Alfred Stern: Geschlechtsmoral in Ziffern. (1928)

Wir sterben aus!

Nicht als Notschrei ist der Ruf „Wir sterben aus!“ gedacht und nicht als Anklage die Feststellung, die neue Gesellschaftsmoral sei die Ursache dieses drohenden Aussterbens. Es handelt sich vielmehr nur um eine völlig wertungsfreie wissenschaftliche Erkenntnis von Tatsachen. An Gewicht gewinnen diese freilich dadurch, daß ein Nationalökonom vom Range des Berliner Hochschulprofessors, Geheimrat Dr. Julius Wolf, sie uns gleichsam mathematisch, mit den Ziffern des Statistikers beweist und diese Beweise gegen den Widerstand seiner Fachkollegen, insbesondere Lujo Brentanos, erfolgreich durchsetzt.

Während die Volkszahl Chinas noch in diesem Jahrhundert die erste Milliarde erreichen dürfte, sind die Geburtenziffern Europas und Amerikas in den letzten zwei Jahrzehnten auf die Hälfte gesunken. „Unabwendbar geht das Breitenwachstum der Völker abendländischer Kultur seinem Ende entgegen,“ so schließt Wolf aus den unerbittlichen Ziffern. Da die Annahme, die Geschlechtstüchtigkeit der modernen Menschheit sei gesunken, angesichts der kurzen Zeiträume, innerhalb welcher der Geburtenrückgang sich vollzogen hat, unhaltbar ist, kann nur die neue Geschlechtsmoral der zivilisierten Völker schuldtragend sein.

In seinem eben erschienen Buche „Die neuen Sexualmoral und das Geburtenproblem unserer Tage“[i] sucht Wolf diese Zusammenhänge an der Hand eines imposanten Zahlenmaterials zu begründen.

Was ist die neue Geschlechtsmoral?

Die neue Geschlechtsmoral manifestiert sich – nach Wolf – vor allem in einer bewußten Regelung der Zeugung. Der Gelehrte unterscheidet da drei Entwicklungsstufen der Zeugungswillens. Auf der ersten Stufe ist die Stellungnahme zu unerwünschten Folgen eine nachträgliche. Man behilft sich mit Aussetzen oder Tötung der Neugeborenen (z.B. in der Antike). Auf der zweiten Stufe gilt jede Eindämmung der natürlichen Folgen des

Geschlechtsverkehrs als schweres Verbrechen. Sie werden blindlings zugelassen – die Zeugung ist hier eine natur- und gottergebene. An deren Stelle tritt – auf der dritten Stufe – ein bewußter, individueller Zeugungswille oder Zeugungswiderwille, der die Kinderzahl persönlichen ökonomischen, ästhetischen, kulturellen Bedürfnissen anpaßt und dies durch planmäßige Verhütung oder willkürliche Beseitigung der Schwangerschaft erreicht.

Erst durch diese Rationisierung der Zeugung wird die Geschlechtsliebe eine „freie, von nichts mehr beschwerte Liebe, eine Liebe zur bloßen Lebenssteigerung der Liebenden“. Die „verwandelte Frau“ will nicht mehr die Sklavin des Hauses, sondern die Kameradin des Mannes sein und „mit der Kameradin seines Lebens will er verantwortungsbewußt, dabei auch dessen bewußt, was er der beiderseitigen Liebe und ihrer Erhaltung schuldet“, zeugen. Diese neue Geschlechtsmoral hat natürlich zuerst die wohlhabenden Schichten erfaßt, deren Kulturniveau bereits früher ein höheres war. Aber erst in dem Augenblicke, da die Masse mit der alten Geschlechtsmoral zu brechen begann, nahm der Geburtenrückgang, statistisch deutlich sichtbar, seinen Anfang.

Wolf weist nach, daß die Geburtenziffern nicht sanken, sondern sich eher erhöhten, so lange der soziale Aufstieg des Arbeiters nur ein materieller blieb. Erst der ungeheure kulturelle Aufschwung, den das Proletariat in den letzten Jahrzehnten nahm, führte zu einem rapiden Absinken der Geburtenziffern. Der intellektualisierte Arbeiter hatte eben die neue Geschlechtsmoral sich zu Eigen gemacht!

600.000 Abtreibungen im Jahr!

Es wäre verkehrt, zu meinen, die primäre Ursache für den Geburtenrückgang liege in der wachsenden technischen Vervollkommnung und Verbreitung der Vorbeugungsmittel. Diese sind nämlich erst eine Folge der neuen Geschlechtsmoral und der aus ihr erwachsenden Bedürfnisse. Dasselbe gilt auch von der Zunahme der Fruchtabtreibung. Wie man weiß, ist diese ja in Deutschland gesetzlich strenge verboten und darum auch sehr kostspielig. Trotzdem erreicht die Zahl der Abtreibungen im Deutschen Reiche pro Jahr mehr als 600.000 – eine Ziffer, die der Bevölkerungszahl Roms gleichkommt! Für Berlin wurde festgestellt, daß von hundert Frauen, die empfangen, vierzig die Schwangerschaft unterbrechen, davon aber nur 5% aus natürlichen Ursachen.

Sowjetrussische Geschlechtsmoral.

In Rußland dagegen ist die Fruchtabtreibung vollkommen freigegen und wird sogar in staatlichen Kliniken für Unbemittelte gratis vorgenommen. Trotzdem übersteigt die Geburtenzahl des Russischen Reiches – Wolf zählt Rußland nicht mehr zum Abendland, sondern zum Osten – die deutsche um ein Vielfaches, und die russische Bevölkerungszunahme beträgt pro Jahr nicht weniger als 2.5 bis 3.3 Millionen Menschen. Das Gros der russischen Bevölkerung macht eben von der erlaubten und kostenlosen Fruchtabtreibung nur geringen Gebrauch, da es noch nicht im Bann der neuen Geschlechtsmoral steht.

Durch sein Verbot erreicht Deutschland nur eine Bevölkerungsabnahme. Denn pro Jahr sterben dort bis zu vierzigtausend Frauen an stümperhaften Eingriffen und hunderttausende nehmen dauernden gesundheitlichen Schaden. Dagegen behauptet die russische Statistik – unter 300.000 von Ärzten vorgenommenen Eingriffen komme nicht ein einziger Todesfall vor.

Berlin und Wien – die Scheidungszentren Europas.

Ein Moment, das für den Geburtenrückgang zweifellos von gewissem Einfluß ist, aber auch durchaus dem extrem individualistischen Erscheinungskomplex der neuen Sexualmoral angehört, ist die Zunahme der Ehescheidungen. Aus einer diesbezüglichen, verblüffend interessanten Statistik Wolfs geht hervor, daß im Jahr 1926 Berlin mit seinen 7332 Scheidungen an der Spitze Europas marschierte. In Berlin allein lassen sich pro Jahr zweieinhalbmal so viel Personen scheiden wie in ganz England.

Paris, das sogenannte „Sündenbabel“, wird dagegen von den Autoren seiner frivolen Scheidungsschwänke anscheinend arg verleumdet. Denn mit seinen 4191 Scheidungen bei annähernd gleicher Bevölkerungszahl, bleibt es hinter Berlin weit zurück. Dagegen wies Wien, dessen Bevölkerungsziffer weniger als die Hälfte der Pariser beträgt, bereits im Jahr 1925 3241 Scheidungen auf, also relativ viel mehr als Paris. Selbstverständlich werden all diese Zahlen durch die Amerikas weit in den Schatten gestellt. Der Bevölkerungsziffer nach müßte die Anzahl der Scheidungen in den Vereinigten Staaten etwa zweieinhalbmal so groß sein wie die Deutschlands. In Wirklichkeit ist sie achtmal so groß. Diese Labilität der Ehe, die mit der Übertreibung des Frauenkultus in Amerika zusammenhängt, hat eine Scheu vor Kindern zur Folge. Nicht zuletzt diesem Umstande dürfte es daher zuzuschreiben sein, daß die Vereinigten Staaten zu den Ländern niedrigsten Geburtenüberschusses zählen. Amerikas Überschußziffer wird beispielsweise von der Österreichs um fast 70 Prozent übertroffen.

Deutschlands Fruchtbarkeit geringer als die Frankreichs.

Der Laie, der Wolfs Buch liest, wird vor Erstaunen kaum sich fassen, wie interessant manchmal Statistiken sein können! Wer hätte etwa gedacht, daß die französische Nachwuchsziffer (d.i. die Zahl der das erste Lebensjahr vollendenden Kinder auf 1000 Frauen im Alter von 15 bis 45 Jahren), die deutschen heute bereits um 4 Prozent übersteigt. Österreichs Nachwuchsziffer steht heute um 10% höher als die Deutschlands. In der kurzen Zeit von 1900 bis 1924 ist Deutschlands Fruchtbarkeit um 50% gesunken. Es hat heute die niedrigste Fruchtbarkeitsziffer von allen Ländern Europas. Trotzdem Österreich mit 160 Geburten auf 1000 verheiratete Frauen pro Jahr ein gutes Stück vor Deutschland steht, dessen Fruchtbarkeit mit 138 das europäische Minimum darstellt, ist unsere Republik gegenüber anderen Ländern dennoch ungünstig daran. Zwischen Wien und Berlin besteht in Hinsicht des Geburtenrückganges kaum mehr ein Unterschied. In Berlin sank die Geburtenziffer von 1911 bis 1926 von 20.8 auf 11, in Wien von 19.9 auf 12.2.

Wir gehen unter – aber wir sind zivilisiert.

Es ist uns ein schwacher Trost, daß wir uns auch damit als eines der stärkst zivilisierten Völker erweisen. Denn nach Wolf setzt das Durchdringen der neuen Sexualmoral einen hohen Grad von Intellektualität der Bevölkerung voraus. Als Beweis hierfür kann auch die Tatsache gelten, daß die weniger zivilisierten Länder vom Geburtenrückgang viel weniger betroffen wurden. Der gering zivilisierte Osten verdankt seine riesige Bevölkerungszunahme hauptsächlich dem Verharren in der teils religiös bedingten traditionellen Geschlechtsmoral. Wir beendigen die Lektüre von Wolfs Buch eigentlich mit dem Eindruck, die höchstzivilisierten Völker stünden dem Untergang am nächsten.

Wenn es Wolf gelungen ist, einen so tiefen Blick in den Mechanismus und die Motive der Bevölkerungsbewegung zu tun, so ist dies vor allem dem Umstande zuzuschreiben, daß er es wagte, das Geburtenproblem einmal nicht bloß unter dem Gesichtswinkel eine Spezialwissenschaft zu betrachten. Der Gelehrte Wolf verschmäht es nicht, auch vom praktischen Leben und dessen Niederschlag in der schönen Literatur zu lernen und erobert der Psychologie ein großes Stück neuen Bodens im Reiche der Nationalökonomie. Hier wird sie nun ebenso heimisch werden, wie sie in der Rechtswissenschaft geworden ist. Wolfs Buch ist in einem Stil von messerscharfer Logik abgefaßt, von unerbittlicher Zwangsläufigkeit in den Schlußfolgerungen, von starker Apercus und ästhetischen Wendungen. Julius Wolf beweist damit, daß Anmut der Darstellung die Würde der Wissenschaft nicht verletzen muß.

Dr. Alfred Stern.

In: Der Morgen. 5.11.1928, S. 5.


[i] Bei Gustav Fischer, Jena 1928.

Bertha Pauli: Jugend von heute.

             „Sechs Pagen und sechs Mädchen, weiß gekleidet, mit rosenroten Leibchen, mit Schleifen und wirklichen Rosen verziert, tanzen herein und gruppieren sich zu beiden Seiten der Tür. Dann hüpft die Jugend herein, weißes Trikot, rosenrote Weste, am Kragen mit Rosen garniert, grünem Frack, dreieckigen Hut mit Rosenschleife. Das Beinkleid mit rosenroten Bändern gebunden.“ So schwebte unserem großen Volksdichter Raimund die Verkörperung der Jugend vor für jene unvergängliche Szene im „Bauer als Millionär“, die Wilhelm Scherer den schönsten Allegorien der Weltliteratur zur Seite gestellt hat. Und jedem Österreicher, der sich ihrer traulich schlichten Symbolik erinnert, summt es im Ohr: „Brüderlein fein, Brüderlein fein…“

             Wie würde ein heimischer Poet unserer Zeit die Jugend verkörpern? Wohl bleibt sie im Grunde dieselbe, so lange Menschen atmen, dieselbe in ihrer Elastizität gegenüber den Schlägen des Schicksals, ihrer Lebenskraft und Empfänglichkeit und dem Reichtum an Hoffnung, der sich vor ihr ausbreitet wie ein Märchenwald und sie trennt von dem fernen düsteren Allbezwinger Tod. Und doch, den Rosenflor, die Atlashöschen und den hüpfenden Dreivierteltakt würde ein Künstler von heute kaum mehr wählen, um die Jugend zu versinnlichen. Die Ausdrucksformen unserer Zeit sind andere geworden. Die Jugend ist ewig wie der Sonnenaufgang; aber ihre Vertreter hienieden schauen nicht mehr mit denselben Augen in die Welt wie die Kinder des Vormärz, und die ältere Generation betrachtet mit stark geänderter Empfindung den Frühling des Daseins. Wir sind vertrauter mit seinen Stürmen. Wir haben – vielleicht genauer als unsere Vorfahren – das Leid der Jugend kennen gelernt. Wir sind uns bewußter der physischen Entbehrungen und des geistigen Mangels, die Tausende nur kümmerlich heranreifender Körper und Seelen bedrücken, wir sehen deutlicher die physischen Kämpfe der Pubertät, der wachsenden Erkenntnis, die sich oft verzweifelt auflehnt gegen die Nüchternheit und Niedrigkeit des alten Jammertales. Und wir erfahren gegenwärtig auch mit Schaudern, wie der jugendliche Idealismus, der einst „den Himmel offen“ sah und in enthusiastischer Hingabe sich entlud, erstickt, pervertiert wird in Rohheit. Zuweilen scheint es, als lösten sich für unsere Jugend „alle Bande frommer Scheu“, die der Zivilisation unentbehrlichen Hemmungen, hervorgerufen durch innere Würde und Menschlichkeit, aber keineswegs die Bande des Vorurteils und aller Art geistiger Beschränktheit. Unerhörte Vorgänge wie die Exzesse an unserer Universität, Schandtaten wie die Mißhandlung einer Studentin durch ihre männlichen Kollegen werfen grelle Schlaglichter auf die Generation, die unsere Zukunft bedeutet. Und leicht erliegt man der Ver-//suchung, sich die Jugend von heute statt mit dem Rosenzweig mit der Waffe des Meuchlers oder mit Gummiknüttel und Schlagring vorzustellen. Das Eklatante, das Sensationelle ist es ja, was urteilsbestimmend wirkt – und so oft Fehlurteile erzeugt. Nie soll vergessen werden, daß den jungen Leuten, die ihre Rowdymethoden als Propaganda für Deutschtum ausgeben (in Wahrheit gibt es keine plausiblere Entschuldigung für das gehässige Vorurteil gegen den ‚boch‘!), eine weit zahlreichere österreichische Jugend gegenübersteht, die Menschenwürde ebenso für sich erstrebt und bewahrt als im anderen achtet. Die Ausschreitungen jugendlicher Vertreter höheren Wissens, die nicht ahnen, daß Bildung – wie einst Geburtsadel – verpflichtet, sind zum Teil zu verstehen durch die andauernde Kriegspsychose, genährt von Frankreichs Gewaltpolitik. Nichts wirkt verderblicher auf Völker und Individuen, als schnöde Gewalt wehrlos ertragen zu müssen. Das überreizte Nationalgefühl entlädt sich am fiktiven „inneren Feind“, weil es ohnmächtig ist gegen den Bedrücker jenseits der Grenzen. Getretenes Ehrgefühl artet bei sittlich wenig widerstandsfähigen Charakter leicht in Rohheit und Grausamkeit aus. Man hat Juden, Protestanten und andere „innere Feinde“ oft fälschlich der Brunnenvergiftung angeklagt. Poincaré vollführt noch Schlimmeres: er vergiftet Seelen.

             Nur mit Vorbehalt, nur mit größter Bereitschaft zu Korrekturen und Richtigstellungen kann der Beobachter ein halbwegs richtiges Bild der Jugend von heute entwerfen. Die Individualitäten der Heranwachsenden scheinen mannigfaltiger geworden als früher, zum mindesten äußern sie markanter ihre Verschiedenheit. Um die gemeinsamen Züge des Nachwuchses mehrerer Völker festzustellen, bedürfte es einer Studienreise. Welche gewaltigen Gegensätze, wie viele Typen und Persönlichkeiten im Werden bekunden sich unter den jugendlichen Bewohnern unseres jetzt relativ so kleinen Vaterlandes! Vom Häuptling einer Kinderdiebsbande zum heroisch sich durchhungernden Jünger der Wissenschaft, vom Luxusbackfisch zur jungen Arbeiterin, die am Abend ihres harten Werktages Volksbildungskurse hört, und zur Offizierstochter, die mit ihren Lektionen die Mutter erhält – ganz abgesehen von der wenig gekannten […] in den Zirkel ihrer vom Lauf der Monde abhängigen Beschäftigung gebannten bäuerlichen Jugend. Wer wagte da rasch und entschieden ein zusammenfassendes Urteil zu fällen?

             Bei aller individuellen Differenzierung, trotz des natürlichen Fortbestehens unabstreitbarer Merkzeichen jugendlichen Wesens zeigt die kommende Generation im allgemeinen ein andres Gehaben als Österreichs Nachwuchs vor einigen Jahrzehnten. Zwei Momente haben bei dieser Wandlung in hohem Maße mitgewirkt: der verschärfte Existenzkampf und der Sport. Das Haustöchterchen in seiner wohlgehüteten Zierblumenlieblichkeit stirbt allmählich aus, und bei den jungen Männern bildet sich frühzeitig ein scharfer Sinn fürs Praktische, der zu resoluter Selbständigkeit, Unternehmungslust, bisweilen auch schließlich zur Abkehr von geschäftlicher Ehrenhaftigkeit führt. „Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles! Ach, wir Armen!“ mußte schon Fausts Gretchen in früher Selbsterkenntnis seufzen. Für Hans und Grete von 1923 ist dieser Ausspruch gewiß nicht minder zeitgemäß, nur der elegische Ausklang entspricht moderner Jugendstimmung schwerlich. Jünglinge und Mädchen müssen heute ins feindliche Leben, beide lernen wetten und wagen, Daß bei der weiblichen Jugend ihre immer noch stärkste Waffe im Kampf ums Dasein, der Reiz ihres Geschlechtes, in vielen Fällen zum Einsatz im mehr oder minder hohen Glücksspiel wird, wen darf es wundernehmen? Die Naive, das unbeschriebene Blatt, dem erst der Gatte Inhalt und Farbe gab; la petite oie blanche, dient nur mehr zur Charakteristik einer vergangenen Epoche. Glücklicherweise ist darum echte Mädchenhaftigkeit, instinktive Scheu vor der Herabwürdigung des Liebeslebens durch Zynismus und Brutalität nicht untergegangen. Wohl aber ist der Brunhildtypus seltener geworden in einer Zeit, die mit dem Recht auf Betätigung auch den Anspruch auf Freude für jeden Menschen anerkennt und zugleich durch die wirtschaftliche Not edle Befriedigung des Genußtriebes furchtbar erschwert. Aber in sieghafter Stärke erhält sich wie in frühern Jahren ökonomischer Wirrsal und moralische Erschlaffung auch gegenwärtig die Mädchenreinheit als Ideal und Distinktion einer Elite aller Klassen.

             Der Begriff der Frauenehre hat eine Wandlung erfahren, aber er dauert fort. Das freie Bündnis einander achtender und liebender Menschen, auch ohne Standesamt oder Priestersegen, ist im Ansehen gestiegen. Gegen unauflösliche Eheketten protestieren alle Vertreter geistigen und sittlichen Fortschritts. Aber die Käuflichkeit der Liebesbezeugungen gilt nach wie vor als Erniedrigung, deckt sich durch Hüllen und Schleier aller Art, und auch die Widerstandslosigkeit junger Mädchen gegenüber den Wallungen weiblichen Instinkts wird trotz mancher Propaganda des Wortes und der Tat nicht zum Vorbild, nicht zur Regel. Und darauf kommt es an.

             Aus wirtschaftlichen Erwägungen, ohne stufenweise Vorbereitung, in der sittenlockernden Nachkriegszeit wurde eine vom Zufall bestimmte Form der Koedukation in unseren Mittelschulen eingeführt für junge Menschen im krisenreichen Übergangsjahr zur Vollreife. Kein sittliches Ärgernis hat sich daraus ergeben. An unserer Akademie der bildenden Künste werden hochbegabte Mädchen als Schülerinnen neben ihre männlichen Kollegen aufgenommen. Trotz der manchem Beurteiler gefährlich aufreizend erscheinenden Atmosphäre der Bildhauer- und Malerwerkstätte arbeiten dort junge angehende Künstlerinnen von einwandfreier Ehrbarkeit im alten engen Sinne dieses Wortes. Es gibt auch heute noch Wiener Frauen, die kein Einsiedlerdasein führen, auch lebhaft und vertraut mit der Jugend verkehren, und dennoch jene Mädchen aus der Chronique scandaleuse, denen eine Einschiffung nach Cythera nicht mehr bedeutet als ein Spaziergang, nur vom Hörensagen kennen. Die stetig wachsende soziale Bildungs- und Fürsorgearbeit, namentlich in unserer Stadt, die günstigeren Wohnungsverhältnisse der früher wirtschaftlich benachteiligten Schichten wirken dahin, daß auch die jungen Töchter der Volkes zu einem Frauendasein heranreifen können, das in der Liebe weder Erwerb noch Rausch, sondern seine Krönung sieht. In der modernen Bühnendichtung, der die Jugend so gern ihr Ohr leiht, kommt // die Poesie des Mädchenstolzes langsam wieder zu Ehren. Und selbst im Lager der radikalen Umwerter aller Wert, der Kommunisten, erhob eine Frau vor nicht ganz drei Jahren ihre Stimme zugunsten des Ideals der Monogamie. Sie lehrt: „Der Wille, die einzige geliebte Person für den andern zu sein, ist in jedem Kulturmenschen vorhanden, wenn überhaupt von Liebe die Rede sein darf. Und wie die Dinge heute und für eine sehr lange Zukunft (vielleicht für immer) liegen, wird eine Einwilligung zur Untreue nie aufrichtig gegeben und längere Zeit nicht ohne häßliche Reibungen ertragen werden können. Am leichtesten und besten wird ein monogames Verhältnis wertvoll gestaltet werden können. Wenn die Menschen, vor allem die jungen Menschen wirklich ernsthaft an die bewußte Gestaltung ihres Lebens herangehen, werden sie von selbst zu der Überzeugung gelangen, daß aus all den Wirrnissen und Niedrigkeiten ihres Trieblebens nur ein Weg wirkliche Erlösung, Reinheit, Schönheit bringen kann – die Liebesgemeinschaft mit einem Menschen, mit dem sich zu verbinden, nicht nur erotisches Glück, sondern auch Steigerung des gesamten übrigen Lebens bedeutet.“ Als Kriterium des monogamen Verhältnisses bezeichnet die Bekennerin dieser Lehren den festen „Willen zur Dauer und Ausschließlichkeit“ des Bündnisses. Es ist nicht allzu schlecht bestellt um das ideelle Rüstzeug gegen einen Rückfall in primitive Erotik, wenn von der alleräußersten Linken solche Mahnungen an die Jugend ergehen.

             Die Beziehung jugendlicher Menschen zueinander reiner, natürlicher, kameradschaftlicher zu gestalten, ist einer der großen Vorzüge jener systematischen, freiwilligen Übungen der Körperkraft und Gewandtheit, die wir Sport nennen. Das Wort (es ist gemischten englisch-französischen Ursprungs) kam erst bei der vorigen Generation in Mode, wie die Betätigung, die es bezeichnet. Während aus den Erinnerungen an das achtzehnte Jahrhundert das Bild sportlichen Vergnügungen nur selten auflebt – wie etwa der Schlittschuhlauf in Weimars klassischen Tagen – haben sie sich in neuester Zeit auf unserem Kontinent in allen Gesellschaftsschichten ausgebreitet, manchmal sogar auf Kosten der Geistesbildung. Im Jahre 1878 wurde der Name „Sport“ in das Wörterbuch der französischen Akademie aufgenommen, ein Erweis für den Zusammenhang von Sprachwissenschaft und Kulturgeschichte. Wenige Neueinführungen haben auf die Mentalität und Lebensweise der Jugend so starken Einfluß geübt wie der Sport. Die zweckmäßige Tracht verscheucht die Prüderie, die kräftige Bewegung weckt Selbstsicherheit und Unabhängigkeitssinn, die mannigfachen Anforderungen an die Geistesgegenwart stählen die Widerstandsfähigkeit. Der freie Wettbewerb mit dem anderen Geschlecht, das Beisammen der Mädchen und Burschen im Freien, oft im Kampfe mit den Unbilden der Jahreszeit, stumpft ab gegen die Regungen der Lüsternheit, ungeachtet der allgegenwärtigen Schlingen Aphrodites, denen völlig zu entgehen, unnatürlich und unmöglich ist. Unter dem Einfluß des Sportes wich die Sentimentalität, die süßliche Galanterie einer früheren Zeit aufrichtigeren, wenn auch oft rüderen Umgangsformen. Vielleicht läßt sich die Meinung vertreten, daß erst der Sport unsere Jugend zu dem gemacht hat, was sie ist.

             Und sie ist nicht kernfaul, nicht schlecht. Die erschreckenden Auswüchse, bedingt durch eine Zeit politischer Gärung ohnegleichen, dürfen nicht hindern, das Gute zu sehen. Der Protest der freigesinnten Studenten gegen die Exzesse verblendeter Gewalttäter war schön und würdevoll. Eine nach Tausenden zählende Schar junger Arbeiter und Arbeiterinnen hat am Jahrestag der Gründung unserer Republik in der Volkshalle der Aufführung einer Szene aus Romain Rollands „Die Zeit wird kommen“ beigewohnt. Wie eine Mahnung klangen die hehren Worte der Einsicht und Eintracht, daß ein anderes Frankreich lebt als Deutschlands Vernichter: das Frankreich des Märtyrers der Geistesfreiheit Jaurès, des kühnen Anklägers Zola und all der Großen, deren Wirken durch den französischen Imperialismus gehöhnt und verleugnet wird. Und diese Worte fanden begeisterten Widerhall bei den jungen Hörern. Es gibt eine Jugend des echten, aufklärenden, roheitsfremden Idealismus, auch im Österreich von heute. Wie würde ein Künstler sie darstellen? Nicht in einer Gestalt, Jüngling und Mädchen nebeneinander, vielleicht im knappen Sportkleid, Hand in Hand, mutig und froh ins Weite schauend, einer besseren Zukunft entgegen – trotz alledem.

In: Neue Freie Presse, 4.1.1924, S. 1-3.

Ernst Lothar: Väter und Töchter. Ein Prozeß.

             Gottlob, um die Vatermörder ist es still und das Wort wieder geworden, was es war: ein Kragenname. Jene militanten Söhne, die noch vor kurzem zahlende Zuschauer zu ihren häuslichen Kalamitäten luden, indem sie diese zu Dramen machten und das Tischtuch zwischen sich und den Vätern zerschnitten, nachdem sie es befleckt hatten, sehen sich nach andern abendfüllenden Komplexen um; ihre Zugkraft hat aufgehört. Hinter der messianischen Attitüde, die man darin fand, daß Maturanten Fünfzigjährige prüften und Komödianten einen Vater lehrten, rauscht längst nicht mehr die Fahne der Befreiung, sondern raschelt nur noch das Papier, auf das man vergleichen drucken ließ. Man hat sich den Schaum vom Munde der Lieblosigkeit gewischt, weil es mit dem Haß allem nicht mehr ging und zeigt sich bereit, mit denselben Lippen, die „crucifige!“ schrien, melodisch abzublasen. Patres peccavimus. Die Antivätermode ist vorbei. Und die mörderischen Stücke, die die Söhne wegen der Verweigerung des Hausschlüssels schrieben, sind vorbei, weil die Schreiber befürchten müßten, auf ihnen ausgepfiffen zu werden. Seit das Überscharfe schartig wurde, wurde der Kampfplatz zum Gemeinplatz. So hat man ihn verlassen. Spät genug wurde zur Selbstverständlichkeit, daß Gegensätze nicht geringer werden, wenn man ihnen mit Messern zu Leibe, statt mit Nachsicht zur Seele geht. Jetzt ist es endlich so weit. Die Söhne drängen die Väter nicht mehr in die schwarze Rolle der Tyrannen, diese die Söhne nicht mehr in den Kerker der Rebellen. Man begann sich zu suchen. So wird man sich finden.

             Man findet sich noch nicht, man kämpft, man leidet noch, wo es nicht nur um den Unterschied der Generationen, sondern überdies um den der Geschlechter geht. Da der Waffenstillstand zwischen Vätern und Söhnen so gut wie geschlossen ist, beginnt und dauert ein anderer Prozeß um so zäher. Man führt ihn verbissen, leidenschaftlich, erbittert. Man führt ihn dogmatisch. Das Problem von heute heißt nicht mehr: Väter und Söhne, sondern, da die Töchter, innerlich und äußerlich, Männerrechte reklamieren: Väter und Töchter. Jener Auseinandersetzung gehört die Vergangenheit: dieser die Zukunft

             Wie in jedem Prozeß hat man auch hier vorerst die Klagelegitimation zu prüfen und die Fakten außer Streit zu stellen. Kläger sind die Väter. Beklagte die Töchter. Streitgegenstand: Entartung der jungen Mädchen. Klagebegehren: Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

             Ehe da? Verfahren beginnt: so viel über den Streitgegenstand gesagt wurde, die Wahrheit hat man nicht gesagt. Man versuche, das Für und Wider probater Schlagworte zu vergessen und sich parteilos, das heißt fachlich vor Augen zu halten, was zu sehen ist. Man sieht zweierlei: Die Vermännlichung des Weiblichen; die Verkennung des Weiblichen. Das junge Mädchen hat sich vermännlicht. Mit einem radikalen Entschluß hat es an sich gerissen, was ihm vorenthalten war: Beruf, Partei, Besitz. Mit einem radikalen Entschluß hat es von sich geworfen, was es dabei aushielt: Gestalt, Erscheinung, Meinung. Das junge Mädchen sieht aus wie ein Jüngling; das junge Mädchen tritt auf wie ein Jüngling; das junge Mädchen denkt wie ein Jüngling. Mithin: das junge Mädchen sieht sehr oft gegen seine Art aus; das junge Mädchen tritt gerne gegen seine Art auf; das junge Mädchen denkt manchmal gegen seine Art. Dies ist das Faktum, und es könnte zur Tatsache, die es ist, nicht geworden sein, folgte es nicht aus dem zweiten Faktum: der Verkennung des Weiblichen. Denn indem das Mädchen mit aller Vehemenz die Vermännlichung anstrebt, leistet es zugleich auf das dominierende Weibliche Verzicht. (Hier ist eine reguläre Falschmeldung richtig zu stellen: Man behauptet zumeist, daß die Vermännlichung nicht auf Kosten des spezifisch Weiblichen erfolgen, nicht zwanghaft jene Entanmutung herbeiführen müsse, deren Zeugen wir geworden sind. Wer das behauptet, verbindet sich die Augen, oder weiß nicht was Anmut ist.) Auf dem Wege ins andere Lager, so viel steht fest, hat das Mädchen gewonnen und verloren. Es gewann den Mut, sich zu ändern, es verlor die Anmut, zu sein. Das ist diesen Verlust leichten Herzens trägt, beweist, daß es verkennt, worauf es verzichtet. Man hat ihm seine Art so lange verschwommen himmelblau gemalt, bis es die scharfen Linien der Abart für die Konturen der Erfüllung hielt.

             Das ist der Tatbestand.

             Er fordere zur Abhilfe heraus, sei zur Katastrophe geworden, sagt im eröffneten Verfahren der zur Klagebegründung verhaltene Anwalt der Väter. Der Klageanwalt sagt: Was sich heute junges Mädchen nennt, ist ein Pasquill. Denn das ist weder Jugend noch Mädchentum; das ist frühaltes Raffinement und desolater Illusionsverlust. Zynisch ist es. Schamlos. Sehen Sie, wie die Beklagten vor Gericht erschienen sind? Sind diese überroten Lippen nicht Beweis? Diese Sprache der kalten, nackten, infamen Worte? Dieses respektlose Lachen? Diese lächerliche Tracht, die die Röcke kindlich kürzt, um die Gesichter greisenhaft zu altern? Beweist es nichts, daß diese Neunzehn- und Zwanzigjährigen, deren eine wie die andre, jede wie aus einem Tanzhaus aussieht, vom tollen Ehrgeiz gepackt sind, alle Farben der Natur geniert auszulöschen und die Schminke aller Unnatur triumphierend aufzutragen? Dieser Zwittergeneration, der auf dem Irrweg zum Männlichen der Rückweg zum Weibe verloren ging, sind die Begriffe verloren gegangen, die den Inbegriff des Weibes bedeuten und erhöhen: Scham, Demut. Scham? Wo finden Sie sie? Auf überroten Lippen, die gewohnt sind, Gespräche zu führen, Scherze zu erzählen, Zweideutigkeiten zu ermuntern, deren Allgemeinheit nur ihrer Gemeinheit gleichkommt? Auf geschminkten Wangen, in berechnenden Blicken, in der ganzen willkürlichen Preisgegebenheit, in der sich das Geben nach dem Preise richtet? In diesem allem Zurschau-, zu allem Bereit-, von allem Berührt-, von nichts Ergriffensein? In dieser schnöden Ausflucht, die den Mantel der Kameradschaft über die Blöße des Zynismus hängt? Scham? Sie finden sie nicht. Denn sie fiele allzu lästig an den geweihten Stätten, wo die Altäre dieser Generation stehen: auf den Fußballplätzen, bei den Niggertänzen: in der Welt, die der Ingenieur gemacht, der Intellekt geheiligt, die Spekulation bezahlt hat. Scham ist ein Defekt geworden, dessen man sich schämen muß. Habe ich Demut gesagt? Wo in aller Welt sind Sie ihr begegnet? „Entgötterung“ heißt das Stück, das das Welttheater täglich vor ausverkauften Saale spielt und das die Menschen so zum Lachen, weil es die Götter und die Gottheit bringt. Siehe da, der Heiligenschein ist ein Rundstreifen Goldpapier, die Größe eine Machination der hohen Stöckel, die Ewigkeit das Manöver einer falsch gestellten Uhr. Herunter mit der Draperie! Werdet unseresgleichen! Werdet klein! Da klatschen die Zuschauer Beifall. Sie sind entzückt von der Komödie, die ihnen beweist, daß es absurd ist, zu verehren. Schiller ein Phänomen? Hört ihr von Bombast seiner Rede, das Oberlehrerpathos seiner Phrase? Wagner grandios? Dieser tückische Intrigant? Bismarck ein Staatsmann? Laßt euch erzählen, was er ans Varzin bei Tische sprach! Und Jesus Christus – Mensch, haben Sie denn nicht gelesen, daß es ihn nicht gab? Unwiderleglich bewiesen, daß jene Stelle bei Josephus Flavius apokryph ist? Verehrliches Publikum! Das Hohe hat nie gelebt; das Große ist klein; das Venerabile ein Schwindel. Hereinspaziert, bei uns sehen sie alles, wie es ist, wir lassen uns nichts vormachen, wir jungen Menschen von heute, wir bewundern nicht, wir respektieren nicht, wir pfeifen auf den Humbug, wir jungen Menschen von heute…. wir stehen nicht mehr Spalier. Denn wir haben zu viel Intellekt! Wir haben zu viel Witz! Und mit Intellekt und Witz wird ein Apostel zur Kabarettfigur. Demut? Sie finden sie nicht. Nicht Scham, nicht Demut. Zynismus statt dieser, Intellekt statt jener. Das ist fürchterlich. Aber derselben jungen Generation, der nichts heilig ist, wird morgen das Heiligste überantwortet sein: diese jungen Mädchen sind die Mütter, sind die Erzieherinnen von morgen. Alles oder nichts der Zukunft hängt von ihnen ab. Deshalb haben wir die Klage erhoben. Deshalb beantragen wir, daß ihr stattgegeben werde…

             Jetzt ist es an den Beklagten, zu antworten. Sie führe ihre und der andern Sache selbst, erwidert eine von ihnen, steht auf, tritt vor und spricht. Blaß unter dem Puder, schmal, straff steht sie da. Entschlossen schaut die aus erregten, großen, wissenden Augen. Kein Blick seitab. Keiner nachgiebig. Ganz wenig zittert ihre Stimme, als sie zu reden beginnt. Dann redet sie sich frei. Sie wolle offen reden, sagt sie. Schonungslos. Man muß, sagt sie, die Wahrheit sagen… endlich! Wir jungen Mädchen sind anders geworden, ja. Deshalb klagt man uns an. Warum aber – warum sind wir anders geworden? Darauf hat sich der Advokat unserer Väter mit keiner Silbe eingelassen. Ich will es sagen: Wir sind anders geworden. Weil es, wie es gewesen ist, nicht länger zu ertragen war. Weil es unmenschlich war! War das, was zu leben man uns ansann, denn Existenz? Wir sind erzogen, sind in Watte gewickelt, sind herangebildet worden, gewiß. Wir haben Englisch gelernt und Kunstgeschichte. Oder Buchhaltung. Oder Kochen. Und wir haben Tennis gespielt. Und man hat uns zu Konzerten geführt. Aber wir sind im Zimmer gewesen. Achtzehn oder zwanzig Jahre im Zimmer. Das Zimmer war weiß und hatte nette, blanke Möbel und nette, lichte Vorhänge und possierliche weiße Teddybären gehabt. Gewiß. Wenn aber draußen wer vorbeigegangen ist, hat man „Pst!“ gemacht. Wenn draußen wer geredet hat, hat man „Pst!“ gemacht. Wenn etwas gestehen ist, irgendetwas außerhalb des Zimmers mit den netten, blanken Möbeln, hat man „Pst!“ gemacht… achtzehn oder zwanzig Jahre. Und diese achtzehn oder zwanzig Haftjahre mußten doch einem Zweck gedient haben? Diese Vorsicht und Kerkermeisterschaft mußte doch an ein Resultat gewendet worden sein? Sie hat auch einem Resultat gedient: der Heirat. Eines Tages zeigte man uns wen und verlangte: Den wirst du heiraten. Ob er einem mißfiel oder nicht, ob er einem innerst entgegen war oder nicht: Den wirst du heiraten. Und dann lehnte man sich auf. Und dann wurde man der Auflehnung müde. Und dann wollte man aus dem Zimmer mit den netten, blanken Möbeln, so oder so! Und so wurde man verkuppelt. So wurde man Frau. So wurde man jämmerlich hintergangen. Vorher: Nichts. Nachher: Qual. Alles Lüge, was man einem vorgeredet hatte. Lüge der Elternliebe, die einen schließlich feilbot. Lüge das Versprechen von den „glücklichen Ehen“, das einen gefügig machen sollte. Glückliche Ehen? Und wo gab es sie? War das glücklich, was man vor Augen hatte? Sind die Ehen unserer Eltern glücklich? Verrat sind diese Ehen, Mißbrauch, Demütigung, Enttäuschung, Maske und Verzicht. Und dafür wurde man herangezogen. Für nichts sonst. Für einen Bankrott.

             Aber… dann wurde es draußen zu laut, als daß man immer noch „Pst!“ hätte machen können. Dann kam der Krieg, und man konnte uns brauchen. Wir, die Menschenalter hindurch zu nichts zu gewesen waren, wurden plötzlich Gehilfen. Wir traten nahe hin. So sahen wir. Wir sahen leben. Wir sahen sterben. Wir sahen, wie ungeheuer viel zu tun war und wie ungeheuer schlecht man es tat. Da fühlten wir, wie stark wir waren! Wie viel Kraft man in uns zurückgedämmt, an wieviel Leistung man uns verhindert, wieviel Versäumnis man unverantwortlich an uns verschuldet hatte. Es gibt keine Privilegien des Geschlechts. Nur der Kraft. Wir hatten die Kraft. Mit einem Schlage, herrlich begierig, herrlich entschlossen, traten wir hervor und zeigten die Kraft. Wir halfen. Wir bewiesen, daß man uns unterschätzt hatte. Wir leisteten. Wir vegetierten nicht mehr. Wir sind anders geworden.

             Wir sind anders geworden. Rosenrot und Himmelblau sind unsre Farben nicht mehr. Selbstverständlich. Wir haben zuviel Schwarz gesehen. Und die Augen niederzuschlagen, haben wir verlernt. Selbstverständlich. Wir mußten sie ja zu lange offen halten. Und Respekt zu haben, fällt uns schwer. Selbstverständlich. Zu viel Kleinheit, zu viel Niedertracht ist an uns herangekommen. Respekt vor den Männern, die uns brotneidig wegdrängten und denen wir, was uns gebührte, wie eine Gnade Schritt um Schritt abringen mußten? Respekt vor den Männern, die uns hinter einem weißen Gitter einsperrten, damit wir ihnen zu Willen, nicht zur Konkurrenz seien?

             Wir sind, wie wir werden mußten. Wir haben uns kraß vermännlicht, weil man uns kraß verweiblicht hat. Wir tragen die Schminke der Zeit, weil wir sonst unterlägen und weil man uns so will! Wir sind keine Gänschen mehr, weil die Epoche nicht reicht genug ist, mehr Gänschen und weniger Gehilfen zu besitzen! Wir sind, wie wir sind.

             So können wir nicht Rücksicht nehmen. Auf niemanden und auf nichts. Nicht auf Scham, die durch und durch steril ist, nicht auf Demut, die immer zurück zeigt. Wo auf der einen Waagschale die Existenz, auf der andern die Konvenienz liegt, darf keiner etwas anderes wollen, als: sich. Unbeirrt. Ungezwungen. Jeder ist Mensch. So will er selbst sein. So will er sich entwirken. So will er nicht verzichten müssen. Keiner will sich opfern… wer lehrt denn noch solch eine lächerliche Lüge! Und wer einem die Fußbank des Gottgefallens, der Moral, des Ideals – dieses alte, wurmstichige, von jedem Betrug abgescheuerte Requisit unterschiebt, lügt nicht nur, sondern lähmt! Lähmen lassen wir uns nicht mehr. Wir wollen unsern Anteil. Den Anteil Leistung, den Anteil Lust. Die Rechnung stimmt, es bleibt kein Rest. Deshalb beantragen, nein, deshalb verlangen wir, daß die Klage abgewiesen werde…!

             Das sind die Standpunkte.

Was an diesen Standpunkten ist wahr? Es ist wahr, daß der Existenzkampf, den die junge Mädchengeneration führt, notwendig, unaufhaltsam und gerecht ist. Es ist wahr, daß eine Zeit, die sich behauptetermaßen der Menschenrechte an- und den Mund von sozialen Pflichten vollnimmt, an der primitivsten Gemeinschaftspflicht: der absoluten, unverkürzten Gleichstellung der Geschlechter nichts mehr zu belächeln finden darf. Den Artikel 7 unserer Verfassung müßten alle Männer solange memorieren, bis sie begriffen haben, daß er nicht Juristen-, sondern Menschengesetz ist: Die Frau hat dieselben Rechte wie der Mann. Kein Spott, kein noch so witziges Argument, keine Ironie, keine Infamie kommt dem bei. Da die Frau, die gereifte wie die junge, sich bewiesen hat: exemplarisch bewiesen; bewiesen als Entbehrerin; bewiesen als Lehrerin; bewiesen als Leisterin, ist ein Gegenbeweis nicht mehr anzutreten, weil es keinen gibt. Wo immer die Frau ihren Platz gesucht hat, sie hat ihn behauptet: Wenn also nicht ihr Menschenrecht, so spricht die Leistung für sie. Die Leistung spricht sie frei. Es ist unwidersprechlich wahr, daß die jungen Frauen um ein Erbe kämpfen das ihnen längst hätten eingeantwortet sein müssen.

Und es ist unwidersprechlich wahr, daß sie diesen Erbprozeß schlecht führen; es ist unwidersprechlich wahr, daß sie vielfach die Scham, daß sie vielfach die Demut verloren oder vernachlässigt haben. Aber wenn Gleichberechtigung das Sittengesetz des Geschlechts der Menschen, so ist Scham und Demut das Sittengesetz des Geschlechts der Frau: Scham ist die Fruchtbarkeit des Erkennens, Demut die Fruchtbarkeit des Gefühls. Was an Widerstand, an pharisäischem wie ein überzeugtem, sich der jungen weiblichen Generation noch entgegenwirft, rührt ausschließlich aus ihrer Verleugnung. Hiemit drapiert sich die Konkurrenzpanik der in der Leistung Minderwertigen, dies legitimiert die Vätergeneration, ab-, statt freizusprechen. Die jungen Frauen kämpfen um sich selbst. Doch indem sie sich finden, verlieren sie sich. Indem sie dem Berufe zueilen, verlassen sie ihre Berufenheit. So kehrt man ihre Waffen gegen sie. Warum haben sie sie vergiftet? Warum verführen sie die Welt zu der abgrundfalschen Meinung, daß sie einem nichts gebe, ehe man sich preisgab? Warum? Aus demselben Grunde, der die Wortführerin der jungen Generation behaupten ließ, ihre Rechnung stimme ohne Rest.

Die Rechnung stimmt. Bleibt wirklich kein Rest? Er bleibt, bleibt schmerzhaft. Hat man nicht gehört, wie präzis und streng die Klage war? Wie exakt und streng die Antwort? Streng. Streng. Die Welt hat die Wärme verlernt. Staatsanwälte alle, Anwälte der Entherzung. Alle klagen an. So bleibt ein Rest. Ein ungeheurer Erdenrest Sehnsucht, ein ungestillter, innerster, stürmischer Wunsch nach Versöhnung. Väter und Töchter. Klingt da nicht eine Saite? Schwingt sie nicht mit einem vollen, klaren, bluttiefen Ton? Väter! Fordert nicht Privilegien, gebt und fordert Herzrecht! Töchter! Laßt euer Wissen Ahnung werden! Ahnung der ungeheuren Sehnsucht einer beschmutzten, frierenden Welt nach Wärme, nach Reinheit. Ahnung, daß ihr zu wenig Liebe habt, um genug Scham und Demut zu haben. Und daß ihr geschaffen seid, aus Scham, Liebe und Demut die Zukunft zu gebären, in der ihr sein sollt, was ihr wollt: Berechtigte, und was ihr müßt: Mütter. Dann wird der Prozeß, den man gegen euch führt, keine Rechts-, sondern ein Entwicklungsprozeß, mithin für euch unverlierbar sein.

Das ist das Urteil.

In: Neue Freie Presse, 17.10.1926, S. 1-4.

Margret Hilferding: Geburtenregelung.

             Die Schwangerschaftsverhütung (Prävention) ist imstande, die Regelung der Geburten in bezug auf die Zeit und Modalitäten der Zeugung zu bewirken. Wenn sie sich auch nicht in jedem Einzelfalle als zuverlässig erweist, so ist ihr Einfluss auf die Geburtenbeschränkung unbestritten. Sie ermöglicht es, den Lustgewinn beim Geschlechtsverkehr von der Kinderzeugung abzulösen; die Kinderzeugung kann daher mit voller Berücksichtigung der Umstände, die wir in den früheren Artikeln als für die Fortpflanzung wichtig erörtert haben, unternommen werden. Die Auswahl in der Beschaffenheit der Erbmasse beider Eltern, die Wahl des nach äusseren und inneren Momenten günstigsten Augenblickes der Zeugung, die Quantität der Nachkommenschaft ist durch eine zweckmässige und konsequent durchgeführte Prävention gesichert. Die Aufklärung der Eltern in Beratungsstellen, durch Vorträge und Zeitungen wird erfolgreich sein, wenn gleichzeitig die Möglichkeit der Prävention durch leichte Erreichbarkeit der Präventivmittel gegeben ist. Die Krankenkassen könnten diese Aufgabe mit geringer materieller Belastung durchführen, wenn sie endlich das entsprechende Verständnis dafür hätten. Durch jede wohlgeglückte Prävention wird jene andere Methode der Geburtenbeschränkung überflüssig gemacht, von der wir zum Schlusse sprechen wollen. Es ist die Fruchtabtreibung.

             Der Versuch, mit gesetzgeberischen Mitteln die Fruchtabtreibung zu verhindern, stammt aus einer Zeit, in der dieser Eingriff als ärztliche Leistung nicht bekannt war. Er richtete sich damals gegen jene ganz rohen und brutalen Gewaltmittel, durch die Laien früher eine Abtreibung vorzunehmen versuchten. Das waren schwere Gifte, insbesondere Phosphor, und körperliche Verletzungen grober Art. Ihr Erfolg war stets eine Schädigung der Gesundheit der betroffenen Frau, oft mit tödlichem Ausgang, während die Abtreibung nicht immer gelang. Die Auffassung der Abtreibung als schwere körperliche Verletzung ist aus dem Wortlaut des Gesetzes (§ 144 und folgende) noch heute erkennbar. Von einem ärztlichen Eingriff konnte, wie gesagt, damals noch nicht die Rede sein; die Anwendung des Gesetzes auf ärztliche Operationen ist daher ein Anachronismus und es ist höchste Zeit, dass seine Änderung erfolgt. Über die Art dieser Abänderung tobt ein heftiger Kampf, den wir an den Erkenntnissen, die wir in früheren Artikeln gewonnen haben, beleuchten wollen.

             Wir müssen ohneweiters zugeben, dass bei dem ungeheuren Interesse, dass die Gesellschaft an Qualität und Quantität der Nachkommenschaft hat, ihr das Bestimmungsrecht auf zwar noch ungeborenen, aber doch lebende Mitglieder nicht abgesprochen werden kann. Eine Vernichtung solchen Lebens darf daher im Interesse der Gesellschaft nur bei solchen Keimlingen erfolgen, für die eine Prävention zu Recht bestanden hätte. Wenn der Gesellschaft aber ein Einspruchsrecht gegeben ist, so muss sie als Gegenleistung auch alle Pflichten übernehmen und teilen, welche der Vorbereitung und Bestätigung der Elternschaft (Mutterschaft) dienen. Sie muss die Eltern nicht nur über die Grundlagen der Bevölkerungspolitik aufklären, sie muss die Vorbedingungen für jede Bevölkerungspolitik erst schaffen. Die Frage der Ausschaltung kranker Erbmassen muss ebenso gelöst werden, wie die Frage der Aufzug des künftigen Kindes. Schwangerschafts- und Stillfürsorge, Behebung der materiellen und der Wohnungsnot, Erziehungsfürsorge in grösstem Umfange werden die Anerkennung und den Gegenwert für die Leistung der Elternschaft bilden.

             Es wird auch Aufgabe der Gesellschaft sein, in allen Fällen, wo sie auf das Leben des Nachkömmlings keinen Anspruch erhebt, also in irgendeiner gesetzlich festzulegenden Form die Einwilligung zur Fruchtabtreibung gibt, dafür zu sorgen, dass dieser Eingriff mit der geringstmöglichen Gefahr für die Mutter vorgenommen werden kann.

             Durch die Fortschritte der Operationstechnik und der Asepsis ist der ärztliche Eingriff zu einer Vollkommenheit gebracht, welche das Gefahrenrisiko für die Mutter bei wohlerwogener Auswahl der Fälle und technisch einwandfreier Durchführung sehr gering gestaltet. Vielleicht wird eine spätere Zeit erst noch mehr verringern.

             Dagegen steht noch immer jene ungeheure Zahl von Fällen, in denen oft geradezu veranlasst durch die Drohungen des § 144 die Frauen – und stets die ärmsten und hilflosesten – zum Pfuscher getrieben werden und die mangelhafte Fürsorge der Gesellschaft in bezug auf die Geburtenregelung mit der Gesundheit, mit dem Tode, mit Schande und Kerker bezahlen. Es muss ein Weg gefunden werden, um diesen Frauen zu helfen; und nur dann werden wir eine Abänderung des § 144 als gut ansehen können, wenn er die Ungerechtigkeit, Asozialität und Gefährdung von Menschenleben aus der Welt schafft, die jetzt zur Praxis jener Paragraphen und all derer, die sie handhaben, gehört.

             Wir müssen hier auf eine Bemerkung im ersten Artikel zurückkommen, die sich auf den Unterschied zwischen Geburtenregelung und Geburtenbeschränkung bezog. „Geburtenbeschränkung gründet sich auf das durchaus egoistische Motiv des persönlichen Wunsches, der persönlichen Fähigkeit zur Nachkommenschaft. Geburtenregelung geht hervor aus den altruistischen Beweggründen der gesellschaftlichen Notwendigkeiten in bezug auf Quantität und Qualität des Nachwuchses. Die Forderung der Geburtenbeschränkung ist die Forderung des verantwortungslosen Laien, die Forderung der Geburtenregelung ist die Forderung der ihrer Verantwortung bewussten Wissenschaft!“

In: Die Mutter, 1.4.1925, S. 6-7.

Claire Patek: So sieht die schöne Frau von heute aus

Fotos: Kitty Hoffmann

             Seitdem man von den Rubens-Idealen abgekommen ist, hat sich der Geschmack in bezug auf die Frauenschönheit einige Male geändert. Allerdings ist der Übergang nicht kraß vor sich gegangen, sondern milde; man konnte doch nicht alle üppigen Frauenschönheiten plötzlich aus der Welt schaffen. Von Rubens bis zu Makart wurde der Schönheit, nach unseren Begriffen, Arges zugemutet. Es war eine Zeit, die viel Unnatur mit sich brachte. Das einzige, was unserem Geschmack näher kommt, ist die Abkehr von der Vollbusigkeit. Allerdings wußte man damals nicht, wie den Massen beizukommen wäre, und einigte sich auf die hohen Panzer, die die Unformen der damaligen Modezeit ausmachten. Man gefiel sich darin, ein unnatürliches Taillenmaß zu erreichen. Heute kann man nicht begreifen, daß Frauen, die sich solchem Zwang fügten, nur um dem damaligen Schönheitsideal, überhaupt lebensfähig waren. Wie arm waren die inneren Organe behandelt, im ewigen Druck konnten sie sich gar nicht entwickeln. Nach oben und nach unten war der Üppigkeit keine Grenze gezogen, nur die Taille mußte daran glauben, daß es nun ernst wird mit der Änderung der Figur!

             Es gab damals noch keine Hungerkuren, sondern nur Panzer, in die man sich einengte;  heute noch existiert in Wien eine Dame, die man hie und da mit einem großen Hund an der Leine über den Ring oder durch die Stadt wandeln sieht, an der die Zeit wohl nicht spurlos vorübergegangen ist, die aber in der Mode stehen geblieben ist und heute noch das Schönheitsideal der Achtzigerjahre vertritt. Alt und Jung dreht sich nach der „Wespentaille“ um (wie sie im Volksmund heißt), // wenn sie mit einem großen Hut, der auf einem großen Schopf balanciert, durch die Straßen geht: Jung spottet über die Taille, die so eng ist, daß man 49cm Höchstausmaß vermutet, Alt lächelt wehmütig, da man sich an bessere Zeiten erinnert, wo man an derartigen Gestalten hunderte Male vorüberging.

             Und dann kam eine Zeit, in der man es endlich einsah, daß der Fuß der Frau, wenn er hübsch ist – und er ist es bei den Meisten – zu sehen sein sollte: der Rock wurde also kürzer. Dann kam eine Zeit, die mit dem Fischbein-Panzer abzuschließen begann, die Vollbusigkeit verlor sich in eine alles gleichmachende Linie, die Taille sank fast bis zum Knie, und der hohe Kragen gehörte der Vergangenheit an, die noch nicht lange zurücklag, die man aber aus dem Gedanken verbannte. Es gab damals in allen Zeitungen viele Rundfragen – „Für und gegen den hohen Kragen“ –, es stritten die Ästheten wegen der Länge des Rockes, es gab Kämpfe wegen der nun beginnenden Miederlosigkeit, die gerade Front verschwand und die Modeideale: Turnen, Schwimmen, Touristik, Auto, Tennis und, vor allem Tanzen trainierten die Körper. Natürlich wollten viele Frauen mit den Hungerkuren alles erreichen, was ihnen an Schlankheit vorschwebte, aber diese Frauen erreichten neben der Schlankheit auch noch recht viele Falten im Gesicht, und das gehörte gerade nicht zum neuen Schönheitsideal. Als erst wieder die jüngste Jugend herangewachsen, und zwar im Sporttraining groß geworden war, begann der neue Frauentypus großes // Gefallen zu erregen, – das neue Schönheitsideal war mit einem Male gefunden.  Die edle schlanke Rückenlinie, die feste kleine Form des Busens, die Gelenkigkeit aller Glieder, der schlanke Hals und die Schönheit der Beine; bei aller Schlankheit keine Hagerkeit oder unschöne Magerheit – das ist die moderne Frau, die sich im Wandel der Zeiten zur begehrenswerten Schönheit herausgebildet hat.

             Wenn die Rubens-Frauen sehen könnten, wie sehr sich der Geschmack verkehrt hat, sie würden sehr traurig sein über all ihre Fettpolster und es nicht begreifen, wie die moderne herbe Grazie über ihre Lässigkeit, die damals Schönheit nannte, siegen konnte… Auch die Wespentaillen würden kein Verständnis für die heutigen Ideale haben, denn auch sie glaubten ja mit ihrer Geziertheit und Unnatürlichkeit der Inbegriff weiblicher Anmut zu sein. Heute gilt noch immer Grazie und Schick, aber er muß ein wenig preziöser, ein wenig eigenartiger, herber sein als früher – das ist dann die Frau, deren Schönheit bewundert wird und die den Typus von heute repräsentiert.

             Unsere Bilder zeigen die modernen Frauen, die heute als vollendet schön gelten: den Typus, der sich von Rubens über Makart bis zum heutigen Tag ausgebildet hat.

In: Die Bühne, H. 137/1927, S. 22-23 und S. 47.

Carl Marilaun: Die jungen Männer

„Der ‚junge Mann von Welt’, dessen österreichischer, Wienerischer Spielart Richard Schaukal, ein älterer Mann von Welt vor zehn Jahren ein ironisch-apologetisches Brevier gewidmet hat, ist im Aussterben begriffen. Er war ein ‚junger Herr’, und servierte seine tadellos manikürte, nach dem Journal des Londoner Schneiders equipierte und hinreißend gescheitelte Eleganz jeden Mittag in der großen Korsoauslage zwischen Graben und Kohlmarkt. Er war bei Demel zu treffen oder in der Weinstube der Berta Kunz, er plauderte mit Frau Anna Sacher unter der roten Glashalle ihres Hotels, er stand wie angewachsen an der Sirk-Ecke, man traf ihn in der Burgtheaterloge und beim Stelzer, und sein Vormittag in der Statthalterei oder am Ballhausplatz war nur die Einleitung zum Gustostück seines nicht allzu anstrengenden, aus lauter angenehmen, aber dringenden Nebensächlichkeiten bestrittenen Daseins: zum Gang über Graben und Kärntnerstraße, wo man eine Menge von Leuten Gutentag zu sagen und einer Unzahl schöner Frauen die Hand zu küssen hatte.

Heute gibt es nur noch junge Männer in der Gegend des ‚jungen Herren’. Das hübsche, etwas nichtige, nette und küssdiehandgeschäftige Gesicht des jungen Mannes von Welt ist auch auf dem wohlsituierten Korso nicht mehr zu erblicken. Wie es überhaupt auch keinen eigentlichen Korso mehr gibt, welche Tatsache ich natürlich keine melancholische und nicht einmal eine bissige Betrachtung zu knüpfen ersonnen bin. Graben und Kärntnerstraße sind belebter als je, und die jungen Männer, die man dort trifft, tragen zwar bereits Anzüge und Winterröcke des Londoner oder eines nicht billigeren Wiener Schneiders, aber sie behalten den Hut auf dem Kopf, wenn sie mit dem gewissen, unangenehm und impertinent taxierenden Blick des jungen Mannes von heute mit ihren Damen sprechen. Zu ihrer Entschuldigung könnten sie allerdings anführen, daß die Damen danach sind, wenigstens meistens. Der gesellschaftliche Verkehr vollzieht sich auf der Basis einer gegenseitigen und wahrscheinlich wohlangebrachten Geringschätzung. Man trifft sich mittag auf dem Kohlmarkt und begrüßt einander mit einem Augurenlächeln, das vermutlich anderen, weniger gesellschaftsfähigen, aber Gott sei Dank zurückliegenden Begegnungen gelten dürfte. Wenn diese neuen Herrschaften „Guten Tag“ zueinander sagen, klingt es so ungefähr wie: „Weit haben Sie’s gebracht!“ Und da sich die heutige Gesellschaft auch als beste Gesellschaft nicht gern ein Blatt vor dem Mund nimmt, kann man auf dem Kohlmarkt nicht so selten einen jungen Mann im Gürtelüberzieher seine Dame, die einen Pelz von Drecoll oder Grünbaum trägt, mit dem auf dem Graben und Kohlmarkt geflügelt gewordenen Wort begrüßen hören: „Seit wann gehen Sie hier spazieren?“

Worauf der unbeteiligte Zuhörer unter Zuhilfenahme des gesellschaftlichen Jargons eigentlich sagen müßte: „Weit gebracht!“ Aber meistens sagt es schon die Dame selbst.

Man sollte glauben, daß der junge Herr, den es nicht mehr gibt, das am lebhaftesten erstrebte Ideal der jungen Männer von heute wäre. Aber wer dies glaubt, irrt sich vielleicht doch in der Psyche dieser aufsituierten und bereits auf eine bewegte Jugend zurückblickenden Fünfundzwanzigjährigen. Diese jungen Herren haben wirklich andere Sorgen. Ihr Lebensinhalt ist keineswegs der Raglan, den sie tragen. Daß er teuer ist, versteht sich von selbst; daß er beim ersten Schneider bestellt wurde, ist selbstverständlich. Aber er wird lediglich angeschafft, bezahlt und getragen, weil man es sich leisten kann. Man trägt ja auch den wundervoll gerade gezogenen Scheitel des jungen Herrn, aber dieser Scheitel ist eigentlich Sache des Friseurs; eines teuren Friseurs, der für das Geld, das er bekommt, alle unterrichtet, und man knüpft hier jene Verbindungen an, die man in der Taborstraße vielleicht verfehlt hätte.

Wirklich Junge trifft man nicht mehr am Korso. Nur Zwanzig- bis Fünfundzwanzigjährige, denen die Züricher Devisenkurse oder ein greifbarer Posten Chiffon, es können aber auch Schuhnägel sein, den holden Wahn längst ausgetrieben hätte, wenn sie von solchen Torheiten überhaupt jemals etwas auf Lager gehabt haben sollten. Das Leben birgt für sie keine Rätsel und Hindernisse, über die andere gestolpert wären, beseitigen sie mit einem Telephonanruf. Für sie funktioniert nämlich sogar ein Wiener Telefon, denn sämtliche Verbindungen, die sie brauchen, haben sie längst.

Glattrasiert, mit einem Raubtierkinn, breitschultrig, starknackig, gehen sie ihres Wegs; unverträumt, unbelästigt von Widrigem, keinem bösen Zufall anheimgegeben, aber für jeden günstigen parat. Ihnen gehört die Welt. Und davon, daß Schwächlinge in ihr nicht leben können, profitieren sie.

In: Prager Tagblatt, 24.12.1920, S. 3.

Ann Tizia Leitich: Der neue Mann in Amerika

             Durch die Bureaux aller literarischen Agenturen Newyorks rannte neulich, seine Haare raufend, ein Manager: die Vehemenz, mit der er Türen zuschlug und aufriß, wehte die Manuskripte von den Tischen, so daß sie den Boden wie Januarschnee bedeckten. Die Verstörtheit seines Blickes raubte selbst den hartgesottenen Stenographinnen Broadways die gewohnte Geistesgegenwart und ihre Hand blieb auf dem Wege zur Puderbüchse erschrocken stecken.

Was war los?

             Der Unglückliche suchte ein Stück, einen Roman, eine Erzählung, eine Short story – in seiner Verzweiflung kam es ihm schon gar nicht mehr darauf an, was es war. Nur sollte das Gesuchte sich mit einem Mann befassen, den ›Mann‹ und seine Probleme in den Mittelpunkt stellen. Und er fand nichts; deshalb die Aufregung. Schäumend vor Wut sagte er schließlich zu den versammelten zitternden Weiblichkeiten – Preßchefessen, Kinodramenschreiberinnen, Journalistinnen usw.: „Broadway für die, so mir ein Stück über den Mann und sein Problem schreibt!“

Notabene: Er sagte „die“, nicht „der“…

Es ist wahr: der Mann wird grausam und ungerecht vernachlässigt. Es gehört wahrer Pioniermut dazu, über ihn zu schreiben. Der neue Mann – mein Gott, was läßt sich über ihn schon Interessantes sagen! Immer nur heißt es: Die neue Frau! Ohne Ende gehen die Reden über sie. „Die Frau und ihr Problem“, „Die Frau und ihre Sphäre“, „Der Tag der Frau“, „Die Frau als Verdienerin und Mutter“, „Die Frau als Liebhaberin“, „Die Frau als Erhalterin“. Mit dem Stimmrecht fing es an und dann ging es weiter: Berufe für die Frauen, Bildung für die Frauen, Babies für die Frauen, freie Liebe für die Frauen, Liebhaber für die Frauen… Theaterstücke, Romane, Abhandlungen, Bände werden über sie geschrieben. Eine Menge Gehirne sind beschäftigt, sie zu analysieren, zu sezieren, zu klassifizieren. Die Frau okkupiert die ganze Bühne, früh, mittags und abends.

Die Frau hat dem Mann erst den „Saloon“ genommen, die Branntwein-Bierstube, dann hat sie ihn beim Barbier in eine Ecke gedrängt. In sein allerheiligstes Reservat, Business, ist sie eingefallen und hat sich ihm dort von der kleinsten Typistin angefangen bis zur hochbezahlten (aber immer schlechter als ein Mann bezahlten) divahaften Sekretärin unentbehrlich gemacht: hat natürlich damit all den mystischen Schimmer unerhörter Taten, den er ihr gegenüber um „Business“ zu verbreiten bemüht gewesen, wie eine Seifenblase zerplatzen gemacht, denn sie weiß jetzt genau wie es gehandhabt wird. Ohne viel Wesens daraus zu machen, ist sie ihm auf alle seine Aufschneidereien daraufgekommen. Sie ist ihm in die unzugänglichsten Berufe nachgestiegen. Eine Pastorin – keine von Gottes Gnaden, aber eine von ihrer eigenen und ihrer Zuhörer Gnaden – eine sogenannte „Evangelist“, das ist eine religiöse Predigerin, hat die ganze Nation kürzlich monatelang mit ihren Liebesaffären beschäftigt. Aimée Mac Pherson ist nicht nur gescheit und schlau, sondern auch anziehend als Frau. Sie hat in Los Angeles einen prachtvollen Tempel erbaut und nun, da dank der Zeitungen auch die Leute außerhalb Los Angeles von ihr genügend erfahren haben, rüstet sie sich zu einer großen Vortragstournee. Ja, die Frau mit dem doppelten Recht ihres erwachten Intellekts und ihres weiblichen Charmes ist heute überall. Warum auch nicht? Hat sie nicht absolut gleiche Rechte wie der Mann? Oder vielleicht nicht? Wer wagt zu widersprechen?

Der Mann gewiß nicht. Nicht in diesem Land. Er schweigt und weicht. Und dieses schweigende Zurückweichen kommt mir fast verdächtig vor. So, als ob er sich denken würde; Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Vielleicht schmunzelt er bei sich: „All right, let them run the world. – Laßt sie mal die Welt regieren; das gäbe uns dann endlich eine Gelegenheit, auf einen großen, schönen Urlaub zu gehen, zu fischen, Golf zu spielen und Witze zu erzählen soviel wir wollen und so lang wir wollen; einmal ordentlich und ausgiebig nichts zu tun“

Wir haben den Mann in die Defensive gedrängt. Und was immer nun aus ihm wird, es ist unsere Schuld oder unser Werk. Daß sich aber etwas vorbereitet, darüber bin ich mir, meine Damen, nicht im Zweifel. Die Phrase, „der neue Mann“ ist heute eine kleine Notiz auf der vorletzten Seite der Zeitung. Aber morgen, möglicherweise, steht sie schon fettgedruckt auf der Frontseite. Es sind Anzeichen vorhanden, Anzeichen, die darauf hindeuten, daß wir einen neuen Luxusmann bekommen. – Sehen Sie, meine Damen, so bin ich endlich, auf der dritten Seite meines Briefes, mit einer Überraschung vor Sie hingetreten. Denn diesmal sind wir, wir in Amerika, Ihnen voran.

Betrachten Sie einige der Anzeichen: In England haben die weltberühmten, tyrannischen Schneider aus Savile Row neulich zum erstenmal männliche Mannequins, zu 5 Dollar das Stück, für eine Modenschau engagiert, die in einem Lokal der ebenso historischen Regent Street arrangiert wurde und ein ausgesprochener Erfolg war, das heißt, das männliche Auditorium sah die Sache nicht hochnäsig über die Achsel an, sondern interessierte sich dafür. Weiter: Flo Ziegfeld, der amerikanische Revuekönig, der bis jetzt berühmt gewesen ist als der Verherrlicher des American Girl, wählte neulich die „zehn schönsten Männer aus Broadway“. Bald werden seine Himmelslichter allabendlich zur „Glorifizierung“ des amerikanischen Mannes erstrahlen. Drittens: Neulich, in einer Week-end-Gesellschaft, das ist die einzige Gelegenheit, bei der man, außer im Nachtklub, hier die Gesellschaft des anderen Geschlechtes genießen kann, setzten sich einige Herren zusammen. Sie planten die Gründung eines Vereines, der sich allen Ernstes mit der Einführung einer phantasiereicheren männlichen Kleidung befassen wird. Den unmittelbaren Anlaß dazu hatte Monsieur Sascha Guitry aus Paris in seiner hiesigen Rokokorolle gegeben, in der er, dem neidvollen Urteil einiger Herren gemäß, selbstverständlich leichte Siege über Marquisen der Geburt und des Herzens davontragen könne, da er so entzückende Kostüme und der Stunde und der Liebeserklärung angepaßte Farben tragen dürfe. Urteilen Sie selbst, meine Damen: Sind dies nicht Zeichen eines Umschwunges?

Der elegante, in allen Nuancen der Anmut des Daseins erfahrene Kavalier, der Lebens- und Liebeskünstler, der Gentleman par excellence, der seine Hände mit dem mühsamen Erwerb von Geld nie beschmutzt hatte, der Arbeiter elegantiarum, der Meister der Muse – er ist nicht mehr. Die Zeit hat ihn über Nacht hinweggeweht. Vielleicht gibt es noch ein Paar Exemplare in England. Wollen wir hoffen, daß man sie, bevor sie absterben, für ein Museum der großen Vorkriegszeit erhält. Hier in Newyork fristet einer ein zwischen Luncheons und Dinners hin und her pendelndes Dasein. In dem für diese Spezies höchst ungünstigen Klima ist er allerdings schon etwas degeneriert, aber nicht in dem Maße, daß er sich durch Geldverdienen entwürdigen würde. Er lebt von seinen schönen dunklen Augen, seiner edlen, schweigsamen Pose und dem Nimbus seiner Abstammung von den Stuarts. Alle Schottländer stammen bekanntlich von dem einen oder dem anderen Königsgeschlecht ab. Er ist aristokratisch und schön schön, aber dumm. Und so bildet er einen Uebergang von dem Kavalier vieux jeu, der aristokratisch, wenn auch nicht immer Aristokrat war, der aber immer Geist besitzen mußte, Zu dem von mir eben prognostizierten Luxusmann, der den klaftertief Begrabenen einer absolut erledigten Epoche ersetzen soll, der seine Karriere ohne Geist und Adel, aber mit einer absolut geraden Nase und einer tadellosen Garderobe beginnt und in Anbetracht solcher Vorzüge auf die Abstammung von Königen und die Traditionen Casanovas, Beau Brummels oder Pückler-Muskaus nicht den geringsten Wert legt.

Dieser neue Mannestyp befaßt sich gleich seinem Vorgänger nicht mit Gelderwerb, außer es läßt sich dieses aus dem Handgelenk, etwa durch Spiel oder Spekulation bewerkstelligen. Er ist bis jetzt, wie gesagt, intellektuell vollständig// unbeschwert, was nicht heißen soll, daß er es immer so bleiben wird, liegt doch eine ganze lange und womöglich glanzvolle Laufbahn vor ihm, deren Ziel wir heute gar nicht bezeichnen können; wir vermögen nur zu konstatieren, daß die begonnen hat. Vielleicht interessieren Sie sich in Europa viel weniger dafür. Sie, meine Damen, haben sich ihrer Kavaliere erfreut, solange sie zu Ihrer Verfügung standen und als sie dann plötzlich eines Tages vom Erdboden verschlungen waren, haben Sie Ihr Interesse mit der dem weiblichen Geschlecht eigenen Anpassungsfähigkeit der neuen, von der eisern-harten Zeit geschaffenen Spezies Mann zugewendet, dem Verdienertyp, dem Selfmademan. Ihr Interesse für diesen war – wir sind ja unter uns, meine Damen – natürlich rein utilitaristisch, denn von ihm war Geld noch am ehesten zu erwarten. Und ihm, sowie dem, der sich gemäß diesem Modell umarbeiten konnte, fiel daher die schönste Beute aus Ihren Reihen zu. Panikartig verließen und vergaßen Sie die anderen, die einst Ihre Lieblinge gewesen, jene Kavaliere, die den Brutalitäten der neuen Zeit ratlos, wenn auch nicht würdelos, gegenüberstanden, und mag es auch dies, daß Sie ihnen Ihre holde Gegenwart entzogen, mit ein Grund für ihr rasches Absterben gewesen sein.

Sie haben aber nun, glaube ich, bereits gesehen, daß Sie mit dem Typ Erwerbermann nicht viel anfangen können, außer großmütig sein Geld auszugeben und seine Kinder aufzuziehen – tout comme chez nous. Im übrigen hat er teils keine Zeit und teils kein Talent, Ihre Tage mit seiner männlichen Grazie auszufüllen, aus dem einfachen Grund, weil diese nicht vorhanden ist. Wieder: Tout comme chez nous. Enttäuscht und ruhelos sehen Sie sich nach Abhilfe um.

Wir hier hätten Ihnen dies voraussagen können, wenn wir nicht wüßten, daß jeder durch eigenen Schaden klug werden muß. Denn wir haben seit langen Jahren genügende Erfahrung mit dem Typ Erwerbermann. Wir schätzen ihn. Er gibt einen ausgezeichneten Ehemann, den wir um nichts in der Welt mit Ihrem in Europa vertauschen wollten. Und wir geben ihn auch nicht her. Wir sind im allgemeinen nicht gut auf die verschiedentlichen barönlichen, freiherrlichen und gräflichen – sobald es ins Prinzliche geht, werden wir vielleicht etwas weicher, sogar heute noch – Attacken auf unsere heimische Girlwelt zu sprechen – the American man for the American girl! Aber: wir waren uns natürlich immer eines gähnenden Vakuums bewußt, was den Liebhaber, den Hofmacher, den Cicisbeo, den Troubadour (dessen Funktionen, wie Sie ja wissen, meine Damen, rein platonische waren), den verläßlichen Fünfuhrteegast, den geistreichen Plauderer beim Dinner betrifft. Er war nicht vorhanden. Wir haben Sie immer Ihrer bevorzugten Position wegen in dieser Hinsicht beneidet und wir sahen mit Erstaunen und heimlichem Ergrimmen zu, als die die Kavaliere hungern und sterben ließen oder es duldeten, daß sie Chauffeure und Exporteure wurden und der Schmelz ihres Alte-Welt-Savoir-Vivre im Gasolingestank und im Staub der Geschäftsbriefe unterging. Und während Sie Ihre Erfahrungen mit den unvollkommenen Vertretern einer neuen Mannesgattung machten – ich meine Gigolos, Tanz- und Sportjünglinge – haben wir, die wir uns mit dem Problem des Liebhaberersatzes wie gesagt schon länger befaßten, eine bereits etwas besser entwickelte Spezies hervorgebracht, nämlich den Scheik, geschrieben Sheik, gesprochen Schiek. 

Es wird Sie nicht verwundern, zu hören daß die Wiege des Original-Schiek nicht in Amerika, sondern in Europa und zwar in Italien stand. Hier aber war sein Weg in den Herzen, den Erwartungen und Sehnsüchten der Frauen schon vorbereitet. Und der Schiek, der seine Karriere höchst bezeichnend und zeitgemäß als Tangotänzer begann, brauchte nur zu lächeln, und das weibliche Amerika wußte, was ihm fehlte. Sie werden indes erraten haben, daß ich Rodolpho Valentino, den kürzlich Verstorbenen meine, der hier der Schiek genannt wurde, nach seiner ersten und erfolgreichen Rolle. Obwohl viele auf seinem Pfade wandeln, hat Rodolpho noch keinen ebenbürtigen Nachfolger gefunden, denn wie um alle Vollkommenen ist es einsam um ihn. Und in seiner Art war er vollkommen: eine vollendete, hohe und geschmeidige Gestalt, ein langer, schmaler Schädel, peinlich regelmäßige Gesichtszüge, die unfähig waren, irgendetwas anderes auszudrücken als das sanft erregte Entzücken über die Schönheit einer Frau; dieses aber mit einer unendlichen, und desto kostbareren, weil unbewußten Anmut. Also ein vollendeter Spiegel für unsere Schönheit und für den in unseren Augen ausgedrückten Traum von Liebe – und das ist es, was wir brauchen. Aber nicht bloß ein Spiegel, der uns unser und der Liebe Bild zeigt wie es ist, sondern einer, der es wie ein Prisma in strahlende Farben zerlegt. Wir denken nicht daran, unsere Männer zu betrügen, wir haben sie gern. Aber wir sind zu sehr Geschöpfe der Phantasie, als daß uns Hausmannskost allein behagen könnte. Wir brauchen ein wenig Schaukeln, ein wenig Spielen und immer – den Spiegel. Wir brauchen den Troubadour…

Ja, meine Damen, zum Unterschied von Ihnen verlangen wir von unserem Schiek vor allem, daß er – wie die altmodische, drüben bei Ihnen gänzlich abgekommene Phrase lautet – den Hof machen kann. Wir sind noch immer romantisch. Unsere Ehe ist seit jeher auf dem romantischen Kriterium des Gefühls aufgebaut gewesen. Die Romantik der Brautzeit verpuffte wohl bald, weil sie gewöhnlich auf nichts als auf Jugend gestellt war, und eine geruhsame, bequeme Kameradschaft folgte darauf. Diese Ehe genügte uns bis jetzt, denn wir waren sehr beschäftigt. Aber mit der Vermehrung unserer Mußezeit und der Verfeinerung unserer Nerven entwickeln auch unserer Gefühle Luxusbedürfnisse. Daher das Erscheinen des Luxusmannes.

Schon strebt dieser kavaliersmäßige Grazie an. Außerdem redet man hier jetzt soviel von Liebe, spricht, schreibt, liest soviel darüber, daß er wohl oder übel darin noch Experte werden wird. Heute ist seine Stirn wohl noch niedrig und sein Vokabolarium nicht allzu reich. Aber er wird bald lernen, daß es nicht nur die Möglichkeiten, seine Persönlichkeit auszudrücken, vergrößert, wenn er seine Bildung erweitert, sondern auch unser Entzücken. Er wird lernen. Er braucht nur eines dazu: Muße. Und, meine Damen, die sind wir ja im Begriffe, ihm zu geben. Nicht wahr?

In: Neue Freie Presse, 13.2.1927, S. 34-35.

Rudolf J. Kreutz: Nochmals – die Dame

             Emil Lucka, der verehrte Dichter-Philosoph, hat kürzlich an dieser Stelle den Begriff „Dame“ historisch belichtet, kritisch untersucht, und ist nach mancherlei geistvollen Schlüssen zu dem Ergebnis gelangt, daß unsere Zeit dem Typus jenes „zimperlichen Halbwesens, dessen Daseinsinhalt Schönrednerei, Faxen, Toiletten und Tee bedeutet“ feindselig gegenüberstehe. Das weibliche Ideal unserer Epoche sei die Kameradin. Sie lehne schroff die Dame ab, deren Wesensmerkmale Reserviertheit, Umständlichkeit und Äußerlichkeit seien. Denn sie setze an ihre Stelle Mut, Tatkraft, Zuverlässigkeit bis zum Selbstopfer.

             Es sei gestattet, das Vorstellungsbild „Dame“ aus einem anderen Blickpunkte zu betrachten, von dorther nämlich, wo Definitionen zwar versagen, aber ein gefühlsmäßiges Etwas, mit Worten kaum erfaßbar, für die die Dame zeugt, für ihre seltene, aber um so beglückendere Erscheinung wirbt. Hierzu ist die Vertrautheit mit dem englischen „ladylike“ unerläßlich, einer sprachlichen Formel, die sich restlos ebensowenig verdeutschen läßt, wie etwa „gentleman“, der mit Ehren- und Edelmann nur höchst obenhin übersetzt ist.

             Ladylike – Was bedeutet das? Welche Eigenschaften umschließt das Wort? Eine Unzahl, die überall, wo Frauen nach wirklicher Kultiviertheit streben, nach seelischer und körperlicher Verfeinerung lechzen, stets – gleichgültig, welche „neue Sachlichkeit“ immer das Verhältnis der Geschlechter umformen mag – heiß erstrebt, wenn auch nicht gerade oft vollkommen erworben werden.

             Ladylike: Wollte man damit bloß damenhaftes Benehmen, damenhaftes Auftreten von Fall zu Fall bezeichnen, es wäre reichlich wenig erraten. Was der Engländer meint, beinhaltet eine weit größere Forderung: Stets damenhaftes Sein. Die Selbstverständlichkeit des Tadellosen in seelischer und körperlicher Haltung, die unaufdringliche Harmonie, die Takt heißt, die Unfähigkeit zu brutaler Gebärde, zum schrillen Wort, zu formlosen Außersichgeraten. Die Beherrschtheit in Anmut, die Sparsamkeit der Geste, so es in Freude oder in Leid. Und vor allem: Das völlige Fehlen jedes Konventionellen, Gezierten, Gewollten. Die Frau, in deren Nähe wir sogleich, magisch verzaubert, die Dame erkennen, wirkt immer natürlich. Wir fühlen die Verkehrsformen, die sie zeigt, als mit ihr organisch verwachsen, als naturhaft, wir ahnen, daß der Charme, den sie hat, nicht eingedrillt, sondern eingeboren ist. Und – als Entscheidendes – wir sind gezwungen, die Distanz zu wahren, die sie bestimmt. Womit, weiß Gott, nicht behauptet werden soll, daß die Dame unentwegt Sklavin dieser Distanziertheit sei. Ihr Weibtum folgt keinen „feineren“ Entwicklungslinien als das anderer Frauen, ist ebenso triebbedingt. Aber selbst im Taumel der Sinne, im Ueberschwang der Hingabe, wird ein Wunderbares sie davor schützen, sich dirnenhaft zu übersteigern. Warum sollte sie sich nicht auch zur guten Kameradin eignen? Der Begriff Dame schließt Kameradschaft ebensowenig aus, wie er sie voraussetzt. Er ist weder Hemmung noch Antrieb zu funktionellen Eigenschaften, weil er lediglich ethisch und ästhetisch Gipfelpunkte weiblicher Vollendung umfaßt.

In: Neue Freie Presse, 10.10.1928, S. 1.

Richard Specht: Erotische Frauenbücher

[Rez. zu: Grete v. Urbanitzky: Der wilde Garten, Mela Hartwig: Ekstasen]

Immer noch, trotz aller Bemühungen der Psychologen und Psychoanalytiker, trotz aller zuständigen Gestaltungen der expressionistischen Literatur, ist, wie die Steglitzer Tragödie erst in den jüngsten Tagen wieder erwies1, die Zeit der Pubertät ein kaum erforschtes Gebiet, liegt wie unter Schleiern, hat etwas scheu Drohendes und Abwehrendes, das jeden forschenden Blick und jedes, auch das mildeste fragende Wort als Zudringlichkeit ablehnt und doch zugleich liebesbedürftig ersehnt.

Denkt man an dichterische Sublimierung dieser gefährlichsten, verworrensten, lockendsten, beängstigendsten und ahnungsbedrängtesten Jahre jeden Daseins, dann wird Wedekinds Frühlingserwachen als die genialste, mutigste und am tiefsten um all das Verborgene wissende Kindertragödie unter allen frühen und auch unter all den vielen späteren Formungen des Problems vor dem geistigen Auge stehen – weil hier alles aus schmerzhaftestem Erleben und rückhaltlosestem Bekennerdrang kommt und dabei ganz und gar nicht ins Seelisch-Gleichnishafte gerückt und aufs typisch Gültige gebracht worden ist.

An all diesen dichterischen und sogar an wissenschaftlichen Werken aber, die diese dunklen und vielleicht noch ungelöst gebliebenen Fragen der jugendlichen Psyche behandeln, fällt ein Besonderes auf: daß die Pubertätszeit der Knaben bisher eingehender untersucht und erwogen wurde, als die der Mädchen…//

Zu rechter Zeit kommt da ein kluges und tapferes Buch, das in all diese Dämmerbereiche hineinleuchtet und das neben dem Verdienst des unerschrockenen Schleierabreißens das zweite für sich in Anspruch nehmen darf, ein ungewöhnlich lebendiger, mit festen Griffen hingestellter, von starkem Blutschlag vorwärtsgetriebener Roman zu sein, den man nicht aus der Hand legt, ehe man die letzte Seite erreicht hat und der auch dann noch mit eindringlich mahnender Stimme im Leser nachklingt. Er ist von Grete v. Urbanitzky, die schon durch „Mirjams Sohn“, ihre letzte Erzählung, zu beträchtlichem Niveau gelangte, und heißt „Der wilde Garten“. Er trägt seinen Titel zu Recht. Ein Getümmel blühender Erscheinungen drängt sich um die Gestalt einer alten, gütigen Lehrerin, die längst nicht mehr ihr eigenes, nur mehr das Leben ihrer Schutzbefohlenen lebt. Und dieses liebe alte Fräulein erlebt nun fassungslos, voll Erbarmen und zugleich voll Entsetzen diese heiße, pochende, von Schauern durchfieberte Zeit mit, in der all die Kinder zu ihrem Frauentum erwachen und in ihrem ganzen Wesen verwandelt, durschüttert und unbegreiflich aufgejagt werden. All diese jungen Seelen, die so klar, so vertrauensvoll hingebreitet vor ihr lagen, kann sie kaum mehr verstehen und nicht mehr wiedererkennen. Sie muß Lasterhaftigkeiten anhören, die sich dann als eingebildete erweisen, muß die Verdrängung des Erotischen ins Religiöse und die Kunst mitansehen, aber auch die Unzucht der Phantasie, die sich in verruchten Tagebuchaufzeichnungen vor den Gespielinnen auslebt, ohne daß auch nur eine einzige Tatsache der Realität ihr entspräche. Sie muß den Tod eines Mädchens erleben, das von jeher durch ihren Vater, der Arzt ist, zu schonungslosem Austilgen aller Liebesillusionen verurteilt war und so viel an Brutalität, Verrat, unreiner Gier und Lüge gesehen hat, die als Liebe ausgegeben worden waren, daß sie sich des Kindes entledigen will, das sie in ihrer trotzdem wachen, unsäglichen Sehnsucht nach Zärtlichkeit empfangen hatte, weil sie nicht das Recht in sich fühlt, ein neues Leben dieser Welt auszuliefern. Das alte Fräulein Doktor wird durch all das Unfaßbare, Furchtbare und doch Uebermächtige des Frauenmysteriums derart aufgeschreckt, daß sie an sich irre wird. Sie schämt sich ihrer Hingabe an die vermeintliche Reinheit dieser Kinderseelen, die ihr in so häßlicher Weise abtrünnig geworden sind. Sie wird aua all ihrem Gleichmaß aufgescheuch – so ganz aus der Bahn geschleudert, daß sie ihren Beruf hinwerfen will, der ihr nur mehr wie ein törichter Selbstbetrug scheint. Aber sie wird durch das starke Wort des unglücklichen Arztes, der durch eigene Schuld das geliebte, mißleitete Kind verloren hat, wieder zu sich und ihrem wahren Wesen hingeführt und steigt in neuerer Gefaßtheit wieder auf den Schulkatheder, um aus neue junge Geschöpfe in guter Mütterlichkeit zu geleiten und sie durch unermattete Liebe zum Rechten zu bringen. Und: um ganz gewiß wieder von ihnen verraten und verlassen zu werden.

              Ich will nicht davon sprechen, daß außerordentlich einprägsame Szenen in diesem Buche sind, von denen jene, in der die Lehrerin mit dem Klassenoberlehrer in eine verrufene Bar geht, um sich von der Anwesenheit einer Schülerin zu überzeugen, der dann die entgeisterten Erzieher noch bis zum Stundenhotel folgen, eine der erschütterndsten ist; will auch von der Fülle wirklich geschauter, atmender Gestalten nicht sprechen, die in diesem mit fester Hand ins Lebendige greifenden Buch ihr Eigendasein führen. Ich will über seine Romanqualitäten hinaus sagen, daß dieses Buch wichtig ist. Jede Mutter sollte es lesen. Sie wird dann in irgendeiner dieser Mädchentypen ihr Kind erkennen, wird aus einem Wort oder einer Tatsache, wird aus irgendwelcher seltsamen und doch aus urewigem Leiden kommenden Regung, in der sich all das dumpfe, wartende, drohend aufbrennende Erleben ausdrückt, plötzlich an Dinge erinnert werden, an denen sie unwillig vorbeigehört hat. Sie wird dann ihr Kind besser verstehen, wird ihm besser helfen und es vor Argem behüten können.

Und trotzdem muß ich zwei Bedenken äußern. Das eine ist durchaus künstlerischer Art: es betrifft eine gewisse Lockerheit im Aufbau, und vor allem eine merkliche Ungeduld und Flüchtigkeit im Sprachlichen, das in wesentlichen Teilen der Erzählung Tempo, Farbe und nervigen Rhythmus hat. Der andere Einwand ist gewichtiger, weil er das Menschlich-Ethische betrifft. In ihrem Bestreben, den Begriff der wahrhaften Liebe von dem des zwangläufig egoistischen des Gattungswillens zu trennen, geschieht es der von ihrem Thema hingerissenen Verfasserin, die im Verkünden des echten Liebesevangeliums der Zeit Worte von großer und beredter Schönheit findet, daß sie den Eros im griechischen Sinn als den reinsten, erhabenen Ausdruck des göttlichen Liebesgedankens zu betrachten scheint.

Ich kann mir kaum denken, daß dies der Endgedanke dieses herzenswarmen und gescheiten Buches sein soll. Wenn es so gemeint ist, kann kein Widerspruch heftig genug sein, aber schon die Möglichkeit des Mißverständnisses wäre gefährlich.

„Bücher sind oft stärker als alles andere; sie sind noch viel gefährlicher, als Sie wissen“, sagt jemand in dieser Erzählung. Das gilt auch von diesem Buch. Es gehört zu jenen, die durch den Mut zum Aussprechen von Dingen, um die sich die meisten feig herumdrücken, oft etwas beinahe Schmerzendes haben, und die für unreife oder frivole Menschen vielleicht wirklich gefährlich werden können. Aber für solche ist es nicht geschrieben. Und in der rechten Hand kann es zum Segen werden.

Was an diesem „Wilden Garten“ abseits der Gestaltung fesselt, ist das Allgemeingültige daran; die Aufrichtigkeit und der Mut im Anpacken und Durchleuchten eines fürs Leben entscheidenden Problems. Zum Unterschied von anderen Frauenbüchern, in denen oft ein Mißverständnis sichtbar wird: die Verwechslung von Erotik und Sexualität, von beseelter, vergeistigter Liebe und der bloß triebhaft-animalischen, oft krankhaft gesteigerten. Es gibt jetzt Erzählungen, in denen als Novelle dargeboten wird, was eigentlich nur Krankengeschichte ist.

Das ist auch der erste Eindruck, den ein eben erschienenes Buch von Mela Hartwig macht. Er ist vielleicht dadurch verstärkt, daß hier das Mißverständnis schon im Titel beginnt, der „Ekstasen“ heißt und eigentlich „Hysterien“ heißen sollte. Die Vermutung liegt nahe, daß die Verfasserin Krankenschwester war: in diesen zur Novellenform geweiteten Anamnesen ist ein frappierendes medizinisches Wissen aufgespeichert, diagnostisch und schildernd, bis in die oft exklusiv wissenschaftlichen Fachausdrücke, die den einzelnen Fall dem Eingeweihten deutlicher machen.

Am ehesten ist die letzte Erzählung des Buches, „Die Hexe“, die in der Weise der Alraune des Hanns Heinz Ewers einsetzt und einen mittelalterlichen , mit dem Feuertod endigenden Fall von scheinbarer Besessenheit und tatsächlicher Rutengängerei gestaltet, aus der Thematik des Ganzen auszuschalten. Während die ersten zwei Novellen – es sei gleich vorweggenommen: mit ganz außergewöhnlicher Begabung und mit leidenschaftlichem Temperament – zwei krasse und sicherlich durchaus vereinzelte Vorkommnisse sexualpathologischer Art hinstellen; die eingebildete Schwangerschaft eines Mädchens, dessen Sehnsucht in der Vorstellung einer Befruchtung durch den … wirklich: durch den Mond erfüllt wird und das in ganz phantastisch unreale und zu symbolischer Satire sublimierte Konflikte mit den Behörden gerät. Ein nicht durchaus verständlicher und trotzdem oft stark berührender Vorgang, neben dessen Unwirklichkeit der fast unwahrscheinliche, aber weit gegenständlicher gefaßte des novellistischen Gegenstücks beinahe naturalistisch anmutet. Es ist die Darstellung einer unerfüllt bleibenden oder richtiger: durch einen Mord enthüllten Inzestliebe. All das wirkt erregend durch die Vehemenz, die Uebersteigerung des Tempos, durch den fliegenden Atem im Erzählen; und wirkt abstoßend durch das klinisch Genaue, durch die Verwechslung von psychiatrischem und dichterischem Problem und nicht zuletzt durch die Lust am Abscheulichen, am brutalen, ja schamlosen Wort, das überaus bezeichnend für den subjektiven Zustand der Gestalt sein mag und doch durch eine fast kokette Sucht verletzend ist, die Dinge nicht nur beim rechten, sondern mit dem unverhülltesten Namen zu nennen. Krankengeschichte.

Das ist auch die dritte Novelle des Buches, und trotzdem ist sie außerordentlich, gibt dem Ganzen seinen Wert und ist eine der stärksten Talentverheißungen der letzten Zeit. Das macht: weil hier etwas Gültiges, beinahe Alltägliches und eben deshalb Ergreifendes zur Erscheinung wird und nicht nur ein besonderes, einmaliges Kapitel der Psychopathia sexualis. Diese „Aufzeichnungen einer Häßlichen“ sind ein Stück Frauentragödie, zeigen das jammervolle Schicksal der infamerweise immer verhöhnten und bestenfalls unwillig beiseitegeschobenen häßlichen alten Jungfer auf, ihre grauenvolle Sehnsucht, ihr Verzweiflung, die Marter ihres Vertrocknens, die Lächerlichkeit und zugleich die entsetzliche Kläglichkeit ihres Werbens um Liebe, um Zärtlichkeit, ja um ein bißchen Lüge; und schließlich die Rebellion ihres gepeinigten Leibes und ihre Entsagung. Auch hier nur ein Fall von Hysterie. Aber, von ein paar allzu grotesken Strichen abgesehen, mit scharfem und dennoch erbarmendem Auge gesehen, aus illusionslosem, aber wahrhaftem und verstehendem weiblichen Herzen heraus gestaltet, zum Typischen erhöht und eben deshalb er-// schütternd in jede Seele greifend, die für die unscheinbaren und gerade durch die Schuldlosigkeit, die oft gerade ganz zarten und liebreichen Frauen auferlegt werden, noch nicht stumpf geworden sind. Eine starke Dichterleistung.

Dieser Erzählung halber wird das Buch von allen Frauen gelesen werden. Von den Häßlichen als Trost im Schwesterschicksal und als bezwingende Spiegelung des eigenen. Und von den Schönen in frohlockender Dankbarkeit für das Leben, das ihnen all dies Demütigende und Leidvolle erspart hat. Daß auch ein bißchen Schadenfreude dabei sein dürfte, werden sie sich ja kaum eingestehen.

Neue Freie Presse, 26.2.1928, S. 25-27.


  1. Mord- und Selbstmordfall in Berlin, der als aufsehenerregender Prozess (gegen Mitschüler Paul Krantz, der dann freigesprochen werden musste) im Februar 1928 verhandelt wurde. Dabei ging es um homoerotische Neigungen, zurückgewiesene Liebeserwartungen und ungeklärte Rollen mitbeteiligter Erwachsener. Vgl. die Berichterstattung in der NFP zum Prozessausgang vom 21.2.1928.

Max Brod: Ausschaltung der Frau?

             Die neueste Literatur bekommt mehr und mehr einen harten, kalten, männlichen Zug. Ganz ebenso wie die moderne Musik antiromantisch, antisentimental klingt. Von Liebe darf weder geredet noch gesungen werden. Das verträgt sich nicht mit der „Sachlichkeit“, dem obersten Postulat der Zeit. Die merkwürdige Schwenkung besteht eigentlich in folgendem: Hart und maschinenmäßig formt sich die Zeit seit Beginn des 19. Jahrhunderts, seit damals jedenfalls in immer deutlicherem Ausdruck – die Dichtung nahm jedoch eine Proteststellung ein, Flaubert erkannte wohl den erbarmungslos nüchternen Mechanismus unserer Epoche, seine Helden aber (die Bovary wie der sentimentale Frederick) zerreiben sich, weil sie sich diesem Mechanismus nicht anpassen können. Dies war im wesentlichen durch Dezennien die Grundhaltung des Dichters. Im Geheimen blieb er Feind der Zeitentwicklung, Feind des Amerikanismus. Das Problem taucht auf: Haben die neuen Dichter submittiert, haben sie ihren Kampf im Namen des Geistes aufgegeben, hat die nüchterne Zeit jetzt endgültig über alle Proteste weg gesiegt?

             Liebe, Liebessehnsucht galt ehedem als Einblick in den tieferen Sinn des Daseins, Leidenschaft für eine Frau erhellte zauberhaft jene Zusammenhänge, die sich in den bloß egoistischen Beziehungen zwischen Menschen des Alltags den stumpferen Sinnen entziehen. (Was hier von Liebe gesagt wird, gilt von jeder über den Alltag hinausschlagenden adeligen Herzenswallung.) –  Die junge Generation hat aus dem Krieg ein sehr berechtigtes Mißtrauen gegen allen, was Herzenswallung ist, mitgebracht. Hinter wie vielem, was edle Leidenschaft schien, hinter wie schönen Farben von Patriotismus, Ver sacrum, nationalem und erotischem Aufschwung lag nichts als Phrase, lag Aergeres als Phrase: niedrigstes Interesse von Kriegsverdienern, politisierenden Kapitalisten! Da ist es zunächst höchst richtig und gesund, wenn eine Generation von Desillusionierten heranwächst. Wenn man mit Remarque und Glaeser erlebt hat, wie alles sich auf den einfachen Nenner der Todesangst und eines Gänsebratens bringen läßt – wenn man solche Not und nie zu vergessende Erniedrigung der Menschenkreatur erlebt hat, dann hat man das gute Recht, alles für Schwindel zu halten – mit einziger Ausnahme des Triebes, derartige Greuelzeiten in Hinkunft von der Menschheit abzuwehren.

             In dieser auf elementare Defensive vereinfachten Situation hat in der Tat Liebe und Frau und Herz und Seele nichts zu suchen. Diese Jugend verteidigt sich nur; Erlebnisse des Herzens waren stets Eroberungszüge in unbekanntes Land – im Sinne der heutigen Autoren also Luxus, Distraktion von wesentlicherem Ziel.

             Die jungen Autoren sehen nur den Alltag, das Dokument, die Photographie, Reportage, Sachlichkeit, über die hinaus es nichts zu erobern, hinter der es keinen Sinn zu erschließen gilt. Religiöse Deutung irgendwelcher Art erschienen ihnen als Illusion. (Dies der deutliche Abstand der „neuen Sachlichkeit“ vom älteren Realismus etwa dem Gerhart Hauptmanns.) Die modernen Autoren haben vor nichts so sehr Angst wie vor Illusionen. Durch Illusionen wurden wir in den Krieg hineingezerrt. Den Alltag nicht etwa bejahen, ihn in seiner ganzen Scheußlichkeit, Chaotik, Unmoral sehen – das erscheint als Gesetz. Vom Alltag, der als das einzig Wirkliche betrachtet wird, hinter dem es nichts Wirklicheres, Gütigeres, Liebenderes (Frauenhafteres) gibt, kann man sich nur durch Witz und Ironie distanzieren. Demgemäß wird Ironie zum einzigen Kunstmittel der jüngsten Generation. In der Dichtung wie in der Musik.

                                                                                 *

             Die drei großen Erfolge der letzten Berliner Theatersaison zeigen genau in diese Richtung: „Dreigroschenoper“, „Verbrecher“, „Rivalen“. Die beiden ersten konnte man auch in Prag kontrollieren. „Rivalen“ gab es hier zunächst nur im Film. Von der „Ausschaltung der Liebe“ kann man keinen deutlicheren Begriff bekommen, als wenn man im „Theater der Königgrätzerstraße“ das amerikanische Kriegsstück in der Bearbeitung Zuckmeyers [!] über sich hinwegexplodieren läßt. Zwei Männer streiten in der Etappe um die Schenkwirtstochter. Geht der eine an die Front, gehört sie dem andern. Die Frau als Gebrauchsgegenstand, als ein Stück Wäme und Lust ohne den geringsten Schein innerer Bindung. Wie wertlos sie im Grunde den beiden Männern ist, zeigt die Schlußszene: beide müssen an die Front in demselben Augenblick ist ihnen die Frau ein Dreck, sie sehen sie gar nicht mehr, der Appell der Kameradschaftlichkeit siegt über alle Rivalität, Schulter an Schulter marschieren die beiden Männchen, wieder zu Männern geworden in den Schützengraben.

             Zwar sind im Akt zuvor alle Schrecken des Schützengrabens mit Piscatorscher Eindringlichkeit gezeigt worden (Nie zuvor hat sich Piscators Regiekunst zu solcher Einfachheit, Geschlossenheit der Wirkung erhoben; es ist als Regieleistung ein klassisches Werk.) Man hört Granaten heranpfeifen, Schallplatte und Megaphon, Lärmmusik aller Art überfällt dein Hirn, rhythmisch gegliederte Angst strebt Höhepunkten zu, die man kaum mehr für physisch erträglich hält, das Ineinandergreifen der Schreckensszenen steigert sich, Geschoßwind heult, die Deckungen flattern, die Latten biegen sich, rechts stürzt ein Unterstand ein, in der Mitte wimmert ein Sterbender, selbst der Kommandant schreit: „Nie wieder Krieg!“ – das alles ist von heilsamster Tendenz der Abschreckung. Nein, sinnlich erlebt, wirkt es so. Der Idee nach aber, die schließlich das längerhin Wirksame bleibt, …was erleben wir der Idee nach? Gar nichts. Zwei außerordentlich männliche Offiziere, die sich um ein Weibstück raufen, männlich, falls man unter „männlich“ Fluchen, Saufen, Kartenspielen, Fressen, Puffen, Stoßen, Boxen, Ohrfeigenausteilen versteht. Und ein Schimmer von Sympathie ruht auf den beiden ja doch erst, sobald sie die Frau um der Front willen aufgeben. Klingt aber nicht in diesem Moment (die Gegensätze berühren sich) eine alte, höchst verderbliche idealistische Rattensängerweise herein, etwa so – ganz von Ferne her – : „ Im Felde, da ist der Mann noch etwas wert… frischauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!?“

             Und das ist es, weshalb ich diese Bemerkungen schreibe. Der Stil der Sachlichkeit, der Herzlosigkeit hat seine Gefahrenzone erreicht. Er steht im Begriff, umzukippen, das Gegenteil von dem zu erzielen, was er angestrebt hat. Er steuert, allen Illusionen ausgewichen, einer neuen und viel schlimmeren Illusion zu: der Apotheose des rüden, rein animalischen Menschen. Das Herz und die Sehnsucht hat man ausgeschaltet. Was bleibt übrig: Animal! („Dreigroschenoper“ und „Verbrecher“ weisen, wenn auch nicht so kraß, auf das gleiche Endziel hin.) Nun wäre ernstlich die Frage aufzuwerfen: Wer hat die ärgere Schuld am Krieg, jener Menschentyp, der seine gemeine Gesinnung hinter gleißenden Illusionsphrasen von Gemeinschaft, neuer Zeit, Vaterlandsliebe (im Stil des alten romantischen Idealismus) verbarg und heute noch (teilweise auch vor sich selbst verbirgt oder jene frischfröhlichen Gesellen nach Art der Zuckmeyerschen „Rivalen“, die unter Ausstoßung herzhafter Dialektscherze Revolver zücken und ein Menschenopfer für das wohlfeilste aller Argumente halten? Man kann es auch anders formulieren: Ist der Krieg wirklich infolge eines Zuviel an Herz und Liebe entstanden, so daß man den Heranwachsenden diese romantischen Utensilien gewaltsam aus dem Kopf treiben muß –, wäre nicht vielmehr durch echte Liebe und Verbundenheit, deren Karikaturen allerdings im Nationalismusrausch aufs Gefährlichste kriegsfördernd wirkten, all die Scheußlichkeit nackter Interessenkämpfe, die man als Kampf um höhere Güter der Menschheit aufputzt, einzudämmen gewesen?

             Der überzeugte Ironiker von heute wird einwenden, daß es diese echte Liebe und Menschlichkeit, daß es die Frau, nach der man sich sehnt, in Wahrheit eben nicht gibt, daß sie romantische Illusion und als solche auszurotten ist – daß der Dichter nur die grauenvoll lieblose Wirklichkeit zu zeigen hat.

             Ich werde nicht mit einer Analogie des alten Bonmots antworten: Wenn es keinen Gott gäbe, so müßte man einen erfinden. Dieser gerühmte Satz ist mir nie sehr weise erschienen. Denn ein erfundener Gott ist keiner.

             Ich werde dem Ironiker vielmehr antworten: Seien Sie zynisch, so viel Ihnen behagt, aber seien Sie dabei nicht so sicher! Lassen Sie „Liebe“ zumindest als Problem offen. Mehr als ein schmerzliches, immer wieder schmerzlich erlebtes Problem ist sie ja auch mir nicht. Die Problemlosigkeit ist es recht eigentlich, die ich an den „sachlichen“ Autoren auszusetzen habe; nicht die „Sachlichkeit“, nicht die Wahrheitsliebe, die mir, einem Schüler Flauberts, als Methode und Substanz der Kunst lieb sein müssen. Was bei dieser Problemlosigkeit herauskommt, das zeigt gerade der Fall der „Rivalen“ mit erschreckender Eindeutigkeit. Man zeichnet die Kriegsrüpel objektiv, man zeichnet den Krieg sogar als das unmenschliche Grauen, das er ist, aber in dieser bewußt unmenschlichen, herzausschaltenden Darstellung erscheint mir einem dämonischen Ruck ganz zuletzt, den Autoren gewiß selbst unwillkommen und unheimlich, der Krieg als so etwas wie das verrucht angepriesene „reinigende Stahlbad“. Man hat die Romantik jeglicher (auch der tief berechtigten) Observanz so lange bekämpft, bis man vom äußersten Gegenpol ihrer bösesten Spielart zutaumelt. Wer andern eine Ideologie gräbt fällt selbst hinein.

In: Prager Tagblatt, 11.6.1929, S. 3