Elastizität gegenüber den Schlägen des Schicksals, ihrer Lebenskraft und Empfänglichkeit und dem Reichtum an Hoffnung, der sich vor ihr ausbreitet wie ein Märchenwald und sie trennt von dem fernen düsteren Allbezwinger Tod. Und doch, den Rosenflor, die Atlashöschen und den hüpfenden Dreivierteltakt würde ein Künstler von heute kaum mehr wählen, um die Jugend zu versinnlichen. Die Ausdrucksformen unserer Zeit sind andere geworden. Die Jugend ist ewig wie der Sonnenaufgang; aber ihre Vertreter hienieden schauen nicht mehr mit denselben Augen in die Welt wie die Kinder des Vormärz, und die ältere Generation betrachtet mit stark geänderter Empfindung den Frühling des Daseins. Wir sind vertrauter mit seinen Stürmen. Wir haben – vielleicht genauer als unsere Vorfahren – das Leid der Jugend kennen gelernt. Wir sind uns bewußter der physischen Entbehrungen und des geistigen Mangels, die Tausende nur kümmerlich heranreifender Körper und Seelen bedrücken, wir sehen deutlicher die physischen Kämpfe der Pubertät, der wachsenden Erkenntnis, die sich oft verzweifelt auflehnt gegen die Nüchternheit und Niedrigkeit des alten Jammertales. Und wir erfahren gegenwärtig auch mit Schaudern, wie der jugendliche Idealismus, der einst „den Himmel offen“ sah und in enthusiastischer Hingabe sich entlud, erstickt, pervertiert wird in Rohheit. Zuweilen scheint es, als lösten sich für unsere Jugend „alle Bande frommer Scheu“, die der Zivilisation unentbehrlichen Hemmungen, hervorgerufen durch innere Würde und Menschlichkeit, aber keineswegs die Bande des Vorurteils und aller Art geistiger Beschränktheit. Unerhörte Vorgänge wie die Exzesse an unserer Universität, Schandtaten wie die Mißhandlung einer Studentin durch ihre männlichen Kollegen werfen grelle Schlaglichter auf die Generation, die unsere Zukunft bedeutet. Und leicht erliegt man der Ver-//suchung, sich die Jugend von heute statt mit dem Rosenzweig mit der Waffe des Meuchlers oder mit Gummiknüttel und Schlagring vorzustellen. Das Eklatante, das Sensationelle ist es ja, was urteilsbestimmend wirkt – und so oft Fehlurteile erzeugt. Nie soll vergessen werden, daß den jungen Leuten, die ihre Rowdymethoden als Propaganda für Deutschtum ausgeben (in Wahrheit gibt es keine plausiblere Entschuldigung für das gehässige Vorurteil gegen den ‚boch‘!), eine weit zahlreichere österreichische Jugend gegenübersteht, die Menschenwürde ebenso für sich erstrebt und bewahrt als im anderen achtet. Die Ausschreitungen jugendlicher Vertreter höheren Wissens, die nicht ahnen, daß Bildung – wie einst Geburtsadel – verpflichtet, sind zum Teil zu verstehen durch die andauernde Kriegspsychose, genährt von Frankreichs Gewaltpolitik. Nichts wirkt verderblicher auf Völker und Individuen, als schnöde Gewalt wehrlos ertragen zu müssen. Das überreizte Nationalgefühl entlädt sich am fiktiven „inneren Feind“, weil es ohnmächtig ist gegen den Bedrücker jenseits der Grenzen. Getretenes Ehrgefühl artet bei sittlich wenig widerstandsfähigen Charakter leicht in Rohheit und Grausamkeit aus. Man hat Juden, Protestanten und andere „innere Feinde“ oft fälschlich der Brunnenvergiftung angeklagt. Poincaré vollführt noch Schlimmeres: er vergiftet Seelen.

             Nur mit Vorbehalt, nur mit größter Bereitschaft zu Korrekturen und Richtigstellungen kann der Beobachter ein halbwegs richtiges Bild der Jugend von heute entwerfen. Die Individualitäten der Heranwachsenden scheinen mannigfaltiger geworden als früher, zum mindesten äußern sie markanter ihre Verschiedenheit. Um die gemeinsamen Züge des Nachwuchses mehrerer Völker festzustellen, bedürfte es einer Studienreise. Welche gewaltigen Gegensätze, wie viele Typen und Persönlichkeiten im Werden bekunden sich unter den jugendlichen Bewohnern unseres jetzt relativ so kleinen Vaterlandes! Vom Häuptling einer Kinderdiebsbande zum heroisch sich durchhungernden Jünger der Wissenschaft, vom Luxusbackfisch zur jungen Arbeiterin, die am Abend ihres harten Werktages Volksbildungskurse hört, und zur Offizierstochter, die mit ihren Lektionen die Mutter erhält – ganz abgesehen von der wenig gekannten […] in den Zirkel ihrer vom Lauf der Monde abhängigen Beschäftigung gebannten bäuerlichen Jugend. Wer wagte da rasch und entschieden ein zusammenfassendes Urteil zu fällen?

             Bei aller individuellen Differenzierung, trotz des natürlichen Fortbestehens unabstreitbarer Merkzeichen jugendlichen Wesens zeigt die kommende Generation im allgemeinen ein andres Gehaben als Österreichs Nachwuchs vor einigen Jahrzehnten. Zwei Momente haben bei dieser Wandlung in hohem Maße mitgewirkt: der verschärfte Existenzkampf und der Sport. Das Haustöchterchen in seiner wohlgehüteten Zierblumenlieblichkeit stirbt allmählich aus, und bei den jungen Männern bildet sich frühzeitig ein scharfer Sinn fürs Praktische, der zu resoluter Selbständigkeit, Unternehmungslust, bisweilen auch schließlich zur Abkehr von geschäftlicher Ehrenhaftigkeit führt. „Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles! Ach, wir Armen!“ mußte schon Fausts Gretchen in früher Selbsterkenntnis seufzen. Für Hans und Grete von 1923 ist dieser Ausspruch gewiß nicht minder zeitgemäß, nur der elegische Ausklang entspricht moderner Jugendstimmung schwerlich. Jünglinge und Mädchen müssen heute ins feindliche Leben, beide lernen wetten und wagen, Daß bei der weiblichen Jugend ihre immer noch stärkste Waffe im Kampf ums Dasein, der Reiz ihres Geschlechtes, in vielen Fällen zum Einsatz im mehr oder minder hohen Glücksspiel wird, wen darf es wundernehmen? Die Naive, das unbeschriebene Blatt, dem erst der Gatte Inhalt und Farbe gab; la petite oie blanche, dient nur mehr zur Charakteristik einer vergangenen Epoche. Glücklicherweise ist darum echte Mädchenhaftigkeit, instinktive Scheu vor der Herabwürdigung des Liebeslebens durch Zynismus und Brutalität nicht untergegangen. Wohl aber ist der Brunhildtypus seltener geworden in einer Zeit, die mit dem Recht auf Betätigung auch den Anspruch auf Freude für jeden Menschen anerkennt und zugleich durch die wirtschaftliche Not edle Befriedigung des Genußtriebes furchtbar erschwert. Aber in sieghafter Stärke erhält sich wie in frühern Jahren ökonomischer Wirrsal und moralische Erschlaffung auch gegenwärtig die Mädchenreinheit als Ideal und Distinktion einer Elite aller Klassen.

             Der Begriff der Frauenehre hat eine Wandlung erfahren, aber er dauert fort. Das freie Bündnis einander achtender und liebender Menschen, auch ohne Standesamt oder Priestersegen, ist im Ansehen gestiegen. Gegen unauflösliche Eheketten protestieren alle Vertreter geistigen und sittlichen Fortschritts. Aber die Käuflichkeit der Liebesbezeugungen gilt nach wie vor als Erniedrigung, deckt sich durch Hüllen und Schleier aller Art, und auch die Widerstandslosigkeit junger Mädchen gegenüber den Wallungen weiblichen Instinkts wird trotz mancher Propaganda des Wortes und der Tat nicht zum Vorbild, nicht zur Regel. Und darauf kommt es an.

             Aus wirtschaftlichen Erwägungen, ohne stufenweise Vorbereitung, in der sittenlockernden Nachkriegszeit wurde eine vom Zufall bestimmte Form der Koedukation in unseren Mittelschulen eingeführt für junge Menschen im krisenreichen Übergangsjahr zur Vollreife. Kein sittliches Ärgernis hat sich daraus ergeben. An unserer Akademie der bildenden Künste werden hochbegabte Mädchen als Schülerinnen neben ihre männlichen Kollegen aufgenommen. Trotz der manchem Beurteiler gefährlich aufreizend erscheinenden Atmosphäre der Bildhauer- und Malerwerkstätte arbeiten dort junge angehende Künstlerinnen von einwandfreier Ehrbarkeit im alten engen Sinne dieses Wortes. Es gibt auch heute noch Wiener Frauen, die kein Einsiedlerdasein führen, auch lebhaft und vertraut mit der Jugend verkehren, und dennoch jene Mädchen aus der Chronique scandaleuse, denen eine Einschiffung nach Cythera nicht mehr bedeutet als ein Spaziergang, nur vom Hörensagen kennen. Die stetig wachsende soziale Bildungs- und Fürsorgearbeit, namentlich in unserer Stadt, die günstigeren Wohnungsverhältnisse der früher wirtschaftlich benachteiligten Schichten wirken dahin, daß auch die jungen Töchter der Volkes zu einem Frauendasein heranreifen können, das in der Liebe weder Erwerb noch Rausch, sondern seine Krönung sieht. In der modernen Bühnendichtung, der die Jugend so gern ihr Ohr leiht, kommt // die Poesie des Mädchenstolzes langsam wieder zu Ehren. Und selbst im Lager der radikalen Umwerter aller Wert, der Kommunisten, erhob eine Frau vor nicht ganz drei Jahren ihre Stimme zugunsten des Ideals der Monogamie. Sie lehrt: „Der Wille, die einzige geliebte Person für den andern zu sein, ist in jedem Kulturmenschen vorhanden, wenn überhaupt von Liebe die Rede sein darf. Und wie die Dinge heute und für eine sehr lange Zukunft (vielleicht für immer) liegen, wird eine Einwilligung zur Untreue nie aufrichtig gegeben und längere Zeit nicht ohne häßliche Reibungen ertragen werden können. Am leichtesten und besten wird ein monogames Verhältnis wertvoll gestaltet werden können. Wenn die Menschen, vor allem die jungen Menschen wirklich ernsthaft an die bewußte Gestaltung ihres Lebens herangehen, werden sie von selbst zu der Überzeugung gelangen, daß aus all den Wirrnissen und Niedrigkeiten ihres Trieblebens nur ein Weg wirkliche Erlösung, Reinheit, Schönheit bringen kann – die Liebesgemeinschaft mit einem Menschen, mit dem sich zu verbinden, nicht nur erotisches Glück, sondern auch Steigerung des gesamten übrigen Lebens bedeutet.“ Als Kriterium des monogamen Verhältnisses bezeichnet die Bekennerin dieser Lehren den festen „Willen zur Dauer und Ausschließlichkeit“ des Bündnisses. Es ist nicht allzu schlecht bestellt um das ideelle Rüstzeug gegen einen Rückfall in primitive Erotik, wenn von der alleräußersten Linken solche Mahnungen an die Jugend ergehen.

             Die Beziehung jugendlicher Menschen zueinander reiner, natürlicher, kameradschaftlicher zu gestalten, ist einer der großen Vorzüge jener systematischen, freiwilligen Übungen der Körperkraft und Gewandtheit, die wir Sport nennen. Das Wort (es ist gemischten englisch-französischen Ursprungs) kam erst bei der vorigen Generation in Mode, wie die Betätigung, die es bezeichnet. Während aus den Erinnerungen an das achtzehnte Jahrhundert das Bild sportlichen Vergnügungen nur selten auflebt – wie etwa der Schlittschuhlauf in Weimars klassischen Tagen – haben sie sich in neuester Zeit auf unserem Kontinent in allen Gesellschaftsschichten ausgebreitet, manchmal sogar auf Kosten der Geistesbildung. Im Jahre 1878 wurde der Name „Sport“ in das Wörterbuch der französischen Akademie aufgenommen, ein Erweis für den Zusammenhang von Sprachwissenschaft und Kulturgeschichte. Wenige Neueinführungen haben auf die Mentalität und Lebensweise der Jugend so starken Einfluß geübt wie der Sport. Die zweckmäßige Tracht verscheucht die Prüderie, die kräftige Bewegung weckt Selbstsicherheit und Unabhängigkeitssinn, die mannigfachen Anforderungen an die Geistesgegenwart stählen die Widerstandsfähigkeit. Der freie Wettbewerb mit dem anderen Geschlecht, das Beisammen der Mädchen und Burschen im Freien, oft im Kampfe mit den Unbilden der Jahreszeit, stumpft ab gegen die Regungen der Lüsternheit, ungeachtet der allgegenwärtigen Schlingen Aphrodites, denen völlig zu entgehen, unnatürlich und unmöglich ist. Unter dem Einfluß des Sportes wich die Sentimentalität, die süßliche Galanterie einer früheren Zeit aufrichtigeren, wenn auch oft rüderen Umgangsformen. Vielleicht läßt sich die Meinung vertreten, daß erst der Sport unsere Jugend zu dem gemacht hat, was sie ist.

             Und sie ist nicht kernfaul, nicht schlecht. Die erschreckenden Auswüchse, bedingt durch eine Zeit politischer Gärung ohnegleichen, dürfen nicht hindern, das Gute zu sehen. Der Protest der freigesinnten Studenten gegen die Exzesse verblendeter Gewalttäter war schön und würdevoll. Eine nach Tausenden zählende Schar junger Arbeiter und Arbeiterinnen hat am Jahrestag der Gründung unserer Republik in der Volkshalle der Aufführung einer Szene aus Romain Rollands „Die Zeit wird kommen“ beigewohnt. Wie eine Mahnung klangen die hehren Worte der Einsicht und Eintracht, daß ein anderes Frankreich lebt als Deutschlands Vernichter: das Frankreich des Märtyrers der Geistesfreiheit Jaurès, des kühnen Anklägers Zola und all der Großen, deren Wirken durch den französischen Imperialismus gehöhnt und verleugnet wird. Und diese Worte fanden begeisterten Widerhall bei den jungen Hörern. Es gibt eine Jugend des echten, aufklärenden, roheitsfremden Idealismus, auch im Österreich von heute. Wie würde ein Künstler sie darstellen? Nicht in einer Gestalt, Jüngling und Mädchen nebeneinander, vielleicht im knappen Sportkleid, Hand in Hand, mutig und froh ins Weite schauend, einer besseren Zukunft entgegen – trotz alledem.

In: Neue Freie Presse, 4.1.1924, S. 1-3.

Ernst Lothar: Väter und Töchter. Ein Prozeß.

             Gottlob, um die Vatermörder ist es still und das Wort wieder geworden, was es war: ein Kragenname. Jene militanten Söhne, die noch vor kurzem zahlende Zuschauer zu ihren häuslichen Kalamitäten luden, indem sie diese zu Dramen machten und das Tischtuch zwischen sich und den Vätern zerschnitten, nachdem sie es befleckt hatten, sehen sich nach andern abendfüllenden Komplexen um; ihre Zugkraft hat aufgehört. Hinter der messianischen Attitüde, die man darin fand, daß Maturanten Fünfzigjährige prüften und Komödianten einen Vater lehrten, rauscht längst nicht mehr die Fahne der Befreiung, sondern raschelt nur noch das Papier, auf das man vergleichen drucken ließ. Man hat sich den Schaum vom Munde der Lieblosigkeit gewischt, weil es mit dem Haß allem nicht mehr ging und zeigt sich bereit, mit denselben Lippen, die „crucifige!“ schrien, melodisch abzublasen. Patres peccavimus. Die Antivätermode ist vorbei. Und die mörderischen Stücke, die die Söhne wegen der Verweigerung des Hausschlüssels schrieben, sind vorbei, weil die Schreiber befürchten müßten, auf ihnen ausgepfiffen zu werden. Seit das Überscharfe schartig wurde, wurde der Kampfplatz zum Gemeinplatz. So hat man ihn verlassen. Spät genug wurde zur Selbstverständlichkeit, daß Gegensätze nicht geringer werden, wenn man ihnen mit Messern zu Leibe, statt mit Nachsicht zur Seele geht. Jetzt ist es endlich so weit. Die Söhne drängen die Väter nicht mehr in die schwarze Rolle der Tyrannen, diese die Söhne nicht mehr in den Kerker der Rebellen. Man begann sich zu suchen. So wird man sich finden.

             Man findet sich noch nicht, man kämpft, man leidet noch, wo es nicht nur um den Unterschied der Generationen, sondern überdies um den der Geschlechter geht. Da der Waffenstillstand zwischen Vätern und Söhnen so gut wie geschlossen ist, beginnt und dauert ein anderer Prozeß um so zäher. Man führt ihn verbissen, leidenschaftlich, erbittert. Man führt ihn dogmatisch. Das Problem von heute heißt nicht mehr: Väter und Söhne, sondern, da die Töchter, innerlich und äußerlich, Männerrechte reklamieren: Väter und Töchter. Jener Auseinandersetzung gehört die Vergangenheit: dieser die Zukunft

             Wie in jedem Prozeß hat man auch hier vorerst die Klagelegitimation zu prüfen und die Fakten außer Streit zu stellen. Kläger sind die Väter. Beklagte die Töchter. Streitgegenstand: Entartung der jungen Mädchen. Klagebegehren: Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

             Ehe da? Verfahren beginnt: so viel über den Streitgegenstand gesagt wurde, die Wahrheit hat man nicht gesagt. Man versuche, das Für und Wider probater Schlagworte zu vergessen und sich parteilos, das heißt fachlich vor Augen zu halten, was zu sehen ist. Man sieht zweierlei: Die Vermännlichung des Weiblichen; die Verkennung des Weiblichen. Das junge Mädchen hat sich vermännlicht. Mit einem radikalen Entschluß hat es an sich gerissen, was ihm vorenthalten war: Beruf, Partei, Besitz. Mit einem radikalen Entschluß hat es von sich geworfen, was es dabei aushielt: Gestalt, Erscheinung, Meinung. Das junge Mädchen sieht aus wie ein Jüngling; das junge Mädchen tritt auf wie ein Jüngling; das junge Mädchen denkt wie ein Jüngling. Mithin: das junge Mädchen sieht sehr oft gegen seine Art aus; das junge Mädchen tritt gerne gegen seine Art auf; das junge Mädchen denkt manchmal gegen seine Art. Dies ist das Faktum, und es könnte zur Tatsache, die es ist, nicht geworden sein, folgte es nicht aus dem zweiten Faktum: der Verkennung des Weiblichen. Denn indem das Mädchen mit aller Vehemenz die Vermännlichung anstrebt, leistet es zugleich auf das dominierende Weibliche Verzicht. (Hier ist eine reguläre Falschmeldung richtig zu stellen: Man behauptet zumeist, daß die Vermännlichung nicht auf Kosten des spezifisch Weiblichen erfolgen, nicht zwanghaft jene Entanmutung herbeiführen müsse, deren Zeugen wir geworden sind. Wer das behauptet, verbindet sich die Augen, oder weiß nicht was Anmut ist.) Auf dem Wege ins andere Lager, so viel steht fest, hat das Mädchen gewonnen und verloren. Es gewann den Mut, sich zu ändern, es verlor die Anmut, zu sein. Das ist diesen Verlust leichten Herzens trägt, beweist, daß es verkennt, worauf es verzichtet. Man hat ihm seine Art so lange verschwommen himmelblau gemalt, bis es die scharfen Linien der Abart für die Konturen der Erfüllung hielt.

             Das ist der Tatbestand.

             Er fordere zur Abhilfe heraus, sei zur Katastrophe geworden, sagt im eröffneten Verfahren der zur Klagebegründung verhaltene Anwalt der Väter. Der Klageanwalt sagt: Was sich heute junges Mädchen nennt, ist ein Pasquill. Denn das ist weder Jugend noch Mädchentum; das ist frühaltes Raffinement und desolater Illusionsverlust. Zynisch ist es. Schamlos. Sehen Sie, wie die Beklagten vor Gericht erschienen sind? Sind diese überroten Lippen nicht Beweis? Diese Sprache der kalten, nackten, infamen Worte? Dieses respektlose Lachen? Diese lächerliche Tracht, die die Röcke kindlich kürzt, um die Gesichter greisenhaft zu altern? Beweist es nichts, daß diese Neunzehn- und Zwanzigjährigen, deren eine wie die andre, jede wie aus einem Tanzhaus aussieht, vom tollen Ehrgeiz gepackt sind, alle Farben der Natur geniert auszulöschen und die Schminke aller Unnatur triumphierend aufzutragen? Dieser Zwittergeneration, der auf dem Irrweg zum Männlichen der Rückweg zum Weibe verloren ging, sind die Begriffe verloren gegangen, die den Inbegriff des Weibes bedeuten und erhöhen: Scham, Demut. Scham? Wo finden Sie sie? Auf überroten Lippen, die gewohnt sind, Gespräche zu führen, Scherze zu erzählen, Zweideutigkeiten zu ermuntern, deren Allgemeinheit nur ihrer Gemeinheit gleichkommt? Auf geschminkten Wangen, in berechnenden Blicken, in der ganzen willkürlichen Preisgegebenheit, in der sich das Geben nach dem Preise richtet? In diesem allem Zurschau-, zu allem Bereit-, von allem Berührt-, von nichts Ergriffensein? In dieser schnöden Ausflucht, die den Mantel der Kameradschaft über die Blöße des Zynismus hängt? Scham? Sie finden sie nicht. Denn sie fiele allzu lästig an den geweihten Stätten, wo die Altäre dieser Generation stehen: auf den Fußballplätzen, bei den Niggertänzen: in der Welt, die der Ingenieur gemacht, der Intellekt geheiligt, die Spekulation bezahlt hat. Scham ist ein Defekt geworden, dessen man sich schämen muß. Habe ich Demut gesagt? Wo in aller Welt sind Sie ihr begegnet? „Entgötterung“ heißt das Stück, das das Welttheater täglich vor ausverkauften Saale spielt und das die Menschen so zum Lachen, weil es die Götter und die Gottheit bringt. Siehe da, der Heiligenschein ist ein Rundstreifen Goldpapier, die Größe eine Machination der hohen Stöckel, die Ewigkeit das Manöver einer falsch gestellten Uhr. Herunter mit der Draperie! Werdet unseresgleichen! Werdet klein! Da klatschen die Zuschauer Beifall. Sie sind entzückt von der Komödie, die ihnen beweist, daß es absurd ist, zu verehren. Schiller ein Phänomen? Hört ihr von Bombast seiner Rede, das Oberlehrerpathos seiner Phrase? Wagner grandios? Dieser tückische Intrigant? Bismarck ein Staatsmann? Laßt euch erzählen, was er ans Varzin bei Tische sprach! Und Jesus Christus – Mensch, haben Sie denn nicht gelesen, daß es ihn nicht gab? Unwiderleglich bewiesen, daß jene Stelle bei Josephus Flavius apokryph ist? Verehrliches Publikum! Das Hohe hat nie gelebt; das Große ist klein; das Venerabile ein Schwindel. Hereinspaziert, bei uns sehen sie alles, wie es ist, wir lassen uns nichts vormachen, wir jungen Menschen von heute, wir bewundern nicht, wir respektieren nicht, wir pfeifen auf den Humbug, wir jungen Menschen von heute…. wir stehen nicht mehr Spalier. Denn wir haben zu viel Intellekt! Wir haben zu viel Witz! Und mit Intellekt und Witz wird ein Apostel zur Kabarettfigur. Demut? Sie finden sie nicht. Nicht Scham, nicht Demut. Zynismus statt dieser, Intellekt statt jener. Das ist fürchterlich. Aber derselben jungen Generation, der nichts heilig ist, wird morgen das Heiligste überantwortet sein: diese jungen Mädchen sind die Mütter, sind die Erzieherinnen von morgen. Alles oder nichts der Zukunft hängt von ihnen ab. Deshalb haben wir die Klage erhoben. Deshalb beantragen wir, daß ihr stattgegeben werde…

             Jetzt ist es an den Beklagten, zu antworten. Sie führe ihre und der andern Sache selbst, erwidert eine von ihnen, steht auf, tritt vor und spricht. Blaß unter dem Puder, schmal, straff steht sie da. Entschlossen schaut die aus erregten, großen, wissenden Augen. Kein Blick seitab. Keiner nachgiebig. Ganz wenig zittert ihre Stimme, als sie zu reden beginnt. Dann redet sie sich frei. Sie wolle offen reden, sagt sie. Schonungslos. Man muß, sagt sie, die Wahrheit sagen… endlich! Wir jungen Mädchen sind anders geworden, ja. Deshalb klagt man uns an. Warum aber – warum sind wir anders geworden? Darauf hat sich der Advokat unserer Väter mit keiner Silbe eingelassen. Ich will es sagen: Wir sind anders geworden. Weil es, wie es gewesen ist, nicht länger zu ertragen war. Weil es unmenschlich war! War das, was zu leben man uns ansann, denn Existenz? Wir sind erzogen, sind in Watte gewickelt, sind herangebildet worden, gewiß. Wir haben Englisch gelernt und Kunstgeschichte. Oder Buchhaltung. Oder Kochen. Und wir haben Tennis gespielt. Und man hat uns zu Konzerten geführt. Aber wir sind im Zimmer gewesen. Achtzehn oder zwanzig Jahre im Zimmer. Das Zimmer war weiß und hatte nette, blanke Möbel und nette, lichte Vorhänge und possierliche weiße Teddybären gehabt. Gewiß. Wenn aber draußen wer vorbeigegangen ist, hat man „Pst!“ gemacht. Wenn draußen wer geredet hat, hat man „Pst!“ gemacht. Wenn etwas gestehen ist, irgendetwas außerhalb des Zimmers mit den netten, blanken Möbeln, hat man „Pst!“ gemacht… achtzehn oder zwanzig Jahre. Und diese achtzehn oder zwanzig Haftjahre mußten doch einem Zweck gedient haben? Diese Vorsicht und Kerkermeisterschaft mußte doch an ein Resultat gewendet worden sein? Sie hat auch einem Resultat gedient: der Heirat. Eines Tages zeigte man uns wen und verlangte: Den wirst du heiraten. Ob er einem mißfiel oder nicht, ob er einem innerst entgegen war oder nicht: Den wirst du heiraten. Und dann lehnte man sich auf. Und dann wurde man der Auflehnung müde. Und dann wollte man aus dem Zimmer mit den netten, blanken Möbeln, so oder so! Und so wurde man verkuppelt. So wurde man Frau. So wurde man jämmerlich hintergangen. Vorher: Nichts. Nachher: Qual. Alles Lüge, was man einem vorgeredet hatte. Lüge der Elternliebe, die einen schließlich feilbot. Lüge das Versprechen von den „glücklichen Ehen“, das einen gefügig machen sollte. Glückliche Ehen? Und wo gab es sie? War das glücklich, was man vor Augen hatte? Sind die Ehen unserer Eltern glücklich? Verrat sind diese Ehen, Mißbrauch, Demütigung, Enttäuschung, Maske und Verzicht. Und dafür wurde man herangezogen. Für nichts sonst. Für einen Bankrott.

             Aber… dann wurde es draußen zu laut, als daß man immer noch „Pst!“ hätte machen können. Dann kam der Krieg, und man konnte uns brauchen. Wir, die Menschenalter hindurch zu nichts zu gewesen waren, wurden plötzlich Gehilfen. Wir traten nahe hin. So sahen wir. Wir sahen leben. Wir sahen sterben. Wir sahen, wie ungeheuer viel zu tun war und wie ungeheuer schlecht man es tat. Da fühlten wir, wie stark wir waren! Wie viel Kraft man in uns zurückgedämmt, an wieviel Leistung man uns verhindert, wieviel Versäumnis man unverantwortlich an uns verschuldet hatte. Es gibt keine Privilegien des Geschlechts. Nur der Kraft. Wir hatten die Kraft. Mit einem Schlage, herrlich begierig, herrlich entschlossen, traten wir hervor und zeigten die Kraft. Wir halfen. Wir bewiesen, daß man uns unterschätzt hatte. Wir leisteten. Wir vegetierten nicht mehr. Wir sind anders geworden.

             Wir sind anders geworden. Rosenrot und Himmelblau sind unsre Farben nicht mehr. Selbstverständlich. Wir haben zuviel Schwarz gesehen. Und die Augen niederzuschlagen, haben wir verlernt. Selbstverständlich. Wir mußten sie ja zu lange offen halten. Und Respekt zu haben, fällt uns schwer. Selbstverständlich. Zu viel Kleinheit, zu viel Niedertracht ist an uns herangekommen. Respekt vor den Männern, die uns brotneidig wegdrängten und denen wir, was uns gebührte, wie eine Gnade Schritt um Schritt abringen mußten? Respekt vor den Männern, die uns hinter einem weißen Gitter einsperrten, damit wir ihnen zu Willen, nicht zur Konkurrenz seien?

             Wir sind, wie wir werden mußten. Wir haben uns kraß vermännlicht, weil man uns kraß verweiblicht hat. Wir tragen die Schminke der Zeit, weil wir sonst unterlägen und weil man uns so will! Wir sind keine Gänschen mehr, weil die Epoche nicht reicht genug ist, mehr Gänschen und weniger Gehilfen zu besitzen! Wir sind, wie wir sind.

             So können wir nicht Rücksicht nehmen. Auf niemanden und auf nichts. Nicht auf Scham, die durch und durch steril ist, nicht auf Demut, die immer zurück zeigt. Wo auf der einen Waagschale die Existenz, auf der andern die Konvenienz liegt, darf keiner etwas anderes wollen, als: sich. Unbeirrt. Ungezwungen. Jeder ist Mensch. So will er selbst sein. So will er sich entwirken. So will er nicht verzichten müssen. Keiner will sich opfern… wer lehrt denn noch solch eine lächerliche Lüge! Und wer einem die Fußbank des Gottgefallens, der Moral, des Ideals – dieses alte, wurmstichige, von jedem Betrug abgescheuerte Requisit unterschiebt, lügt nicht nur, sondern lähmt! Lähmen lassen wir uns nicht mehr. Wir wollen unsern Anteil. Den Anteil Leistung, den Anteil Lust. Die Rechnung stimmt, es bleibt kein Rest. Deshalb beantragen, nein, deshalb verlangen wir, daß die Klage abgewiesen werde…!

             Das sind die Standpunkte.

Was an diesen Standpunkten ist wahr? Es ist wahr, daß der Existenzkampf, den die junge Mädchengeneration führt, notwendig, unaufhaltsam und gerecht ist. Es ist wahr, daß eine Zeit, die sich behauptetermaßen der Menschenrechte an- und den Mund von sozialen Pflichten vollnimmt, an der primitivsten Gemeinschaftspflicht: der absoluten, unverkürzten Gleichstellung der Geschlechter nichts mehr zu belächeln finden darf. Den Artikel 7 unserer Verfassung müßten alle Männer solange memorieren, bis sie begriffen haben, daß er nicht Juristen-, sondern Menschengesetz ist: Die Frau hat dieselben Rechte wie der Mann. Kein Spott, kein noch so witziges Argument, keine Ironie, keine Infamie kommt dem bei. Da die Frau, die gereifte wie die junge, sich bewiesen hat: exemplarisch bewiesen; bewiesen als Entbehrerin; bewiesen als Lehrerin; bewiesen als Leisterin, ist ein Gegenbeweis nicht mehr anzutreten, weil es keinen gibt. Wo immer die Frau ihren Platz gesucht hat, sie hat ihn behauptet: Wenn also nicht ihr Menschenrecht, so spricht die Leistung für sie. Die Leistung spricht sie frei. Es ist unwidersprechlich wahr, daß die jungen Frauen um ein Erbe kämpfen das ihnen längst hätten eingeantwortet sein müssen.

Und es ist unwidersprechlich wahr, daß sie diesen Erbprozeß schlecht führen; es ist unwidersprechlich wahr, daß sie vielfach die Scham, daß sie vielfach die Demut verloren oder vernachlässigt haben. Aber wenn Gleichberechtigung das Sittengesetz des Geschlechts der Menschen, so ist Scham und Demut das Sittengesetz des Geschlechts der Frau: Scham ist die Fruchtbarkeit des Erkennens, Demut die Fruchtbarkeit des Gefühls. Was an Widerstand, an pharisäischem wie ein überzeugtem, sich der jungen weiblichen Generation noch entgegenwirft, rührt ausschließlich aus ihrer Verleugnung. Hiemit drapiert sich die Konkurrenzpanik der in der Leistung Minderwertigen, dies legitimiert die Vätergeneration, ab-, statt freizusprechen. Die jungen Frauen kämpfen um sich selbst. Doch indem sie sich finden, verlieren sie sich. Indem sie dem Berufe zueilen, verlassen sie ihre Berufenheit. So kehrt man ihre Waffen gegen sie. Warum haben sie sie vergiftet? Warum verführen sie die Welt zu der abgrundfalschen Meinung, daß sie einem nichts gebe, ehe man sich preisgab? Warum? Aus demselben Grunde, der die Wortführerin der jungen Generation behaupten ließ, ihre Rechnung stimme ohne Rest.

Die Rechnung stimmt. Bleibt wirklich kein Rest? Er bleibt, bleibt schmerzhaft. Hat man nicht gehört, wie präzis und streng die Klage war? Wie exakt und streng die Antwort? Streng. Streng. Die Welt hat die Wärme verlernt. Staatsanwälte alle, Anwälte der Entherzung. Alle klagen an. So bleibt ein Rest. Ein ungeheurer Erdenrest Sehnsucht, ein ungestillter, innerster, stürmischer Wunsch nach Versöhnung. Väter und Töchter. Klingt da nicht eine Saite? Schwingt sie nicht mit einem vollen, klaren, bluttiefen Ton? Väter! Fordert nicht Privilegien, gebt und fordert Herzrecht! Töchter! Laßt euer Wissen Ahnung werden! Ahnung der ungeheuren Sehnsucht einer beschmutzten, frierenden Welt nach Wärme, nach Reinheit. Ahnung, daß ihr zu wenig Liebe habt, um genug Scham und Demut zu haben. Und daß ihr geschaffen seid, aus Scham, Liebe und Demut die Zukunft zu gebären, in der ihr sein sollt, was ihr wollt: Berechtigte, und was ihr müßt: Mütter. Dann wird der Prozeß, den man gegen euch führt, keine Rechts-, sondern ein Entwicklungsprozeß, mithin für euch unverlierbar sein.

Das ist das Urteil.

In: Neue Freie Presse, 17.10.1926, S. 1-4.

Margret Hilferding: Geburtenregelung.

             Die Schwangerschaftsverhütung (Prävention) ist imstande, die Regelung der Geburten in bezug auf die Zeit und Modalitäten der Zeugung zu bewirken. Wenn sie sich auch nicht in jedem Einzelfalle als zuverlässig erweist, so ist ihr Einfluss auf die Geburtenbeschränkung unbestritten. Sie ermöglicht es, den Lustgewinn beim Geschlechtsverkehr von der Kinderzeugung abzulösen; die Kinderzeugung kann daher mit voller Berücksichtigung der Umstände, die wir in den früheren Artikeln als für die Fortpflanzung wichtig erörtert haben, unternommen werden. Die Auswahl in der Beschaffenheit der Erbmasse beider Eltern, die Wahl des nach äusseren und inneren Momenten günstigsten Augenblickes der Zeugung, die Quantität der Nachkommenschaft ist durch eine zweckmässige und konsequent durchgeführte Prävention gesichert. Die Aufklärung der Eltern in Beratungsstellen, durch Vorträge und Zeitungen wird erfolgreich sein, wenn gleichzeitig die Möglichkeit der Prävention durch leichte Erreichbarkeit der Präventivmittel gegeben ist. Die Krankenkassen könnten diese Aufgabe mit geringer materieller Belastung durchführen, wenn sie endlich das entsprechende Verständnis dafür hätten. Durch jede wohlgeglückte Prävention wird jene andere Methode der Geburtenbeschränkung überflüssig gemacht, von der wir zum Schlusse sprechen wollen. Es ist die Fruchtabtreibung.

             Der Versuch, mit gesetzgeberischen Mitteln die Fruchtabtreibung zu verhindern, stammt aus einer Zeit, in der dieser Eingriff als ärztliche Leistung nicht bekannt war. Er richtete sich damals gegen jene ganz rohen und brutalen Gewaltmittel, durch die Laien früher eine Abtreibung vorzunehmen versuchten. Das waren schwere Gifte, insbesondere Phosphor, und körperliche Verletzungen grober Art. Ihr Erfolg war stets eine Schädigung der Gesundheit der betroffenen Frau, oft mit tödlichem Ausgang, während die Abtreibung nicht immer gelang. Die Auffassung der Abtreibung als schwere körperliche Verletzung ist aus dem Wortlaut des Gesetzes (§ 144 und folgende) noch heute erkennbar. Von einem ärztlichen Eingriff konnte, wie gesagt, damals noch nicht die Rede sein; die Anwendung des Gesetzes auf ärztliche Operationen ist daher ein Anachronismus und es ist höchste Zeit, dass seine Änderung erfolgt. Über die Art dieser Abänderung tobt ein heftiger Kampf, den wir an den Erkenntnissen, die wir in früheren Artikeln gewonnen haben, beleuchten wollen.

             Wir müssen ohneweiters zugeben, dass bei dem ungeheuren Interesse, dass die Gesellschaft an Qualität und Quantität der Nachkommenschaft hat, ihr das Bestimmungsrecht auf zwar noch ungeborenen, aber doch lebende Mitglieder nicht abgesprochen werden kann. Eine Vernichtung solchen Lebens darf daher im Interesse der Gesellschaft nur bei solchen Keimlingen erfolgen, für die eine Prävention zu Recht bestanden hätte. Wenn der Gesellschaft aber ein Einspruchsrecht gegeben ist, so muss sie als Gegenleistung auch alle Pflichten übernehmen und teilen, welche der Vorbereitung und Bestätigung der Elternschaft (Mutterschaft) dienen. Sie muss die Eltern nicht nur über die Grundlagen der Bevölkerungspolitik aufklären, sie muss die Vorbedingungen für jede Bevölkerungspolitik erst schaffen. Die Frage der Ausschaltung kranker Erbmassen muss ebenso gelöst werden, wie die Frage der Aufzug des künftigen Kindes. Schwangerschafts- und Stillfürsorge, Behebung der materiellen und der Wohnungsnot, Erziehungsfürsorge in grösstem Umfange werden die Anerkennung und den Gegenwert für die Leistung der Elternschaft bilden.

             Es wird auch Aufgabe der Gesellschaft sein, in allen Fällen, wo sie auf das Leben des Nachkömmlings keinen Anspruch erhebt, also in irgendeiner gesetzlich festzulegenden Form die Einwilligung zur Fruchtabtreibung gibt, dafür zu sorgen, dass dieser Eingriff mit der geringstmöglichen Gefahr für die Mutter vorgenommen werden kann.

             Durch die Fortschritte der Operationstechnik und der Asepsis ist der ärztliche Eingriff zu einer Vollkommenheit gebracht, welche das Gefahrenrisiko für die Mutter bei wohlerwogener Auswahl der Fälle und technisch einwandfreier Durchführung sehr gering gestaltet. Vielleicht wird eine spätere Zeit erst noch mehr verringern.

             Dagegen steht noch immer jene ungeheure Zahl von Fällen, in denen oft geradezu veranlasst durch die Drohungen des § 144 die Frauen – und stets die ärmsten und hilflosesten – zum Pfuscher getrieben werden und die mangelhafte Fürsorge der Gesellschaft in bezug auf die Geburtenregelung mit der Gesundheit, mit dem Tode, mit Schande und Kerker bezahlen. Es muss ein Weg gefunden werden, um diesen Frauen zu helfen; und nur dann werden wir eine Abänderung des § 144 als gut ansehen können, wenn er die Ungerechtigkeit, Asozialität und Gefährdung von Menschenleben aus der Welt schafft, die jetzt zur Praxis jener Paragraphen und all derer, die sie handhaben, gehört.

             Wir müssen hier auf eine Bemerkung im ersten Artikel zurückkommen, die sich auf den Unterschied zwischen Geburtenregelung und Geburtenbeschränkung bezog. „Geburtenbeschränkung gründet sich auf das durchaus egoistische Motiv des persönlichen Wunsches, der persönlichen Fähigkeit zur Nachkommenschaft. Geburtenregelung geht hervor aus den altruistischen Beweggründen der gesellschaftlichen Notwendigkeiten in bezug auf Quantität und Qualität des Nachwuchses. Die Forderung der Geburtenbeschränkung ist die Forderung des verantwortungslosen Laien, die Forderung der Geburtenregelung ist die Forderung der ihrer Verantwortung bewussten Wissenschaft!“

In: Die Mutter, 1.4.1925, S. 6-7.

Claire Patek: So sieht die schöne Frau von heute aus

Fotos: Kitty Hoffmann

             Seitdem man von den Rubens-Idealen abgekommen ist, hat sich der Geschmack in bezug auf die Frauenschönheit einige Male geändert. Allerdings ist der Übergang nicht kraß vor sich gegangen, sondern milde; man konnte doch nicht alle üppigen Frauenschönheiten plötzlich aus der Welt schaffen. Von Rubens bis zu Makart wurde der Schönheit, nach unseren Begriffen, Arges zugemutet. Es war eine Zeit, die viel Unnatur mit sich brachte. Das einzige, was unserem Geschmack näher kommt, ist die Abkehr von der Vollbusigkeit. Allerdings wußte man damals nicht, wie den Massen beizukommen wäre, und einigte sich auf die hohen Panzer, die die Unformen der damaligen Modezeit ausmachten. Man gefiel sich darin, ein unnatürliches Taillenmaß zu erreichen. Heute kann man nicht begreifen, daß Frauen, die sich solchem Zwang fügten, nur um dem damaligen Schönheitsideal, überhaupt lebensfähig waren. Wie arm waren die inneren Organe behandelt, im ewigen Druck konnten sie sich gar nicht entwickeln. Nach oben und nach unten war der Üppigkeit keine Grenze gezogen, nur die Taille mußte daran glauben, daß es nun ernst wird mit der Änderung der Figur!

             Es gab damals noch keine Hungerkuren, sondern nur Panzer, in die man sich einengte;  heute noch existiert in Wien eine Dame, die man hie und da mit einem großen Hund an der Leine über den Ring oder durch die Stadt wandeln sieht, an der die Zeit wohl nicht spurlos vorübergegangen ist, die aber in der Mode stehen geblieben ist und heute noch das Schönheitsideal der Achtzigerjahre vertritt. Alt und Jung dreht sich nach der „Wespentaille“ um (wie sie im Volksmund heißt), // wenn sie mit einem großen Hut, der auf einem großen Schopf balanciert, durch die Straßen geht: Jung spottet über die Taille, die so eng ist, daß man 49cm Höchstausmaß vermutet, Alt lächelt wehmütig, da man sich an bessere Zeiten erinnert, wo man an derartigen Gestalten hunderte Male vorüberging.

             Und dann kam eine Zeit, in der man es endlich einsah, daß der Fuß der Frau, wenn er hübsch ist – und er ist es bei den Meisten – zu sehen sein sollte: der Rock wurde also kürzer. Dann kam eine Zeit, die mit dem Fischbein-Panzer abzuschließen begann, die Vollbusigkeit verlor sich in eine alles gleichmachende Linie, die Taille sank fast bis zum Knie, und der hohe Kragen gehörte der Vergangenheit an, die noch nicht lange zurücklag, die man aber aus dem Gedanken verbannte. Es gab damals in allen Zeitungen viele Rundfragen – „Für und gegen den hohen Kragen“ –, es stritten die Ästheten wegen der Länge des Rockes, es gab Kämpfe wegen der nun beginnenden Miederlosigkeit, die gerade Front verschwand und die Modeideale: Turnen, Schwimmen, Touristik, Auto, Tennis und, vor allem Tanzen trainierten die Körper. Natürlich wollten viele Frauen mit den Hungerkuren alles erreichen, was ihnen an Schlankheit vorschwebte, aber diese Frauen erreichten neben der Schlankheit auch noch recht viele Falten im Gesicht, und das gehörte gerade nicht zum neuen Schönheitsideal. Als erst wieder die jüngste Jugend herangewachsen, und zwar im Sporttraining groß geworden war, begann der neue Frauentypus großes // Gefallen zu erregen, – das neue Schönheitsideal war mit einem Male gefunden.  Die edle schlanke Rückenlinie, die feste kleine Form des Busens, die Gelenkigkeit aller Glieder, der schlanke Hals und die Schönheit der Beine; bei aller Schlankheit keine Hagerkeit oder unschöne Magerheit – das ist die moderne Frau, die sich im Wandel der Zeiten zur begehrenswerten Schönheit herausgebildet hat.

             Wenn die Rubens-Frauen sehen könnten, wie sehr sich der Geschmack verkehrt hat, sie würden sehr traurig sein über all ihre Fettpolster und es nicht begreifen, wie die moderne herbe Grazie über ihre Lässigkeit, die damals Schönheit nannte, siegen konnte… Auch die Wespentaillen würden kein Verständnis für die heutigen Ideale haben, denn auch sie glaubten ja mit ihrer Geziertheit und Unnatürlichkeit der Inbegriff weiblicher Anmut zu sein. Heute gilt noch immer Grazie und Schick, aber er muß ein wenig preziöser, ein wenig eigenartiger, herber sein als früher – das ist dann die Frau, deren Schönheit bewundert wird und die den Typus von heute repräsentiert.

             Unsere Bilder zeigen die modernen Frauen, die heute als vollendet schön gelten: den Typus, der sich von Rubens über Makart bis zum heutigen Tag ausgebildet hat.

In: Die Bühne, H. 137/1927, S. 22-23 und S. 47.

Carl Marilaun: Die jungen Männer

„Der ‚junge Mann von Welt’, dessen österreichischer, Wienerischer Spielart Richard Schaukal, ein älterer Mann von Welt vor zehn Jahren ein ironisch-apologetisches Brevier gewidmet hat, ist im Aussterben begriffen. Er war ein ‚junger Herr’, und servierte seine tadellos manikürte, nach dem Journal des Londoner Schneiders equipierte und hinreißend gescheitelte Eleganz jeden Mittag in der großen Korsoauslage zwischen Graben und Kohlmarkt. Er war bei Demel zu treffen oder in der Weinstube der Berta Kunz, er plauderte mit Frau Anna Sacher unter der roten Glashalle ihres Hotels, er stand wie angewachsen an der Sirk-Ecke, man traf ihn in der Burgtheaterloge und beim Stelzer, und sein Vormittag in der Statthalterei oder am Ballhausplatz war nur die Einleitung zum Gustostück seines nicht allzu anstrengenden, aus lauter angenehmen, aber dringenden Nebensächlichkeiten bestrittenen Daseins: zum Gang über Graben und Kärntnerstraße, wo man eine Menge von Leuten Gutentag zu sagen und einer Unzahl schöner Frauen die Hand zu küssen hatte.

Heute gibt es nur noch junge Männer in der Gegend des ‚jungen Herren’. Das hübsche, etwas nichtige, nette und küssdiehandgeschäftige Gesicht des jungen Mannes von Welt ist auch auf dem wohlsituierten Korso nicht mehr zu erblicken. Wie es überhaupt auch keinen eigentlichen Korso mehr gibt, welche Tatsache ich natürlich keine melancholische und nicht einmal eine bissige Betrachtung zu knüpfen ersonnen bin. Graben und Kärntnerstraße sind belebter als je, und die jungen Männer, die man dort trifft, tragen zwar bereits Anzüge und Winterröcke des Londoner oder eines nicht billigeren Wiener Schneiders, aber sie behalten den Hut auf dem Kopf, wenn sie mit dem gewissen, unangenehm und impertinent taxierenden Blick des jungen Mannes von heute mit ihren Damen sprechen. Zu ihrer Entschuldigung könnten sie allerdings anführen, daß die Damen danach sind, wenigstens meistens. Der gesellschaftliche Verkehr vollzieht sich auf der Basis einer gegenseitigen und wahrscheinlich wohlangebrachten Geringschätzung. Man trifft sich mittag auf dem Kohlmarkt und begrüßt einander mit einem Augurenlächeln, das vermutlich anderen, weniger gesellschaftsfähigen, aber Gott sei Dank zurückliegenden Begegnungen gelten dürfte. Wenn diese neuen Herrschaften „Guten Tag“ zueinander sagen, klingt es so ungefähr wie: „Weit haben Sie’s gebracht!“ Und da sich die heutige Gesellschaft auch als beste Gesellschaft nicht gern ein Blatt vor dem Mund nimmt, kann man auf dem Kohlmarkt nicht so selten einen jungen Mann im Gürtelüberzieher seine Dame, die einen Pelz von Drecoll oder Grünbaum trägt, mit dem auf dem Graben und Kohlmarkt geflügelt gewordenen Wort begrüßen hören: „Seit wann gehen Sie hier spazieren?“

Worauf der unbeteiligte Zuhörer unter Zuhilfenahme des gesellschaftlichen Jargons eigentlich sagen müßte: „Weit gebracht!“ Aber meistens sagt es schon die Dame selbst.

Man sollte glauben, daß der junge Herr, den es nicht mehr gibt, das am lebhaftesten erstrebte Ideal der jungen Männer von heute wäre. Aber wer dies glaubt, irrt sich vielleicht doch in der Psyche dieser aufsituierten und bereits auf eine bewegte Jugend zurückblickenden Fünfundzwanzigjährigen. Diese jungen Herren haben wirklich andere Sorgen. Ihr Lebensinhalt ist keineswegs der Raglan, den sie tragen. Daß er teuer ist, versteht sich von selbst; daß er beim ersten Schneider bestellt wurde, ist selbstverständlich. Aber er wird lediglich angeschafft, bezahlt und getragen, weil man es sich leisten kann. Man trägt ja auch den wundervoll gerade gezogenen Scheitel des jungen Herrn, aber dieser Scheitel ist eigentlich Sache des Friseurs; eines teuren Friseurs, der für das Geld, das er bekommt, alle unterrichtet, und man knüpft hier jene Verbindungen an, die man in der Taborstraße vielleicht verfehlt hätte.

Wirklich Junge trifft man nicht mehr am Korso. Nur Zwanzig- bis Fünfundzwanzigjährige, denen die Züricher Devisenkurse oder ein greifbarer Posten Chiffon, es können aber auch Schuhnägel sein, den holden Wahn längst ausgetrieben hätte, wenn sie von solchen Torheiten überhaupt jemals etwas auf Lager gehabt haben sollten. Das Leben birgt für sie keine Rätsel und Hindernisse, über die andere gestolpert wären, beseitigen sie mit einem Telephonanruf. Für sie funktioniert nämlich sogar ein Wiener Telefon, denn sämtliche Verbindungen, die sie brauchen, haben sie längst.

Glattrasiert, mit einem Raubtierkinn, breitschultrig, starknackig, gehen sie ihres Wegs; unverträumt, unbelästigt von Widrigem, keinem bösen Zufall anheimgegeben, aber für jeden günstigen parat. Ihnen gehört die Welt. Und davon, daß Schwächlinge in ihr nicht leben können, profitieren sie.

In: Prager Tagblatt, 24.12.1920, S. 3.